Freitag, 03. Mai 2024

Archiv


Gewerkschafter: Jetzt droht Zersplitterung

In einem Unternehmen dürfen nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts mehrere Tarifverträge gleichzeitig gelten. Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie, Michael Vassiliadis, sieht damit das solidarische Prinzip innerhalb von Belegschaften in Gefahr.

Michael Vassiliadis im Gespräch mit Sandra Schulz | 23.06.2010
    Sandra Schulz: Ein Betrieb, ein Tarifvertrag – dieser Grundsatz gilt in Deutschland seit Jahrzehnten. Der Vorteil: wer in einem Unternehmen gemeinsam arbeitet, der weiß ganz grob gesprochen, zu welchen Konditionen die Kollegen arbeiten. Der Nachteil: eine einzelne Gewerkschaft kann für ihre Mitglieder keine attraktiveren Tarifverträge aushandeln. Darum hat die Ärztegewerkschaft Marburger Bund diesen Grundsatz juristisch angegriffen; nun hat ihn das Bundesarbeitsgericht gekippt.

    Telefonisch bin ich jetzt verbunden mit Michael Vassiliadis, dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Guten Tag!

    Michael Vassiliadis: Guten Tag, Frau Schulz.

    Schulz: Nach dem Urteil aus Erfurt, ist das heute ein guter Tag für die Koalitionsfreiheit?

    Vassiliadis: Na ja, zunächst einmal war zu erwarten, dass natürlich aufgrund sich verändernder Tariflandschaften natürlich auch das Bundesarbeitsgericht mit seiner Entscheidung dem ganzen Rechnung trägt. Zunächst einmal ist gegen Wettbewerb nichts zu sagen und es ist auch nicht so, dass die großen Gewerkschaften davor große Furcht haben, sondern Sie haben es in Ihrer Anmoderation deutlich gemacht: Es gibt Sinn, dass man zu gewissen Zeitpunkten mit den Arbeitgebern und Unternehmen verhandelt und dazwischen dann aber auch die Tarifverträge, die vereinbart worden sind, gelten und sogenannte Friedenspflicht herrscht, damit man am Ende wirklich auch zum Arbeiten kommt und klare Bedingungen herrschen.

    Was jetzt droht ist ja nicht Wettbewerb im Sinne von Markt, sondern Zersplitterung und am Ende natürlich auch Gefahr für das solidarische Prinzip, dass man in Belegschaften eine gewerkschaftliche Vertretung mit einer Zielsetzung hat. Das ist das eigentliche Thema und wir müssen jetzt natürlich darüber nachdenken, wie wir damit umgehen. Aus unserer Sicht ist ja auch der Gesetzgeber an der Stelle gefordert.

    Schulz: Aber bisher ist es doch auch so, dass eine Gewerkschaft das Sagen hat und die anderen Gewerkschaften das Nachsehen.

    Vassiliadis: Die haben nicht das Nachsehen, sondern sie können sich natürlich mit ihren Ideen und Vorstellungen, die sie in den Tarifgesprächen einbringen, natürlich auch profilieren. Das ist ja auch hier und dort geschehen. Es ist allerdings so, dass die großen Gewerkschaften natürlich mit Blick auf ihre Identität und ihre Zielsetzung in der Regel – das war immer in Deutschland das Prinzip – natürlich die Interessen ihrer Mitglieder und der Beschäftigten im Blick haben, aber natürlich auch die Unternehmen, die Entwicklung der Unternehmen und die Gesellschaft berücksichtigt haben, und deswegen haben wir zu unterschiedlichen Krisenzeiten eben auch spezifische Lösungen gefunden. Und es ist jetzt nicht so, dass jede der kleineren Gewerkschaften das nun anders macht, aber tendenziell ist es doch eher eine Klientelpolitik, die dort vertreten wird, und das kann schon zu Lasten auch anderer Beschäftigtengruppen, nicht nur zu Lasten der Unternehmen gehen.

