Sandra Schulz: Von einer Zirkusveranstaltung im britischen Parlament spricht die russische Außenamtssprecherin Sacharowa. Gemeint ist damit der Auftritt der britischen Premierministerin Theresa May im Unterhaus gestern, die nach der Vergiftung des früheren russischen Agenten Skripal ja mit dem Zeigefinger nach Moskau weist. In den USA schließt sich Außenminister Tillerson den britischen Schlussfolgerungen an. Ein Ultimatum bis heute Abend hat Theresa May dem Kreml gesetzt.
Mit weiteren Einordnungen kann uns jetzt Ralf Trapp weiterhelfen. Er ist Chemiker und Toxikologe, Politikberater zum Thema Abrüstung, und war lange bei der Organisation für Verbot der chemischen Waffen (OPCW), also genau bei der Organisation, gegenüber der Russland sich jetzt erklären soll. Schönen guten Tag, Herr Trapp.
Ralf Trapp: Guten Tag, Frau Schulz.
Schulz: Theresa May hat öffentlich gemacht, dass es ein militärisches Nervengas sein soll, das zum Einsatz gekommen ist, namens Novichok. Das haben wir gerade schon gehört. Was würden Sie ergänzen? Was müssen wir über diesen Stoff wissen?
Trapp: Novichok gehört in eine Gruppe. Es ist nicht eine Substanz, sondern es ist eine Gruppe von Substanzen, die in der Sowjetunion und dann später in Russland entwickelt worden sind als eine Art von Nachfolger zu den bekannten Nervenkampfstoffen, den G- und den V-Stoffen, also Sarin und VX.
Es ist so, dass natürlich solche Entwicklungen auch anderswo gelaufen sind. In Amerika lief das unter dem Namen "intermediate volatility agent", ein Kampfstoff mit mittlerer Verdampfbarkeit, und das Ziel dieser Entwicklung bestand darin, einen Kampfstoff zu entwickeln, der praktisch in seiner Eigenschaft irgendwo zwischen dem Sarin und den V-Kampfstoffen lag, aber auch giftiger als die beiden war.
Umstände deuten auf Stoff aus Russland hin
Schulz: Würden Sie da eine Festlegung machen? Wer könnte so einen Stoff, solche Stoffe haben?
Trapp: Zunächst mal muss man sagen, dass diese Sachen nur in den Forschungslabors von Ländern entwickelt wurden, die entweder selbst Chemiewaffen-Programme hatten in den 80er-, 90er-Jahren, oder aber die hoch entwickelte C-Schutzprogramme hatten. Es gab also schon eine Reihe von Ländern, die an solchen Substanzen gearbeitet haben. Ansonsten wüssten die Briten ja auch nicht, was es ist, wenn sie nicht entsprechende Referenzstandards dafür hätten. Aber die Umstände ansonsten deuten natürlich schon darauf hin, dass es sich hier um einen Stoff handelt, der aus Russland kam.
Schulz: Welche Umstände sind das denn?
Trapp: Das sind die anderen Umstände. Die Substanz selber sagt Ihnen zunächst mal nur, was sie ist, und dazu bräuchte man dann noch ein bisschen Forensik, um zu sehen, ob man nachvollziehen kann, wie genau die Synthese verlaufen ist für diese Substanz und welche Rohstoffe verwendet worden sind. Es sind einfach die anderen Umstände, die bei einer solchen kriminellen Untersuchung mit zu Tage treten, die dann darauf hindeuten, auf welchem Wege der Stoff dort hingelangt sein könnte und wie er eingesetzt worden sein könnte.
Vergiftung auf verschiedenen Wegen möglich
Schulz: Wenn dieser Stoff so hoch giftig ist, wie kann man sich denn eigentlich diese Vergiftungsaktion vorstellen? Steht da jemand hinterm Opfer an der Kasse und pustet in ein Röhrchen, oder wie läuft so was?
Trapp: Das weiß ich schlicht nicht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man so was machen kann. Das kann als Aerosol versprüht werden, da können Oberflächen damit vergiftet werden, so dass dann Personen praktisch sich vergiften, wenn sie eine Oberfläche anfassen. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten. Wir haben es bei dem Attentat in Malaysia auf Kim Jong Nam gesehen, dass es mit einer Art von Creme im Gesicht gemacht worden ist. Diese Sachen können auf verschiedene Weise formuliert und dann entsprechend eingesetzt werden.
Schulz: Das heißt aber, diese Warnung, die es jetzt auch in Salisbury gibt, dass die Bevölkerung die Kleidungsstücke waschen soll, das muss jetzt nicht unbedingt übertrieben sein?
Trapp: Ich würde nicht sagen, es ist übertrieben, aber ich glaube schon, dass man hier auf sicher geht. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Substanzen an der Kleidung der Opfer waren, dass die dann, als sie durch Salisbury gelaufen sind - zwar nur eine kurze Strecke, aber wie auch immer -, noch bestimmte Reste hier und da zurückgelassen haben. Es ist durchaus möglich, dass sich Leute dabei mit vergiftet haben, oder zumindest, dass sie die Oberflächen berührt haben, dass ihre Kleidung noch ein bisschen Kampfstoff enthält.
Substanz wahrscheinlich aus militärischen Entwicklungsprogrammen
Schulz: Jetzt sagt Theresa May ja, das Gift sei von militärischer Qualität. Was bedeutet diese Einordnung? Das ist ein Gift, das eigentlich eine militärische Waffe ist?
