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Gianni Celati
Des Lehrers Leiden

Gianni Celati gilt als einer der bedeutendsten italienischen Gegenwartsautoren. Der Verlag Klaus Wagenbach hat nun dessen Debüt aus dem Jahr 1971 auf Deutsch veröffentlicht. "Die wilden Reisen des Otero Aloysio" erzählt von einem Grundschullehrer, der sich den Demütigungen von Kollegen ausgesetzt sieht.

Von Katrin Hillgruber | 28.04.2014
    In einer alten mechanischen Schreibmaschine steckt ein Blatt Papier.
    "Hinter den Kabinen der Badeanstalt 'Assunta' waren mir die drei Grundschullehrer auf den Fersen wie Hunde, die ein Wild wittern…" (picture alliance/dpa-Zentralbild - Matthias Tödt)
    Das Phänomen des elektrischen Stroms hat schon viele Menschen mit Wahnvorstellungen beschäftigt. So verwahrt beispielsweise die Heidelberger Sammlung Prinzhorn die Aufzeichnungen von Joseph Schneller. Der fantasiebegabte Bauzeichner der Königlich Bayerischen Staatseisenbahn notierte Anfang des 20. Jahrhunderts, er fühle sich als heimliches Zentrum eines sogenannten elektrischen Rundgesangs. Honoratioren wie der bayerische Prinzregent oder Papst Leo XIII. nutzten diesen Rundgesang dazu, ihn auf telepathische Weise seiner Jugend zu berauben. Ähnliche Sorgen wie Joseph Schneller plagen auch den Ich-Erzähler von Gianni Celatis Debüt "Die wilden Reisen des Otero Aloysio", das in der heroisch zu nennenden Übersetzung von Marianne Schneider nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Aloysio, der wahrscheinlich gar nicht so heißt, verdächtigt seine Mutter, ihm aus der Ferne durch einen elektrischen Schlag die Erscheinung einer weißen Klosterfrau einzugeben.
    "Eine Stimme von oben gab mir zu verstehen, ich müsse mich, wenn ich mit der Klosterfrau sprechen wolle, in die Wand hinein begeben, aber nicht nach 8 Uhr früh. Diese Nachricht erstaunte mich, aber eine ministerielle Stimme befahl mir, sie sofort im Heft auszuradieren. Ich verstehe nicht warum. Außer es handelte sich um eine Klosterfrau, die auf Anordnung des Ministeriums im Kartonhaus für einen Geheimdienst tätig war. 10 Uhr."
    Das ist noch eine der harmloseren Zumutungen, die Otero Aloysio während seiner Sommerfrische widerfahren. Weitaus schlimmer plagen ihn drei Kollegen, nämlich Grundschullehrer, die ihm offenbar den Professorentitel und seine Nähe zur Schuldirektorin neiden. Die gemeinen Attacken der Herren Bevilacqua, Mazzitelli und Macchia, ob im öffentlichen Park oder auf der Toilette, notiert Otero Aloysio akribisch in seinem Heft.
    "Morgen des 19., am Strand. Hinter den Kabinen der Badeanstalt "Assunta" waren mir die drei Grundschullehrer auf den Fersen wie Hunde, die ein Wild wittern, was mir nicht wenige Konvulsionen verursachte. Der Lehrer Bevilacqua ließ verstellte Stimmen an mein Ohr dringen: Heiratest du sie, die Fedora? So nannten sie die Direktorin Lavinia Ricci. Da diese Inspektorin der Grundschullehrerausbildung ist, würde es den Lehrern passen, wenn sie ein Ehemann ablenken würde, indem er ihr Liebesfreuden bescherte."
    "Comiche" heißt das Buch im Original, was sich mit Farcen oder Stummfilmsketchen übersetzen lässt. Und in der Tat hat der Protagonist Slapstick-Abenteuer wie Buster Keaton zu bestehen, wenn er sich etwa am Kranzgesims des erwähnten Kartonhauses entlanghangeln muss, wahrscheinlich, weil ihn einer seiner Widersacher ausgesperrt hat. Jäh wie ein Wetterleuchten tauchte der rätselhafte Text 1971 am italienischen Literaturhimmel auf. Gianni Celati, damals 34 Jahre alt, hatte sich nach eigenen Angaben von den Aufzeichnungen eines Geisteskranken zu seinem Erstlingswerk inspirieren lassen. "Comiche" erschien im renommierten Verlag Einaudi, doch Celatis Lektor Italo Calvino zensierte die erotischen Passagen. Deshalb ergänzte der Autor das Buch um eine zweite Fassung, die insgesamt elf Kapitel enthält. Fünf davon hat Celati bislang wiedergefunden, und diese sind nun erfreulicherweise mit abgedruckt. Dadurch kann die Fantasie des Protagonisten ungestört die wildesten Blüten treiben, denn wie hatte Sigmund Freud schon festgestellt:
    "Der Verlust der Scham ist das erste Anzeichen von Schwachsinn."
    Das Buch liegt in unabgeschlossener Form vor
    Die nun vorliegende unabgeschlossene Form von "Die wilden Reisen des Otero Aloysio" entspricht Gianni Celatis Auffassung vom Ereignishaften eines Textes, der gerade durch das Umschreiben lebendig bleibe. Wie Windböen wirbeln plötzliche erotische Eingebungen und Horrorvorstellungen den armen Otero Aloysio durcheinander. Nicht von ungefähr unterstellt er dem besonders virilen Bademeister, Winde und Stürme wie den Mistral oder die gefürchtete Bora zu erzeugen. Dann wieder empfängt er Botschaften, die einen gewissen Fantini betreffen:
    "Er erklärt sich als Monarchisten und glühenden Katholiken und ruft mich mit merkwürdigen Namen: Aloysio y Otero. Namen, die nach seiner Rede katholischer sind als meiner und somit im Fall meiner Konversion zum Katholizismus besser passten. Und in der Nacht wurde ich von seinem Geschwätz geweckt, da Fantini verlangte, ich solle auf der Stelle anfangen, ein Poem zum Lob des katholischen Glaubens zu schreiben. Mit einer Stimme, die aus einer Wand kam, sagte er zu mir: Es muss einen bedeutenden Inhalt haben. Damit will er die Oberaufsicht haben über alles, was ich in mein Heft schreibe. Das nach seiner Ansicht langweilig, fad und ohne jeglichen Tiefgang ist. 22 Uhr. Vor Müdigkeit stelle ich das Schreiben ein.
    Durch das gewissenhafte Notieren versucht der geplagte Professor, wenigstens die Chronologie aufrecht zu erhalten. Doch das Heft wird ihm gestohlen, und die Logik ist ohnehin längst außer Kraft gesetzt. Das gilt gleichermaßen für das Buch: Egal, welche Seite man aufschlägt, überall gedeiht Gianni Celatis kunstvolle Unlogik voller Farbenkraft und Sinnlichkeit.
    Gianni Celati: "Die wilden Reisen des Otero Aloysio"
    Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
    Wagenbach Verlag, Berlin 2013.
    224 Seiten, 19,90 Euro.