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Gilbert White: "Die Erkundung von Selborne"
Realismus des Regenwurms

Ob Landschildkröte oder Fichtenkreuzschnabel: Ein englischer Landpfarrer entdeckte Mitte des 18. Jahrhunderts die vielgestaltige Welt der Natur und schrieb die "Naturgeschichte Selbornes". Das Gründungsdokument des sogenannten Nature Writing liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Von Tobias Lehmkuhl | 16.05.2021
Das Geburtshaus von Gilbert White in Selborne Hants (1720-1793)
Das Geburtshaus von Gilbert White in Selborne Hants (1720-1793) (imago stock&people/United Archives International)
Es gibt eine ganze Reihe von auch hierzulande gern gelesenen Klassikern des englischsprachigen Nature Writing, etwa Nan Sheperds "Der lebende Berg" oder Annie Dillards "Pilger am Tinker Creek". Der Text mit der größten Aura ist wohl J. A. Bakers "Der Wanderfalke": 200 Seiten über einen Mann der unbeweglich in der nassen Heide steht und einen Wanderfalken beobachtet. So ist es ziemlich anachronistisch, wenn man in einem Text, der fast 200 Jahre vor Bakers "Der Wanderfalke" erschienen ist, nach einem solchen, einem "peregrine" Ausschau hält, als müssten in allen englischen Büchern über das Leben in und mit der Natur zwangsläufig Wanderfalken auftauchen. Und tatsächlich, endlich, auf Seite 288 tritt auch in Gilbert Whites Selborner Naturgeschichte ein Wanderfalke ins Bild:
"Einer der Wildhüter im Wolmer Forest schickte mir einen Wanderfalken, den er am Rande des Gebietes geschossen hatte, als dieser gerade eine Ringeltaube verschlang. Der Falco peregrinus ist ein nobles Tier, das man selten in den südlichen Grafschaften findet. Im Winter 1767 wurde einer in der Nachbargemeinde Farringdon getötet, den ich dann Mr. Pennant nach North Wales schickte. Seitdem hatte ich keinen Wanderfalken mehr gesehen. Das oben erwähnte Exemplar war in einem guten Erhaltungszustand und nicht durch den Schuss beschädigt."

Aus der Novelle bekannt

Die Erklärung ist also einfach: In der Gegend von Selborne, im Süden Englands, knapp 100 Kilometer von London entfernt, lässt sich der Wanderfalke seltener blicken als in jener Region, in der J. A. Baker sich Regen und Hitze aussetzt, um Stunden um Stunden dazustehen, die Augen auf seinen jagenden oder schlafenden Falken gerichtet, sein Totem-Tier.
Deutlich macht die zitierte Passage auch, dass wir es bei Gilbert White mit einem ganz anderen Erzähler zu tun haben, einem, dem anders als Baker die Natur nicht dazu dient, ein seelisches oder körperliches Trauma zu verarbeiten, der nicht, wie es über "Der Wanderfalke" heißt, auf die "Verschmelzung von Spirituellem und Elementarem" zielt.
Gilbert White ist zuallererst einmal wissenschaftlich interessierter, sachlicher Naturliebhaber; er sammelt Beobachtungen, um das Wissen über die Tier- und Pflanzenwelt zu erweitern, er führt Untersuchungen durch, prüft etwa, mit welchem Kammerton die Eulen rufen, und er lässt nicht selten Vögel fangen oder schießen, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Mitunter schneidet er sie auf, um zu sehen, wie genau ihre Organe angeordnet sind oder was sich in ihren Mägen befindet.