Trapp: Zunächst mal glaube ich, ich interpretiere das so, dass sie Bezug darauf nimmt, dass es eine Substanz ist, die in normalen Entwicklungsprogrammen und auch in anderen Bereichen so nicht bekannt ist und auch so nicht verwendet wird. Sie ist aber bekannt von militärischen Entwicklungsprogrammen zu Chemiewaffen und insoweit kann man schon den Schluss ziehen, dass sie in gewisser Weise mit einem solchen Programm verknüpft ist.
Die Substanzen selbst, dazu gab es zwar ein paar Publikationen in der Literatur, aber die Synthese-Wege sind im Detail nicht beschrieben. Vieles deutet darauf hin, dass es schon aus einem entsprechenden Programm kommt.
Schulz: Wenn das so ein gefährlicher Stoff ist, dann müsste das wahrscheinlich auch reguliert sein. Lässt sich das jetzt im Nachhinein feststellen, in welchen Programmen möglicherweise was abhandengekommen ist oder was fehlt?
Trapp: Feststellen? - Das hängt zunächst mal davon ab, was die Staaten bereit sind, an die OPCW zu melden. Das Chemiewaffen-Übereinkommen wird ja von der OPCW in Den Haag implementiert. Alles was in Waffenvorräten war, ist gemeldet worden und ist dann auch entsprechend vernichtet worden. Aber natürlich viele Dinge, die in den Forschungs- und Entwicklungslabors passiert sind, die sind nicht im Detail gemeldet, und die Frage ist, wie weit Staaten bereit sind, dort transparent zu sein und offenzulegen, an welchen Substanzgruppen sie gearbeitet haben.
Es gibt auch immer Risiken, wenn man so was macht, denn es gibt natürlich dann die Möglichkeit, dass man dabei auch kriminellen Organisationen und anderen einen Hinweis darauf liefert, mit welchen Substanzen man arbeiten könnte.
"Kriminellen Organisationen fehlt die technische Erfahrung"
Schulz: Was finden Sie denn im Moment, Stand jetzt, plausibler, dass wirklich Russland dahinter steckt, oder dass da wirklich was in Umlauf gekommen ist?
Trapp: Das ist schwer zu sagen. Ich meine, man kann nicht ausschließen, dass Substanzen, die in einem Forschungslabor sind, auf irgendeinem Wege gestohlen werden, entwendet werden, oder auch, dass die Rezepturen dafür, wie man so etwas vorbereitet, entwendet werden können. Das ist durchaus eine Möglichkeit. Die beiden Optionen, die die Briten den Russen gegeben haben, sind plausibel und möglich.
Die eine Variante, die ich ausschließen würde, wäre eine kriminelle Organisation oder auch eine Terroristenorganisation. Denen fehlt schlicht die technische und wissenschaftliche Erfahrung, um mit solchen Substanzen umzugehen.
Schulz: Jetzt hat Theresa May Russland, Moskau bis heute Zeit gegeben, Meldung zu machen bei dieser Organisation. Ist denn überhaupt ansatzweise damit zu rechnen, dass da jetzt Informationen nach Genf fließen, mit denen man arbeiten kann, oder die dann auch wirklich für Transparenz sorgen?
Trapp: Ich glaube zunächst mal, dass das eine Geschichte ist, die zwischen den Briten und den Russen passiert, im Augenblick zumindest. Natürlich reden die Briten auch mit ihren Verbündeten in Europa und in Amerika. Wie das Spiel ausgeht, kann ich nicht sagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jetzt zu diesem Zeitpunkt irgendwelche offiziellen Dinge in Richtung Den Haag zur OPCW fließen werden. Das wird zunächst mal, glaube ich, schon auf dem diplomatischen und bilateralen Wege gehandelt.
"Briten haben es nicht nötig die OPCW anzusprechen"
Schulz: Sie haben ja Erfahrung, weil Sie lange in dieser Organisation waren. Wie bereitwillig sind die Hauptstädte, sind die Regierungen, mit so einer Organisation zusammenzuarbeiten?
Trapp: Vom Prinzip her schon. Aber wie gesagt, die Organisation ist gegründet worden und hat ihre Erfahrungen auf dem Gebiet der systematischen Abrüstung von militärischen Vorräten, und dann hat sie natürlich Sonderaktionen durchgeführt wie in Syrien. Wie gesagt, die Organisation kann schon mit solchen Extremsituationen umgehen. Es ist aber eine Frage, wie das politische Klima in der Organisation ist, welche anderen politischen Überlegungen bei solchen Geschichten mit ins Spiel kommen und inwieweit die Staaten selbst Interesse haben, die Organisation dort mit einzubeziehen.
Schulz: Welche Informationen würden da dann genau gebraucht werden? Müssten sie nicht auch die Kranken zum Beispiel mit in Augenschein nehmen oder untersuchen können?
Trapp: Wenn es jetzt darum ginge, dass die Organisation aktiv einbezogen würde in die Untersuchung, das halte ich für unwahrscheinlich. Das ist eine nationale Untersuchung, eine kriminelle Untersuchung in Großbritannien, und ich kann mir nicht vorstellen, dass zur Unterstützung dieser Operation die OPCW mit hinzugezogen würde. Ich kann mir vorstellen, dass man sie informiert, dass man Informationen austauscht, dass man dem Exekutivrat der OPCW berichtet, was im Einzelnen passiert und was abläuft.
Im Übrigen können die Briten, wenn sie Hilfe brauchen, sich natürlich an ihre Verbündeten wenden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es nötig hätten, da die OPCW anzusprechen. Das würde politisch vermutlich die Sache sogar etwas komplizierter machen.
Schulz: Der Toxikologe und Politikberater Ralf Trapp heute hier bei uns in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank für Ihre Einordnungen.
Trapp: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.