    Schulz: Sie haben das gerade schon angesprochen: Der Gesetzgeber sei gefordert. Ähnliche Äußerungen hat es vom DGB ja auch schon vor dem Urteil gegeben. Was genau schwebt Ihnen denn vor?

    Vassiliadis: Na ja, man kann natürlich folgendes sagen, dass man vom Grundsatz her nach dem Mehrheitsprinzip vorgeht. Man sagt, wenn es in einem Unternehmen mehrere Gewerkschaften gibt und dann auch eben mehrere Tarifverträge, dann gilt eben der Tarifvertrag der größten Gewerkschaft, das heißt der Gewerkschaft, die am meisten Mitglieder in dem Unternehmen, oder in der Branche hat. Das beinhaltet ja die Möglichkeit für die kleineren Gewerkschaften, sich durch entsprechend kluge Politik und gute Forderungen zur größten zu machen. Also das ist kein Ausschluss der Handlungsmöglichkeiten der kleineren, sondern ein Wettbewerb der Qualität, und in dem Sinne können wir uns auch vorstellen, dass das Tarifvertragsgesetz geändert wird und ein sogenanntes Repräsentativitätsprinzip eingeführt wird.

    Schulz: Das hieße genau was?

    Vassiliadis: Das hieße eben das, was ich sagte, dass der Tarifvertrag, der am repräsentativsten ist, also die meisten Mitglieder und Beschäftigten bindet, gilt.

    Schulz: Also es bliebe dabei, dass die kleinen das Nachsehen haben und die Masse bestimmt, wo es langgeht?

    Vassiliadis: Nein. Es gibt ja durchaus auch Unternehmen, in denen die Größenverhältnisse nicht so sind wie in den ganz großen Bereichen, in denen wir natürlich sehr stark repräsentiert sind – aus gutem Grund, wie wir finden. Aber noch mal: Die kleineren Gewerkschaften – es soll nicht gegen die kleineren Gewerkschaften gerichtet sein, sondern für die Friedenspflicht und für eine systematische Tariflandschaft – hätten ja die Möglichkeit, durch kluge und gute Politik repräsentativ zu werden. Das ist ja nicht ausgeschlossen.

    Schulz: Aber jetzt argumentiert das Bundesarbeitsgericht ja mit dem Grundgesetz, mit Artikel 9. Warum soll denn dagegen etwas festgeschrieben werden, was bisher ja nirgendwo stand, geschweige denn im Grundgesetz?

    Vassiliadis: Im Grundgesetz steht die Möglichkeit, Koalitionen zu bilden, also Gewerkschaften zu gründen und handlungsaktiv zu werden. Das ist auch gegeben, auch gegeben, wenn wir das Tarifvertragsgesetz in dem Sinne, wie ich es angesprochen habe, ändern. Das heißt, die Möglichkeit, repräsentativ zu wirken, die Möglichkeit, dann auch gültige und bindende Tarifverträge zu erzielen, ist gegeben. Aus unserer Sicht ist damit nicht eine Kollision mit dem Grundgesetz vorgesehen und wir nehmen dann ja sogar den Wettbewerb an. Also es geht nicht darum, dass wir eine Monopolstellung haben wollen, sondern es geht darum, ein gewerkschaftliches Verständnis zu entwickeln, das am Ende für die Beschäftigten – und zwar für alle, und zwar solidarisch – eben auch vernünftige Lösungen bringt und den Unternehmen – so war immer unsere Philosophie – dann, wenn die Tarifvertragsverhandlungen zu Ende sind und wenn wir Ergebnisse haben, auch die Möglichkeit geboten wird, entsprechende Rechtssicherheit zu haben. Wettbewerb klingt immer positiv, ich bin auch Befürworter von Wettbewerb. An dieser Stelle ist es am Ende aber tendenziell in der Gefahr, Klientel gegen Solidarität zu schicken. Deswegen bin ich nicht dafür.

    Schulz: Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, heute in den "Informationen am Mittag". Haben Sie herzlichen Dank!

    Vassiliadis: Vielen Dank, Frau Schulz. Auf Wiederhören.