Majestätische Hügel

Wäre White allerdings bloß jemand, der Daten und Fakten sammelt, wäre sein Buch für uns kaum noch interessant. Es ist auch deshalb heute noch so lesenswert, weil man ihm auf jeder Seite die Liebe für die Natur anmerkt, weil ihn ihre Schönheit berührt und ganz unwissenschaftlich überwältigt.
"Auch wenn ich die Sussex Downs nun seit über 30 Jahren bereise, erfüllt mich die Kette majestätischer Berge Jahr für Jahr mit frischer Bewunderung, und ich entdecke bei jeder Erkundung neue Schönheiten. Das Gebiet, das von Chichester aus nach Osten bis Eastbourne reicht, ist etwa 60 Meilen lang und wird South Downs genannt, wobei der Name, genau genommen, nur für die Gegend um Lewes gilt. Man hat einen herrlichen Ausblick auf ausgedehnte Waldgebiete auf der einen und das Meer auf der anderen Seite."
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Gilbert White hat von der weiten Welt nicht viel gesehen, zum Glück, muss man sagen, denn sonst wäre ihm die heimische Landschaft vielleicht nicht so wunderbar und die Sussex Downs nicht so majestätisch vorgekommen. Ihre höchste Erhebung misst in Wirklichkeit nämlich sehr überschaubare 270 Meter. Es ist eine Binse, dass man die Welt bereisen kann, ohne etwas zu sehen, dass andere in ihrem heimischen Garten dagegen eine ganze Welt zu entdecken vermögen. Sprichwörtlich ist die Dame, die von ihrer Kreuzfahrt einmal um den Globus herum nicht mehr zu berichten weiß, als wie das Essen an Bord geschmeckt hat.
White ist das genaue Gegenteil davon, einer der sich mit der größten Hingebung den Unterschieden widmet: den Stimmen der Vögel, den Sitten der Insekten, dem Wechsel der Jahreszeiten.
Nun schreibt White allerdings in einer Zeit, von der man meinen würde, dass sich soeben das Tor zur Welt weit geöffnet hat und jedermann sich dafür interessiert, was James Cook auf Neuseeland entdeckt, oder Bougainville auf Tahiti. Tatsächlich hat White von Cooks Reisen Kenntnis. Einmal erwähnt er eine Abbildung von Schlittenhunden im Bericht der jüngsten Weltreise des Landsmanns.
Wozu in die Ferne schweifen, wenn das Schöne doch so nah liegt, mag sich White gesagt haben, und wenn diese Schönheit zudem noch so voller spannender Rätsel steckt.
Zeitgenössisches englisches Buchcover und aktuelles Buchcover zu Gilbert White: „Die Erkundung von Selborne"
Zeitgenössisches englisches Buchcover und aktuelles Buchcover zu Gilbert White: „Die Erkundung von Selborne" (Buchcover links: imago stock&people/United Archives International, Buchcover rechst: Die Andere Bibliothek)

Vogelzug als Rätsel

Das größte aller Rätsel stellt für White nämlich nicht die Frage dar, ob es eine Terra Australis gibt oder nicht, die Frage die ihn über drei Jahrzehnte umtreibt ist die nach der Migration der Vögel, insbesondere der von ihm heißgeliebten Schwalben: Ziehen sie im Herbst in den
Süden, um dort zu überwintern, oder verstecken sie sich in irgendwelchen Höhlen und Spalten und harren den englischen Winter über in einer Art Winterstarre aus?
Neigt White anfangs stark der Vogelzug-Hypothese zu, zumal sein Bruder, ebenfalls als Geistlicher, in Gibraltar stationiert ist und ihn von dort aus mit ornithologischen Beobachtungen versorgt, so scheint er gegen Ende seines Lebens durch den ein oder anderen Zufallsfund immer mehr davon überzeugt, dass die Schwalben die Insel nicht verlassen.
Geboren wurde der spätere Erfolgsautor 1720, er starb vier Jahre nach der Veröffentlichung der Naturgeschichte Selborne im Jahr 1783. Das Buch, ein wahrer Bestseller, nicht nur zu Whites Lebzeiten, erschien übrigens bei einem anderen Bruder Whites in London.

Schafwald und Hangwand

Angelegt ist es als eine Reihe von Briefen, etwa hundert an der Zahl, an zwei geistesverwandte Naturforscher, Thomas Pennant der eine, Daines Barrington der andere.
Jeder Brief ist einem Thema oder einem Tier gewidmet, in den ersten Briefen aber stellt White erst einmal das Feld seiner Forschungen vor.
"Die Böden in dem Landstrich sind fast so unterschiedlich und abwechslungsreich wie die Szenerien und Geländeformen. Das hochgelegene Gebiet nach Südwesten besteht aus einem kalkhaltigen Berg, der sich 300 Fuß über das Dorf erhebt, und gliedert sich in die Schafweide, den Hochwald und einen langen Hangwald, Hanger genannt. Die Anhöhe ist komplett mit Buchen bestanden, dem lieblichsten aller Waldbäume, ob man nun die glatte Rinde oder Borke in Betracht zieht, das glänzende Blattwerk oder die anmutig hängenden Zweige. Die Schafweide, ein heiterer, parkähnlicher Flecken, etwa eine auf eine halbe Meile groß, stößt am Rande des Hügellandes hervor, ergießt sich ins Flachland und bietet eine prächtige Zusammenschau von Berg und Tal, Waldstück, Heide und Wasser."
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Buchfinken, Hänflingen, Fichtenkreuzschnäbeln

