Freitag, 19. April 2024

Archiv

Gewerkschaften in der Türkei
Aufstand vorerst abgeblasen

"Aushilfe gesucht: sieben Tage die Woche, 12 Stunden am Tag, 350 Euro im Monat." In der Türkei haben Anzeigen wie diese Erfolg. Lange Arbeitstage gehören zum Alltag, Gewerkschaften sind verpönt, Widerstand gibt es kaum - erst recht nicht in Zeiten des Ausnahmezustandes. Doch die Gründe liegen tiefer.

Von Luise Sammann | 12.10.2017
    Demonstartion der Mitglieder der Gewerkschaften in Istanbul, 2013
    Die Schwäche der türkischen Gewerkschaften ist kein neues Phänomen, sondern kulturell tief verwurzelt. (EPA/ Vassil Donev)
    Der Aufstand der Metallarbeiter im nordtürkischen Düzce währte nur kurz. Ein paar Dutzend Beschäftigte hatten es gewagt, für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße zu gehen. Doch schon kurz nach Demobeginn rückte die Polizei an, trieb die Anwesenden auseinander, führte die Verantwortlichen ab.
    Es herrscht Ausnahmezustand in der Türkei. Streiken ist, wie so vieles andere, fast völlig verboten. Dabei hätten türkische Arbeitnehmer Grund genug sich zu erheben.
    "Ich fange morgens um sieben an und bin abends um sieben fertig. 12 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche!"…erzählt der 53-jährige Murat, der in einem Istanbuler Supermarkt an der Fleischtheke steht. "Natürlich sieht man da seine Kinder kaum. Aber ich kenne außer Beamten eigentlich niemanden, der weniger als zwölf Stunden arbeitet."
    14 Wochenstunden mehr als deutsche Arbeitnehmer
    Ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD von 2016 bestätigt: Kein Volk in Europa arbeitet mehr als Murat und seine Landsleute. Im Durchschnitt bedeutet das für türkische Arbeitnehmer ganze 14 Stunden mehr Arbeit pro Woche als für deutsche. Starke Gewerkschaften, die sich dagegen auflehnen, gibt es am Bosporus nicht. Wie auch, fragt Deniz Beyazbulut vom Bund Progressiver Gewerkschaften DISK.
    "Besonders unter der AKP-Regierung - also in den vergangenen 14 Jahren - wurden Streiks ständig verboten oder vertagt. Aber nicht nur das. Jedes neue Gesetz dieser Regierung zielt darauf ab, ein Wirtschaftssystem zu schaffen, dass auf Billiglohnarbeit basiert. Und in einem solchen System sind starke Gewerkschaften natürlich unerwünscht."
    Der seit 14 Monaten anhaltende Ausnahmezustand hat die Lage von Deniz Beyazbulut und ihren Mitstreitern noch erschwert. Nicht nur wegen ständiger Streik- und Versammlungsverbote, sondern auch aufgrund der wachsenden gesellschaftlichen Spaltung. Gerade in konservativen Kreisen gilt inzwischen jeder, der sich beschwert oder auflehnt, schnell als verdächtig - wird im Ernstfall als Aufrührer oder gar Vaterlandsverräter geschmäht.
    "Gerade in kleineren Firmen ist es inzwischen ayip - also beschämend - Gewerkschaftsmitglied zu sein…"
    …weiß auch Aziz Celik von der Kocaeli-Universität nahe Istanbul.
    Schwäche der türkischen Gewerkschaften - "kein neues Phänomen"
    Und dennoch ist der auf die Gewerkschaftsbewegung spezialisierte Wirtschaftswissenschaftler überzeugt: Die Schwäche der türkischen Gewerkschaften ist kein neues Phänomen, sondern kulturell tief verwurzelt.
    "Im Westen funktioniert die Identitätsbildung über das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Klasse. In der Türkei dagegen sind andere Parameter viel wichtiger: Religion, Nationalismus… Weil das Klassenbewusstsein also völlig fehlt, gucken die Arbeiter nur auf ihr eigenes Leben. Und da hat sich ja tatsächlich einiges verbessert in den vergangenen Jahren: Sie haben jetzt Farbfernseher zuhause, Kühlschrank und Waschmaschine, warmes Wasser… Darauf, dass andere Gruppen noch einen ganz anderen Anteil vom nationalen Einkommen abbekommen, dass sie ausgenutzt werden könnten, schauen sie nicht."
    "So ist das Leben nun einmal"
    Das größte Hindernis für das Entstehen starker Gewerkschaften ist damit weder die AKP-Regierung noch der anhaltende Ausnahmezustand, sondern das fehlende Interesse der türkischen Arbeiter. Nur fünf bis zehn Prozent seien gewerkschaftlich organisiert, so Wissenschaftler Celik.
    Auch Supermarktverkäufer Murat aus Istanbul sieht keinen Grund, sich über seine Situation zu beschweren.
    "Ich komme auf 72, manchmal auch 75 Stunden pro Woche. So ist das Leben in der Türkei nun einmal. Und im Gegenzug für meine Arbeit werde ich ja auch bezahlt, kann meine Familie ernähren. Solange das so ist, stört es mich nicht, 12 Stunden am Tag hier zu stehen. Man gewöhnt sich daran."