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Gibt es unter Rot/Grün eine neue Europapolitik?

Engels: Seit Sonntagabend bereits redet man miteinander; ab heute wird es offiziell. Mit Sondierungsgesprächen über Arbeitsgruppen und Zeitplan beginnen die Koalitionsgespräche zwischen den Sozialdemokraten und Bündnis 90/die Grünen. Am Telefon begrüße ich Claudia Roth, neue Bundestagsabgeordnete der GRÜNEN und bisher für ihre Partei im Europaparlament. Guten Morgen!

    Roth: Guten Morgen Frau Engels!

    Engels: Frau Roth, der zukünftige Bundeskanzler Schröder reiste bereits gestern zum Antrittsbesuch nach Frankreich. War es ein wichtiges Symbol zur richtigen Zeit an die europäischen Partner?

    Roth: Ja, ich glaube, das war ein sehr richtiges Symbol, weil es gibt ja eine große Hoffnung auf die neue Bundesregierung in Bonn, etwas nachzuvollziehen, weiter fortzuführen, was die neue französische Regierung auch getan hat, neuen Wind in dieses Europa hineinzubringen. Nach den Wahlen in Frankreich, wo es ja auch eine rot/grüne Regierung gibt, hat man gemerkt, daß ein Regierungswechsel in einem Mitgliedsland der Europäischen Union die Stimmung in Europa verändern kann. Ich hoffe, daß dieser Stimmungsumschwung in Europa, der schon angefangen hat mit den Franzosen, beispielsweise im Bereich der Beschäftigungspolitik, nun ganz schönen Rückenwind bekommt aus Bonn.

    Engels: Mit Ihrer Kritik an der bisherigen deutschen Europapolitik haben Sie nicht hinter dem Berg gehalten. Was muß denn Ihrer Meinung nach anders werden mit einer rot/grünen Regierung?

    Roth: Ich denke, der Wind ist wirklich wichtig. Der Wind ist wichtig und das Bekenntnis zur Europäischen Union und der Versuch, nicht dauernd auf der Bremse zu sitzen. Es war ja eine ganz merkwürdig unglaubwürdige Position, die die alte Bundesregierung eingenommen hat. Sie hat in Deutschland immer so getan, als sei sie nun der Europameister und in allen Punkten ganz weit vorne dran. Tatsächlich ist aber in Brüssel sehr viel von der deutschen Bundesregierung blockiert worden. Ich führe einmal ein paar Punkte an, die mir wichtig erscheinen. Beschäftigungspolitik: Wir haben immer wieder gesagt, man kann nicht nur Stabilität über Geldwertstabilität definieren, über den Euro, wenn es gleichzeitig auf Ebene der Europäischen Union etwa 30 Millionen Erwerbslose gibt. Man muß parallel zu dem Euro auch eine Sozialunion, eine koordinierte Beschäftigungspolitik beginnen, wirklich wollen. Da hat die Bundesregierung immer blockiert. Dort sehe ich jetzt eine große Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten, wirklich ernst zu machen, auf europäischer Ebene etwas gegen Jugendarbeitslosigkeit, gegen Langzeitarbeitslosigkeit, gegen die Erwerbslosigkeit und Ausgrenzung von Frauen zu tun.

    Engels: Der zukünftige Bundeskanzler Schröder hat den Partnern in Europa vor allem Verläßlichkeit versprochen. Ist denn zum Beispiel die Osterweiterung der EU weiterhin voranzutreiben, ohne daß die finanziellen Fragen innerhalb der Gemeinschaft gelöst sind?