Die südenglische Landschaft um Selborne kam der Neigung Gilbert Whites zur Naturbeobachtung sehr entgegen. Ihre Vielgestaltigkeit bot einer heute gar nicht mehr vorstellbaren Vielfalt an Tieren und Pflanzen Raum. Insbesondere die Vögel interessierten White, und er konnte wahrscheinlich alle 120 Arten der Gegend an Aussehen, Gesang und an der Art ihrer Bewegung bestimmen.
Doch nicht nur gab es viele Arten, es gab von jeder Art auch ungeheuer viele. So berichtet White von riesigen Schwärmen von Buchfinken, Hänflingen und Fichtenkreuzschnäbeln. Zwar gibt es diese Arten nach wie vor, von Hänflingen und Fichtenkreuzschnäbeln aber dürften die wenigsten Menschen heute irgendetwas gehört haben, und erstere, die Buchfinken, sieht man zumindest in unseren Breiten häufig nur noch vereinzelt.
Es ist klar und keine Überraschung, dass sich die Welt in den letzten 250 Jahren zuungunsten der Artenvielfalt entwickelt hat, dass Lebensräume immer kleiner geworden sind, dass die Landwirtschaft und nicht zuletzt auch die Jagd auf Vögel die natürlichen Verhältnisse grundlegend geändert haben. Whites Porträt von Selborne macht noch einmal anschaulich wie die Welt einmal ausgesehen hat, die dörfliche Welt Mittel- und Nordeuropas. Er zeigt, wieviel bunter und wieviel klangvoller sie war.

Scherz und Tanz

Wie idyllisch es damals auf dem Land zugegangen sein mag, beschreibt White auf eine Weise, die für heutige Leser fast unglaubwürdig wirkt.
"Im Zentrum des Dorfes, nahe der Kirche, ist ein viereckiger Platz, umstanden von Häusern, der gemeinhin Plestor genannt wird. In der Mitte wuchs von alters her eine enorme Eiche mit kurzem, gedrungenem Stamm und riesigen horizontalen Ästen, die fast bis an die Ränder des Platzes reichten. Der altehrwürdige Baum, umgeben von einer steinernen Einfassung mit Sitzgelegenheiten, war die Freude von Jung und Alt, ein Ort der Entspannung an Sommerabenden, wo die Alten im ernsten Gespräch saßen, während die jungen Leute vor ihnen scherzten und tanzten."

Die Sprache der Hühner

White ging es sicher nicht darum, seinem Briefpartner ein pittoreskes Bild seines Heimatdorfes zu zeichnen, im Gegenteil. Er scheint ein Mann von großer Objektivität und Unvoreingenommenheit gewesen zu sein. Beispielsweise schätzt er den Dung der Tiere. Der ziehe die Insekten an, welche wiederum den Fischen als Nahrung dienten. So verwandle die Natur als großer Ökonom die "Entspannung" des einen Tieres in die Versorgung des anderen. White fragt sich auch, ob das Ritual der Mohammedaner, sich in der Wüste vor dem Gebet mit Sand zu reinigen, nicht von der Feldlerche inspiriert sein könnte, die so gerne im Staub badet. Oder er geht der Frage nach, ob sich mit Kröten Krebs heilen ließe.

