Freitag, 29. März 2024

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Gewalt in Malmö (1/5)
Der andere Schweden-Krimi

Fast zwei Dutzend Tote seit Anfang des Jahres – von schwedischer Idylle kann in Malmö keine Rede sein. Soziale Spaltung und Gewalt bereiten der Stadt in Südschweden Kopfzerbrechen. Vergleiche mit Chicago muss Malmö aushalten. Und traurige Geschichten, von jungen Leuten, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Von Victoria Reith | 20.11.2017
    Malmö, Schweden, Gedenken für Mordopfer Ahmed.
    Malmö, Schweden, Gedenken für Mordopfer Ahmed. (Deutschlandradio / Victoria Reith)
    "Ich bin Housam Abbas, Cousin von Ahmed Obaid, der am 12. Januar brutal auf offener Straße ermordet wurde, als er auf dem Weg zum Sport war."
    Housam Abbas ist 31. Er hat ernste, dunkle Augen und ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. Er führt durch das muslimische Gemeindezentrum Al Noor in der Norra Grängesbergsgatan, einer Straße in einem alten Industrieviertel. An der Wand hängt ein Plakat mit dem Schriftzug "Gemeinsam gegen Terrorismus" in verschiedenen Sprachen, in einer Vitrine steht eine Pippi-Langstrumpf-DVD, daneben Medaillen und Urkunden mit arabischen Schriftzügen.
    Auf dem Weg zum Fußballtraining erschossen
    Housam Abbas' Cousin Ahmed war hier in einem Studienkreis aktiv, bis er vor zehn Monaten erschossen wurde- an einem Donnerstagabend, auf dem Weg zum Fußballtraining, an einer Bushaltestelle im sogenannten Problemstadtteil Rosengård.
    "Ich gab Mama einen Abschiedskuss und ging aus dem Haus zum Training. Wenn sie gewusst hätte, was das Schicksal für mich bereithielt, hätte sie mich niemals gehen lassen. Sie sagte: 'Vergiss nicht, dass du morgen eine Prüfung hast.' Wenn sie gewusst hätte, dass das mein letzter Tag sein würde, hätte sie andere Worte gewählt. Mein Name ist Ahmed und ich wurde nur 16 Jahre alt. An diesem Tag sollte ich viele Wunden verursachen."
    "Das hat die Freundin meiner Schwester über Ahmed geschrieben. Er lebt in unseren Herzen und Erinnerungen weiter. Wir erinnern uns an Ahmeds strahlendes Lächeln, versuchen alle seine positiven Eigenschaften für uns zu nutzen. Aber es ist schwer."
    Abbas ist 2004 aus dem Irak geflohen, Ahmeds Familie kam drei Jahre später hinterher.
    "Ahmed war eine große Hoffnung für mich, meine Frau und meine Schwester. Wir kamen als 18-Jährige und konnten uns nicht mehr so gut integrieren. Aber er kam als 9-Jähriger und für ihn war es ein Leichtes. Er wollte Arzt werden. Am Tag nachdem Ahmed erschossen wurde, kam ein 13-jähriger Junge zu mir und umarmte mich. Er war sehr traurig, dass er nicht die Ehre hatte, mit Ahmed befreundet zu sein, weil seine Eltern sagten, Ahmed ist wirklich ein guter Junge, halt dich an ihn."
    Auf Ahmeds Facebook-Seite finden sich Hunderte Kommentare von Freunden, Familienangehörigen und Fremden, die Anteil nehmen. Ahmeds letzter Post, ein Selfie in Winterjacke zwei Tage vor seinem Tod, trägt die Überschrift "Was auch immer du tust: Stelle sicher, dass es dich glücklich macht."
    "Die Familie ist aus dem Irak weggezogen, nach Schweden, in ein Land, das eigentlich sicherer sein sollte. Stattdessen sind sie mit ihrem Kind von dem Tod in den Tod gezogen."
    Die Kugel war laut Polizei für einen anderen bestimmt
    Ahmed hatte, so betont Housam Abbas, nichts mit kriminellen Jugendgangs in seinem Stadtteil zu tun. Auch die Polizei geht davon aus, dass die Kugeln, die Ahmed an der Bushaltestelle trafen, eigentlich für einen anderen bestimmt waren. Sein Cousin Housam Abbas ist zum Aktivisten geworden. Den Justizminister hat er schon persönlich getroffen.
    Housam Abbas, Cousin von Mordopfer Ahmed Obaid
    Housam Abbas, Cousin von Mordopfer Ahmed Obaid (Deutschlandradio/ Victoria Reith)
    "Überall gibt es Waffen, schon Jugendliche tragen Waffen. Ich will, dass die Politiker erkennen, dass sie in der Sicherheitsfrage gescheitert sind."
    Auch sein eigenes Handeln hat Housam Abbas nach Ahmeds Tod überdacht.
    "Vor dem tragischen Ereignis habe ich auch nicht richtig gehandelt. Ich habe vor Kriminellen und Dealern in der Stadt die Augen verschlossen. Aber jetzt will ich handeln. Ich will nicht wie Ahmeds Mama werden. Ich habe selbst ein Kind."
    "Heute musste ich der Welt Lebewohl sagen. Morgen schon bist es vielleicht du. Auf Schwedens Straßen soll es 'Legt die Waffen nieder' tönen. Damit nicht noch mehr Leben in der Notaufnahme enden."
    Zur falschen Zeit am falschen Ort
    "Legt die Waffen nieder" heißt es auch im Lied des Rappers Zako – "Krigare", auf Deutsch "Krieger".
    "Lägg ner ditt vapen nu min bror, jag vet det tufft i dina skor, en krigare..."
    Der Musiker Zako - eigentlich Yehia Zakara - ist 24. Der junge Mann mit dem Basecap und dem breiten Lächeln führt stolz durch sein Kellerstudio nicht weit vom angesagten Platz Möllevångstorget. Das Studio ist voll ausgestattet, mit Küche, Sofas und zwei schalldichten Aufnahmeräumen. Hier will Zako seine Zukunft aufbauen. Das war seinem Kindheitsfreund Rami Amin nicht vergönnt, auch der wurde in Malmö getötet, vor einem Jahr. Nur wenige Monate, nachdem er in seine Heimatstadt zurückgezogen war.
    "Rami ist gerade mit dem Zahnmedizinstudium fertig gewesen. Bereit für das neue Leben, er hat fünf Jahre lang geackert, gerade einen Job gefunden. Und sozusagen in der Nacht, bevor es losgehen sollte, wurde er erschossen. Er durfte sein Leben nicht mehr leben. Er durfte seinen Traum nicht verwirklichen. Er durfte nicht mehr sehen, wie die Augen seiner Mutter vor Stolz glänzten."
    Viele Menschen seien von Ramis Tod betroffen gewesen.
    "Aber die Frage ist, wie oft werden die Menschen noch bestürzt sein oder schockiert? Man vergisst so eine Tat ja auch wieder. Das ist nicht nachhaltig."
    Zako versucht, mit seiner Musik, mit Videobotschaften und bei Poetry Slams, seine Botschaft zu verbreiten.
    Weder der Mord an Rami Amin noch der Mord an Ahmed Obaid ist aufgeklärt, noch irgendeiner der 16 anderen Morde, die seit Anfang 2016 in Malmö passiert sind. Unter den Opfern ist auch ein Zeuge des Mordes an Ahmed Obaid.