    Roth: Verläßlichkeit heißt ja auch, darauf zu bestehen, daß die gesamteuropäische Perspektive die einzige Perspektive für dieses Europa ist. Ich weiß nicht, ob die alte Regierung tatsächlich so verläßlich war, als sie noch vor ganz kurzem begonnen hat mit Renationalisierungstendenzen, mit Subsidiaritätsdefinitionen, die sehr viel mehr Renationalisierung wollten. Wir müssen ganz klarmachen, wir wollen die gesamteuropäische Perspektive, wir wollen einen Erweiterungsprozeß, der voraussetzt, daß sich aber auch die Europäische Union so wie sie jetzt ist erweiterungsfähig verändert. Das heißt, man muß auch heilige Kühe anfangen zu schlachten. Man muß einmal ernsthaft darüber nachdenken, ist denn die Agrarpolitik, die industrielle Agrarpolitik, so wie sie im Moment von der Europäischen Union gemacht wird, wirklich sinnvoll, tragfähig für eine Erweiterung, oder muß man dort nicht mal herangehen, tatsächlich zu reformieren, muß man nicht herangehen an die Struktur- und Kohäsionsfonds, wirklich zu reformieren, um die gesamteuropäische Perspektive möglich zu machen, und muß man nicht wirklich offen darüber reden, wie die Beiträge zur Europäischen Union, also zu den Töpfen, gerecht verteilt werden. Ich spreche jetzt von einer europäisch geführten und nicht national geführten Nettozahlerdebatte.

    Engels: Gerecht verteilt werden heißt für Sie, daß Deutschland weniger einzahlt?

    Roth: Man muß erst einmal richtig diskutieren. Man kann nicht immer nur sagen, Deutschland zahlt so furchtbar viel ein im Vergleich zu den anderen, macht aber nicht deutlich, wo auch die Profite liegen: wo die Profite liegen für eine Exportnation, wo die Profite liegen würden, wenn man ernsthaft Reformen durchführen würde. Man muß diese Debatte anders führen. Das wird eine schwierige Diskussion sein, weil sie ja auch schon zu führen sein wird in der deutschen Ratspräsidentschaft. Das ist eine große Herausforderung an eine rot/grüne Regierung. Die Ratspräsidentschaft fängt im Januar an. Es ist gleichzeitig die erste Wahl, die dann ansteht, nach der Bundestagswahl. Im nächsten Jahr finden ja die Europawahlen statt. Da muß man eben versuchen, Europa wieder zum Ziel zu machen und die Bedrohung wegzunehmen. Europa ist ja nicht eine Bedrohung, sondern tatsächlich ein positives Ziel.

    Engels: Bundeswehreinsätze und Verteidigung, das ist ein Reizthema zwischen SPD und den Bündnis-Grünen. Werden die GRÜNEN im Bundestag einem Militärschlag zustimmen und gegebenenfalls einem Einsatz der Bundeswehr im Kosovo, wenn anders die humanitäre Katastrophe nicht mehr abzuwenden ist? Seit gestern hat sich ja die Lage dramatisch verschärft.

    Roth: Ja, aber wissen Sie, was vor der Bundestagswahl zum Teil von Herrn Rühe gemacht worden ist, da habe ich meine Zweifel, ob das tatsächlich so furchtbar viel mit der sehr dramatischen Situation im Kosovo zu tun hat.

    Engels: Die SPD hat bisher alles mitgetragen.

    Roth: Ich rede jetzt von der alten Regierung. ... oder ob das nicht auch der Versuch war, sozusagen noch einmal ein bißchen Wahlkampf mit so einer sehr schwierigen Frage zu betreiben.

    Engels: Trotzdem die Frage: Wem würden die GRÜNEN zustimmen?

    Roth: Für uns ist ohne wenn und aber wichtig, daß ein wie auch immer geartetes Eingreifen im Kosovo natürlich völkerrechtlich abgesichert ist. So wie im Moment die Entscheidungen auf dem Tisch liegen, rechtfertigt es keinen militärischen Einsatz.

    Engels: Wenn das Szenario ein anderes wäre, könnten Sie sich denn vorstellen, daß sich die GRÜNEN der Stimme auch in einer Koalition im Bundestag enthalten und die SPD dann gemeinsam mit der CDU- und FDP-Opposition den Einsatz beschließt?

    Roth: Ich kann mir nicht vorstellen, wenn wir jetzt eine gemeinsame Koalition vereinbaren, wenn wir jetzt in Verhandlungen treten, daß wir schon beginnen mit wechselnden Mehrheiten. Diese Koalition muß auf einer sehr breiten Übereinstimmung angelegt sein, und dann sind natürlich auch solche kritischen Punkte nicht auszuschließen, und ein Basispunkt ist ganz sicher die Achtung von internationalem Völkerrecht.

