Archiv


Gibt es einen Krieg zwischen Israel und den Autonomiegebieten?

    Meurer: Israel ist heute Nacht an gleich mehreren Stellen wieder in palästinensische Autonomiegebiete vorgerückt. Mit Bulldozern wurden Teile der Start- und Landebahn in Gaza zerstört. Israelische Panzer haben sich dem Amtssitz von Jassir Arafat in Ramallah bis auf 500 Meter genähert, heißt es. Der israelische Außenminister, Shimon Peres, erklärte allerdings, die Militäreinsätze seien eher eine Warnung als eine Militäroperation. Arafat solle damit gezeigt werden, dass er die Dinge in die Hand nehmen muss. Allerdings, aus Protest gegen den Kurs von Premier Ariel Sharon, hat Peres in de Nacht vorzeitig das Kabinett verlassen. Anschließend beschloss die israelische Regierung, Arafat als Unterstützer des Terrorismus einzustufen. Am Telefon begrüße ich Jürgen Möllemann, dem Präsidenten der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. Guten Morgen, Herr Möllemann.

    Möllemann: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Wie weit ist man denn in Israel und den Autonomiegebieten von einem Krieg entfernt?

    Möllemann: Nicht mehr sehr weit, glaube ich. Es ist seit Monaten zu beobachten, dass Ariel Sharon gezielt auf einen Konflikt zusteuert. Er hat sich nie mit der Politik seines ermordeten Vorgängers, Rabin, angefreundet. Er hat es stets darauf angelegt, die Ergebnisse der Vereinbarung von Oslo, die zum Friedensnobelpreis für Rabin, Peres und Arafat geführt haben, zu unterlaufen. Ich behaupte, er wird mit einer gewissen Genugtuung sehen, dass seine kühl kalkulierte Strategie jetzt aufgeht.

    Meurer: Wie sieht denn seine Strategie Ihrer Meinung nach aus?

    Möllemann: Er will keinen Staat Palästina. Er will die Palästinenser als dauernde potentielle Quertreiber, Querulanten und Terroristen diskreditieren. Er besetzt palästinensisches Land immer wieder neu, den kleinen Teil, der bislang frei war. Die Reaktionen darauf, die dann gewaltsam sind, führt er im Zelt als Beleg dafür, dass die Palästinenser nicht friedfertig seien. Das ist eine Strategie, die nicht akzeptabel ist, vor der ich seit Monaten warne, weil man spüren konnte, dass die Äquidistanz, welche die europäische und westliche Politik hier einnimmt, bestenfalls dazu führt, dass er sich ermuntert fühlt. Und, dass Jassir Arafat immer weniger Spielraum hat, ihn aufzufordern, er solle mit seinen Sicherheitskräften für Ruhe und Ordnung sorgen, ist Zynismus, wenn man genau diese Sicherheitskräfte zusammenschießt, die Polizeistationen und den Flughafen, die mit deutschen Steuergeldern finanziert werden, zerstört, und dann sagt, er sei nicht Herr im Hause. Nein, er ist es nicht, er ist geduldeter Gast im besetzten eigenen Land.

    Meurer: In Washington heißt es, Israel habe das Recht zur Selbstverteidigung. Damit verteidigt sich auch Ariel Sharon für das, was er tut. Hat Israel nicht das Recht, zu verteidigen, nach den furchtbaren Selbstmordanschlägen vom Wochenende?

    Möllemann: Israel besetzt ein anderes Land und nicht Palästina besetzt Israel. Ich meine, man muss zunächst die Fakten nehmen. Es kann doch keiner bestreiten, dass Palästina von Israel besetzt ist, und nicht umgekehrt. Ich bin trotzdem der Meinung, dass die Anschläge vom Wochenende furchtbare Verbrechen sind, die geahndet werden müssen. Aber ich fürchte, solche Verbrechen, solche Anschläge wird es weiterhin geben, wenn ein Staat ein anderes Land besetzt und wenn ein Staat mit Panzern auf Kinder schießt, die mit Steinen werfen, wenn ein Staat bei Auseinandersetzungen Wohnungen abreißt. Das sind alles Bilder, die Hass erzeugen, und zwar intensiven Hass. Das rechtfertigt nicht solche Mordtaten, aber wir müssen wissen, dass es die nächsten geben wird, wenn man damit fortfährt. Es geht kein Weg daran vorbei; die israelische Regierung muss zum Friedensweg zurückfinden, den Premier Rabin gehen wollte. Er wurde dafür von einem Israeli ermordet. Wenn das so weiter geht, wie es jetzt läuft, wenn eine veritable Kriegserklärung - und das hat ja gestern Sharon im Fernsehen nicht verhohlen, sondern ganz offen gesagt - umgesetzt wird, fürchte ich, steht der Nahe Osten bald in Flammen.