Daktylen oder Spondäen

White hat überdies keine Hemmungen, die geliebten und jeden Tag stundenlang beobachteten Vögel fangen oder schießen und sogar zubereiten zu lassen. Die Ringdrossel etwa beurteilt sein Gaumen als "saftig und würzig". Er untersucht eingehend, wie weit ein Echo tragen kann und welchen Einfluss das Versmaß auf die Dauer des Echos hat, ob Daktylen oder Spondäen dem Echoeffekt mehr entgegenkommen.
Whites geradezu kindliche Neugierde ähnelt in ihrer Artikulation wohl am ehesten der des großen Insektenforschers Jean-Henri Fabre, der eine Generation nach ihm geboren wurde.
Auch Fabre brachte unvergleichlich viel Ruhe und Geduld bei der Beobachtung von Wespen und Grillen auf, auch er beschränkte sich auf ein äußerst überschaubares Terrain, seinen Harmas in Südfrankreich, und auch sprachlich stehen sich Fabre und White nahe, versuchen sie mit Sprache doch ebenso behutsam und präzise zu arbeiten, wie Behutsamkeit und Präzision auch bei der Untersuchung von kleinen Tieren vonnöten sind. Kein Wunder bei jemandem, der solch ein Ohr für die Sprache der Tiere selbst hat.
"Keine anderen Hofbewohner besitzen eine solche Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten und eine so reiche Sprache wie die gewöhnlichen Haushühner. Hält man ein vier oder fünf Tage altes Küken an ein Fenster mit Fliegen, schnappt es augenblicklich nach der Beute und zwitschert behaglich. Doch zeigt man ihm eine Wespe oder Biene, wird der Ton barsch und drückt Missfallen und ein Gefühl von Gefahr aus. Wenn ein Hühnchen ins Legealter kommt, verkündet es das Ereignis mit einem freudigen und sanften Laut. Von allen Begebenheiten im Leben der Henne scheint das Eierlegen am wichtigsten zu sein, denn kaum hat sie sich erleichtert, stürmt sie freudig lärmend los, woraufhin der Hahn und seine anderen Hennen sofort in das Gegacker einstimmen. Der Aufruhr beschränkt sich nicht auf die Familie, sondern pflanzt sich von Hof zu Hof fort und breitet sich auf alle Gehöfte in Hörweite aus, bis schließlich das ganze Dorf in Unruhe ist."

Rabe versus Kröte

Nicht nur die Tiere gehören für White zur Naturgeschichte Selbornes, auch die Menschen. In einem seiner Briefe an Daines Barrington widmet er sich dem Aberglauben in seiner Gegend, erzählt, dass nicht weit entfernt, in Hertfordshire, zwanzig Jahre zuvor noch zwei arme Kerle, die altersblödsinnig gewesen seien, der Hexerei verdächtigt und im Dorfteich ertränkt wurden. Für Selborne selbst berichtet er von dem Brauch, Kinder mit Leistenbruch durch eine gespaltene Esche zu zwängen. Wuchs der Spalt der Esche zu, galten die Kinder als geheilt. Eine wahrlich wunderbare Verschiebung - an der Genesung eines Baumes die des Kindes abzulesen, egal ob es noch Schmerzen hat und humpelt oder nicht.
Ans Wunderbare grenzt auch Whites Beobachtung der Sinti und Roma, die regelmäßig durch die Gegend ziehen und deren Frauen, laut White, keine Unbequemlichkeit darin sehen, ihre Kinder auf dem kalten Boden eines Hopfenfeldes zu gebären.
Das eben macht auch die Stärke von "Die Erkundung von Selborne" aus: White listet nicht bloß seine Beobachtungen auf, ihm gelingt es immer wieder starke Bilder zu zeichnen und seine Berichte mit kleinen Geschichten anzureichern. So wie die der zahmen Kröte.
"Ich weiß auch aus sicherer Quelle, dass einige Ladies (mit eigenartigem Geschmack, werden Sie sagen) Gefallen an einer Kröte gefunden hatten und sie über viele Jahre im Sommer mit den Maden der Aasfliege fütterten, bis sie eine monströse Größe erreicht hatte. Das Tier kam Abend für Abend aus einem Loch unter der Gartentreppe hervor und wurde nach dem Dinner zum Füttern auf den Tisch gesetzt. Schließlich passte ein zahmer Rabe den Moment ab, als die Kröte ihren Kopf herausstreckte, versetzte ihr mit seinem Hornschnabel einen festen Stoß und stach ihr ein Auge aus. Nach diesem Unfall schmachtete das Tier dahin und verstarb nach einiger Zeit."