    Engels: Sind das Punkte, die für Sie auch im Koalitionspapier festgeschrieben werden müssen?

    Roth: Ich will jetzt nicht heute sagen, bevor es überhaupt angeht, was im Koalitionspapier festgeschrieben wird oder nicht, aber ich gehe schon davon aus, daß unser Ziel sein muß, daß es keine wechselnden Mehrheiten gibt.

    Engels: Nun soll, so Schröders Wunsch, alles hieb- und stichfest im Koalitionsvertrag festgehalten werden, der dann auch für die volle Legislaturperiode gelten soll, unabhängig von späteren Parteitags- und Bundesversammlungsbeschlüssen der Parteibasis. Ist so etwas mit den Bündnis-Grünen zu machen?

    Roth: Wir wollen eine Koalition vereinbaren, die tragfähig ist für vier Jahre. Wir wollen jetzt nicht eine Koalition vereinbaren, die sozusagen am seidenen Faden hängt. Wie detailliert sie sein muß, ein großes Buch an Beschlüssen ist ja nicht unbedingt der Garant, daß es dann tragfähiger wird. Das muß die Verhandlungskommission erarbeiten mit dem sozialdemokratischen Partner, aber wir verhandeln natürlich auf eine Legislaturperiode und wir wollen erfolgreich verhandeln.

    Engels: Bereits am 23./24. Oktober will Schröder als Bundeskanzler am Sondergipfel der Europäischen Union in Österreich teilnehmen. Das Thema dort ist unter anderem "Weichenstellung für EU-Reformen". Werden ihn vorher die GRÜNEN im Bundestag wählen, auch wenn es bis dahin noch keinen Parteitag aus terminlichen Gründen geben konnte?

    Roth: Nein, das halte ich nun wirklich für unmöglich, und das weiß natürlich auch die Sozialdemokratie, daß eine tragfähige Zustimmung unserer Partei notwendig sein wird, um wirklich geschlossen und um überzeugt in so eine gemeinsame rot/grüne Regierung hineinzugehen. Es wäre schon ein heftiger Fehler am Anfang zu sagen, die Partei kommt hinterher und sagt hinterher ihre Meinung. Deswegen muß man schauen, wie man das koordinieren kann, wann man von grüner Seite eine Bundesversammlung ansetzen kann. Eine Regierungsbildung ohne Verabschiedung und einen demokratischen Prozeß innerhalb unserer Partei, eine demokratische Abstimmung über die dann vorliegenden Ergebnisse wäre aber wirklich ein falsches Signal. Das kann niemand wollen. Andererseits finde ich es sehr richtig jetzt kommen wir noch einmal auf Europa, wenn ich darf , daß zu diesem österreichischen Sondergipfel eine neue Bundesregierung auf die Matte geht.

    Engels: Aber das heißt, Sie werden den Auftritt Schröders dort möglicherweise an Terminproblemen platzen lassen?

    Roth: Das geht nicht um platzen. Es ist ja auch im Interesse der Sozialdemokraten, daß dort nicht jemand in spe kommt, sondern daß dort ein deutscher Bundeskanzler und ein deutscher Außenminister, die sozusagen die Zustimmung haben von ihren jeweiligen Parteien, auch als solche aufzutreten, eine ganz andere Kraft haben. Ich glaube nicht, daß das jetzt irgend etwas mit platzen oder sonst was zu tun hat, sondern daß solch ein Auftritt eher eine technische, organisatorische Frage ist, wie wir es hinkriegen, rechtzeitig fertig zu sein. Es wäre wichtig, es wäre sehr wichtig, daß dort eine neue Bundesregierung auftritt und sagt, Europa braucht mehr Demokratie, Europa braucht eine Demokratieoffensive, und das als Vorreiterrolle einer neuen deutschen Bundesregierung, das wäre unheimlich toll. Das wäre dieser neue Wind. Das kann natürlich nur dann passieren, wenn diejenigen, die dort auftreten, auch die richtige demokratische Legitimation haben, und das ist bei uns natürlich eine Bundesversammlung.

    Engels: Zu den bevorstehenden rot/grünen Koalitionsverhandlungen war das Claudia Roth, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/die Grünen.