    Meurer: Wie viel Vertrauen haben Sie noch in Jassir Arafat und wie bewerten Sie das, was Jassir Arafat tut, um Terroranschläge zu verhindern?

    Möllemann: Er hat es sehr schwer, schon seit geraumer Zeit, weil er vor seinen eigenen Leuten als jemand da steht, dessen Entgegenkommen nicht honoriert wird, als ein Präsident ohne Land, als jemand, den man demütigen kann. Deswegen kann er seine Radikalen immer schwieriger unter Kontrolle bekommen. Ich glaube, er weiß, dass es jetzt um seine eigene Existenz geht, dass es um die Existenz Palästinas geht. Ich kann nur sagen, diejenigen laden eine sehr schwere Verantwortung auf sich, die ihn auf diese Weise fast handlungsunfähig machen. Ich behaupte, das ist das Ergebnis - ich wiederhole es - der kühl kalkulierten Politik von Ariel Sharon. Dieser Mann hat aus meiner Sicht nicht das moralische Recht, sich so zu erheben, seit er in den Flüchtlingslagern, Anfang der 90er Jahren, Tausende von Frauen und Kindern, die vor den Lynchmorden der Milizen aus dem Libanon fliehen wollten, in die Lager, vor die Mörder zurückgetrieben hat. Ein solcher Mann sollte sich nicht so aufspielen, sondern er sollte endlich von der Weltöffentlichkeit dazu gezwungen werden, seinerseits zur Friedenspolitik zurückzufinden.

    Meurer: Haben Sie noch den Eindruck, das Washington versucht, Ariel Sharon zu mäßigen, um seine eigene Antiterror-Allianz im Krieg gegen Afghanistan und El-Kaida nicht zu gefährden?

    Möllemann: Da habe ich mittlerweile meine Zweifel, aber auch da muss man behutsam sein. Colin Powell hat, wie ich fand, noch nachvollziehbar reagiert. Die verbale Argumentation vom Präsident Bush ging schon verdammt nahe in eine Richtung, die ich für sehr gefährlich halte. Ich sage noch einmal, es ist allerhöchste Zeit für eine Konferenz für Sicherheit durch Zusammenarbeit im Nahen Osten, an deren Beginn stehen muss, dass die Teilnehmer öffentlich und feierlich erklären, wir akzeptieren und garantieren die Existenz des Staates Israel, aber wir akzeptieren und garantieren auch die Existenz des Staates Palästina. Dann können die Einzelheiten geregelt werden, nicht anders herum.

    Meurer: Ist das nicht die Haltung der US-Amerikaner? Woran nehmen Sie Anstoß an dem, was der US-Amerikanische Präsident gesagt hat?

    Möllemann: Dass er nichts dafür tut. Er hätte längst, so wie die EU, Ariel Sharon zur Mäßigung bringen können. Mit welchem Geld, mit welchem Waffen arbeitet denn dieser Mann?

    Meurer: Haben die Europäer eine Möglichkeit, auf Sharon Einfluss zu nehmen?

    Möllemann: Nach dieser Kriegserklärung wird es schwieriger werden, aber ich möchte doch mit Verlaub sagen, kann es denn sein, dass wir Deutschen aus guten Gründen Arafat beim Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser, Polizeistationen, Straßen) helfen, und dass diese nun zerstört wird? Ich meine, das ist etwas, was wir nicht mehr akzeptieren können. Wir können auf die israelische Regierung nur dann einwirken, wenn wir endlich einen glasklaren Standpunkt einnehmen und sagen, wir sind für den Staat Palästina, wir werden ihn, sobald er ausgerufen wird, anerkennen, und wir verlangen, dass er respektiert wird.

    Meurer: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Möllemann.

    Link: Interview als RealAudio