Ein Wettstreit auf Augenhöhe

Als früher Ökologe weiß Gilbert White, dass auch das kleinste und unscheinbarste Tier unerlässlich sein kann für das Funktionieren des gesamten Ökosystems. So geht er in einem seiner Briefe auf die Rolle der Regenwürmer ein, die den Boden locker und fruchtbar halten. Jene Länder auf der Welt seien arm, schreibt er, die häufig überschwemmt werden, weil bei den Überschwemmungen auch die Würmer ertrinken würden.
Diese waghalsige Behauptung stellt freilich einen weiteren Grund dar, warum sich, so sein Wunsch, "wissbegierige und scharfsinnige Geister" ans Werk machen sollten, um mehr über Würmer herauszufinden. Kein geringerer als Charles Darwin sollte hundert Jahre später jene Monographie über Würmer schreiben, die White 1777 forderte: "Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer" heißt das umfangreiche, 1881 erschienene und schon im Folgejahr ins Deutsche übersetzte Werk des wohl bedeutendsten britischen Biologen.
Dass nun gleich zwei Übersetzungen von Gilbert Whites Naturgeschichte Selbornes vorliegen, mag aus verlegerischer Sicht ein wenig unglücklich sein. Der Leser immerhin wird keinen Schaden nehmen, es ist ein Wettstreit auf Augenhöhe: Beide Übersetzungen sind gelungen. Jede findet einen eigenen Ton, und ob man sich nun für Esther Kinskys "Selborne und seine Naturgeschichte" entscheidet oder für Rolf Schönlaus "Die Erkundung von Selborne", eine schlechte Wahl trifft man weder im einen noch im anderen Fall.

Ein tiefer Schlummer

Der Schönlau-Übersetzung sind zudem fast achtzig zeitgenössische Abbildungen beigegeben, prächtig farbige Bilder von Steinschmätzer, Seidenschwanz und Mönchsgrasmücke, von Wiesel, Fuchs und Otter, überdies Ansichten von Selborne selbst, vom Plestor genannten Platz in der Dorfmitte, von der Kirche und von den Hängen, an denen Selborne liegt. Selbst auf diesen einfachen Bildern erkennt man noch einmal, warum White ein so reichhaltiges Tierleben beobachten konnte: Der Landschaft geht jede Gleichförmigkeit ab, auf kleinstem Raum versammeln sich Feld, Wald und Wiese, Tal und Hügel, und die Menschen mit ihren paar Häusern sind nur ein kleines, harmonisch inmitten der Landschaft stehendes und lebendes Element.
Eines dieser Elemente, die man dort im ländlichen Südengland kaum erwartet hätte, hat immer wieder seinen Auftritt: Eine Landschildkröte. Sie lebt im Garten einer Tante Whites, als diese stirbt, nimmt er sie mit in den seinen. Der Anblick dieser Schildkröte versetzt ihn immer wieder in philosophisches Staunen.
"Denkt man über die Existenz dieses seltsamen Wesens nach, kommt es einem Wunder gleich, dass die Vorsehung ihm ein solches Übermaß an Tagen zubilligt, eine solch verschwenderische Langlebigkeit einem Reptil gewährt, das anscheinend herzlich wenig davon auskostet, über zwei Drittel seines Lebens in freudloser Benommenheit verschwendet und monatelang, jeder Empfindung bar, in tiefstem Schlummer verbringt."

Klatsch, Tratsch, Romantik

Der hier zitierten Übersetzung Rolf Schönlaus ist als Nachwort ein Essay Virginia Woolfs beigegeben. Kein Romanautor, sagt sie über die ersten Briefe, in denen das Dorf vorgestellt wird, hätte uns kürzer und umfassender mit dem bekannt machen können, was wir wissen müssen, bevor seine Geschichte beginnt.
Was dann folgt, sei eine Pflanzen- und Tiergeschichte. Klatsch und Tratsch gibt es über die Gepflogenheiten der Vipern, für Liebesabenteuer sind vor allem die Frösche zuständig. Verglichen mit White, mit seiner vorurteilslosen Genauigkeit, sei noch der erzrealistischste Autor ein unbesonnener Romantiker.
Bei allem Realismus, den uns der heutige Zustand der Natur aufzwingt, schwingt bei der Lektüre der "Erkundung Selbornes" freilich eine romantische Sehnsucht nach einer unwiederbringlich entschwundenen Welt mit.
Gilbert White: "Die Erkundung von Selborne. Eine illustrierte Naturgeschichte"
aus dem Englischen von Rolf Schönlau
Die Andere Bibliothek, Berlin. 400 Seiten, 44 Euro.
Gilbert White: "Selborne und seine Naturgeschichte"
aus dem Englischen von Esther Kinsky
Matthes und Seitz, Berlin. 288 Seiten, 30 Euro.