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Giedra Radvilavičiūtė
"Eine raffinierte Poetikvorlesung"

"Der lange Spaziergang auf einer kurzen Mole. Oder: Mein Spiel gegen mich selbst“ ist der zweite Essayband der litauischen Autorin Giedra Radvilavičiūtė. Immer wieder blickt sie dabei in den eigenen menschlichen Abgrund, vermeidet jedoch Sentimentalität und Pathos. Ihr erstes ins Deutsche übersetzte Buch wird so zu einer tragikomisch erbauenden Lektüre.

Von Miriam Zeh |
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    Die litauische Autorin Giedra Radvilavičiūtė. (Archiv) (imago / gezett)
    Diese Frau braucht keine Hilfe. Sie hat gelernt, allein zu überleben. Allein neben Tochter und Katze in der Altstadt von Vilnius. Bewaffnet mit Literatur, Ironie und Scharfsinn stellt sich diese Frau dem Kampf gegen die Banalität ihres Alterns. Die Rede ist von der Erzählerin aus Giedra Radvilavičiūtės Essayband "Der langer Spaziergang auf einer kurzen Mole". Die Rede ist vielleicht aber auch von der Autorin Radvilavičiūtė selbst. Denn zahlreiche Überschneidungen in den Biografien von Autorin und Erzählerin lassen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verschwimmen. Keiner Einschränkung scheinen sich die erzählenden Essays der litauischen Schriftstellerin beugen zu wollen. Da betrinkt sich Radvilavičiūtės Erzählerin nachts mit Nabokov am Küchentisch und erhält einen mysteriösen Anruf von der Oma aus dem Jenseits. Dabei liegt Radvilavičiūtės narrativer Ausgangspunkt stets im Konkreten und Unmittelbaren. Aus kleinen, vordergründig banalen Alltagsbeobachtungen entspinnen sich Erinnerungen und Reflexionen, die kunstvoll verschiedene Ebenen von Raum, Zeit und Wirklichkeit miteinander verknüpfen.
    "Für mich existiert die Welt eher dazu, um Eingang in die Erinnerung zu finden. Sie wählt die Bilder bisweilen gegen den Willen eines Menschen aus. Der Prozess kann auch bewusst ablaufen, mit einem fast pathologischen Genuss. Manchmal schaffe ich die Bilder der Vergangenheit geradezu neu, ich mag es, sie an den spannendsten Stellen zu unterbrechen und eine kecke Abänderung der Ereignisse vorzunehmen"
    Mit viel Klugheit und Sorgfalt komponiert Radvilavičiūtė ihre Texte
    "Der langer Spaziergang auf einer kurzen Mole" liest sich stellenweise wie eine raffinierte Poetikvorlesung. Auf der Flucht vor wissbegierigen Journalisten und ungeliebten Fototerminen entwickelt Radvilavičiūtė aus einer konkreten Reiseimpression heraus Kriterien zur Beurteilung der Wirksamkeit eines Textes. Nicht nur an dieser Stelle gelingt ihr das Kunststück poetologisches Wissen zu explizieren und im selben Atemzug literarisch vorzuführen. In keiner Zeile beschleicht den Leser dabei der Verdacht, zum Zeuge einer staubigen Fingerübung zu verkommen. Vielmehr lässt sich bestaunen, mit wie viel Klugheit und Sorgfalt Radvilavičiūtė ihre Texte komponiert ohne ihnen dadurch Originalität und Leichtigkeit zu nehmen.
    Es ist dieses erzählerische Können, das die Autorin auch bei intimen Passagen davor bewahrt, ins Heimelig-Sentimentale abzurutschen. Radvilavičiūtė seziert die unmittelbare Gegenwart ihrer Erzählerin. Als Alltags-Archäologin legt sie Herrschaftsstrukturen frei wie verborgene Gesteinsschichten. Ein kalter Schinken auf einer Geburtstagsfeier kann glänzen wie der Marmor aus Moskauer Metrostationen. Und eine Körperhaltung bei der Zwetschgenernte kann zur Pose erstarren wie auf sowjetischen Etiketten moldawischer Weinflaschen. Radvilavičiūtės vielschichtige Perspektiven auf Tradition, Konventionen und Geschichte offenbaren, dass Weltpolitik auch das ist, was in den Alltag der Provinz hereinbricht.
    "Warum gehst Du Dich nicht ins Meer stürzen und sterben?"
    "Als ich in den 1960er Jahren in einer kleinen Provinzstadt geboren wurde, schossen sowjetische Soldaten das Flugzeug des amerikanischen Spions Powers ab, das die intimsten Orte unseres großen Landes ausgeforscht hatte. Meine Mutter war wie die übrigen Frauen der Kleinstadt der Meinung, dieser Vorfall sie der Beginn eines Krieges mit Amerika. Es kam der Monat Mai, die passendste Zeit für Maissaat, doch alle Leute erörterten Chruschtschows Erklärung an de Gaulle, Macmillan und Eisenhower."
    Der Titel von Giedra Radvilavičiūtės Essayband ist einer Redewendung aus der amerikanischen Umgangssprache entlehnt. "Why don't you take a long walk off a short pier?" bedeutet wörtlich übersetzt zwar: "Warum machst Du nicht mal einen langen Spaziergang auf einem kurzen Pier oder einer kurzen Mole?" Sinngemäß soll es aber bedeuten: "Warum haust Du nicht ab, warum gehst Du Dich nicht ins Meer stürzen und sterben?" Immer wieder blickt Radvilavičiūtė in ihren Essays tief und erbarmungslos in den eigenen menschlichen Abgrund. Sie hadert mit der eigenen Angst vor der Einsamkeit, mit ihrer Angst vor dem Altern und der Angst vor dem Tod.Ihr Essayband ist keine leichte Kost und vermeidet trotzdem jede Sentimentalität und jede Pathetik. Wie Radvilavičiūtės Erzählerin bis zum Ende trotzig ihrer eigenen Niedertracht und Schwäche entgegenlacht, das macht dieses Buch nach allen Strapazen aber doch zu einer tragisch-komisch erbauenden Lektüre.
    Giedra Radvilavičiūtė: "Der lange Spaziergang auf einer kurzen Mole. Oder: Mein Spiel gegen mich selbst. Erzählte Essays." Aus dem Litauischen von Cornelius Hell. Mit einem Nachwort von Nora Bossong. Wiesbaden: Corso Verlag 2017, 144 Seiten, 19 Euro