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Giovanni Bellinis Madonnen mit Kind
"Damit ein Anfang sei"

Auf den ersten Blick malt Giovanni Bellini immer wieder ein Motiv: eine Madonna mit dem soeben geborenen Jesus auf dem Schoß. Erst beim genaueren Hinschauen offenbart sich das ganze Panorama. Die Madonnen des Malers können ein Nachdenken über das "Wunder der Geburt" auslösen.

Von Astrid Nettling | 16.12.2020
Drei Schwestern berühren ein kleines Baby in ihrer Mitte
Jede Geburt ein Neubeginn - das gilt für antike Prophezeiungen ebenso wie außerhalb des religiösen Bereichs (imago-images)
Noch immer will es ihr wie ein Wunder erscheinen, Mutter dieses Kindes zu sein. Dieses blondgelockten, pausbäckigen Knaben, der nun nackt auf ihren Knien sitzt. Schließlich ist es noch nicht lange her, dass sie jene geheimnisvollen Worte vernommen hat: "Siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären." Noch immer will es ihr ebenso unbegreiflich scheinen, dass sie, eine einfache junge Frau aus Nazareth, tatsächlich dazu auserkoren worden war, dieses Kind auf die Welt zu bringen.
Der venezianische Maler hat sein Madonnenbild um 1485 geschaffen. Bekannt ist es auch unter dem Namen "Madonna di Alzano". Benannt nach dem Städtchen Alzano in der Lombardei, wo das Bild eine Zeit lang beheimatet war, bevor es nach Bergamo in die Accademia Carrara gelangte. Dort hängt die "Madonna di Alzano" noch heute.
Behutsam umfassen ihre schlanken Hände den Körper des Knaben. Ihr junges Gesicht ist im Dreiviertelprofil zu sehen. Ihr leicht gesenkter Blick wirkt seltsam entrückt, als schweife er weit voraus in eine noch ferne Zukunft. "Freue dich", aber hatte der Engel damals zu ihr gesagt.
Madonna mit Kind von Giovanni Bellini um 1480. Das Jesuskind hält eine Birne in der rechten Hand
Madonna mit Kind von Giovanni Bellini entstanden um 1480. Das Jesuskind hält eine Birne in der rechten Hand (imago stock&people)
"Freue dich, du Begnadete; der Herr ist mit dir. Siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären und sollst ihm den Namen Jesus geben. Heiliger Geist wird über dich kommen, und Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das, was geboren wird, heilig genannt werden, Sohn Gottes."
So steht es im Lukasevangelium des Neuen Testaments. Und so lautet der christliche Verkündigungstext, der das schon vor langer Zeit prophezeite Ereignis annonciert: die Geburt eines göttlichen Kindes, mit dessen Wirken eine neue und heilbringende Zeit für die Menschen anbrechen wird.
Dickmilch, Honig und Birnen
Denn bereits in den Prophetenbüchern des Alten Testaments finden sich beim Propheten Jesaja die Worte: "Seht, das junge Mädchen wird empfangen und einen Sohn gebären. Von Dickmilch und Honig wird er sich nähren, bis er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu erwählen."
Noch hockt er wohlgenährt auf ihren Knien. Sein rosiger Kindermund ist leicht geöffnet, und seine großen, dunklen Augen suchen den Blick seiner Mutter. Ein wenig fragend, forschend. Als wollte er ergründen, wohin ihr sinnender Blick geht.
Giovanni Bellini, geboren in Venedig um das Jahr 1437, gilt als 'der' Madonnenmaler schlechthin. Bereits in jungen Jahren beginnt er mit der Reihe seiner halbfigurigen Madonnen-mit-Kind. Ein Bildtypus, der sich erst im Verlauf des 15. Jahrhunderts in Venedig herausgebildet hatte.
Diese Bilder waren nicht als Altarbilder für den Kirchenraum gedacht, sondern dienten als Andachtsbilder für das häusliche Gebet. Vorbilder waren vor allem byzantinische und griechische Ikonen, die auch Giovanni Bellini studiert und wiederholt kopiert hat. Seine Madonna-mit-Kind-Darstellungen haben sich jedoch von aller Starrheit und Stereotypie befreit, die den Figuren der traditionellen Ikonen anhaften.
Bellinis "Madonna von der Wiese" (1500) hängt in der Londoner National Gallery
Bellinis "Madonna von der Wiese" (1500) hängt in der Londoner National Gallery (imago stock&people)
Mildes Licht umfängt beide. Weich zeichnet es Gesicht und Hände Marias, sanft modelliert es den nackten Körper des Knaben. Ein schmales braunes Tuch hinter ihnen trennt sie ab von der sommerlichen Landschaft, die rechts und links in der Ferne zu sehen ist. Vor ihnen begrenzt eine dunkelrote Marmorbrüstung das Bild. Auf der Brüstung prangt rechts eine reife goldgelbe Birne.
Auf vielen Madonnenbildern ist eine solche Frucht zu sehen. In der Antike war sie der Göttin Hera geweiht, der Schutzgöttin von Ehe und Geburt. Im Mittelalter und noch in den Mariendarstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts unterstreicht die Frucht – als ein Symbol der Unschuld – die Reinheit der Gottesmutter. Unschuldig und rein, wie auch ihre Leibesfrucht ist – das neugeborene Kind.
Rätselgedicht Vergils
Aber nicht allein die jüdische und christliche Tradition spricht von der Geburt eines solchen Knaben. Um das Jahr 40 vor unserer Zeitrechnung verfasst der römische Dichter Vergil eine Reihe von Hirtengedichten, seine "Bucolica":
Musen Siziliens,
Das letzte Zeitalter ist nun da.
Die große Reihe der Jahrhunderte wird von neuem geboren.
Schon kehrt auch die Jungfrau wieder,
Schon wird ein neuer Spross hoch vom Himmel herabgesandt.
Sei du nur der Geburt des Kindes gnädig und hold, mit dem die eiserne Weltzeit
aufhören und in der ganzen Welt eine goldene aufsteigt.
Das Gedicht gibt bis heute Rätsel auf. Philologen, Historiker und Theologen haben sich vergeblich bemüht, Wesen und Herkunft des Kindes zu ergründen. Mit seinem Erscheinen in der Welt jedenfalls scheint der Dichter die Hoffnung auf eine neue, goldene Zeit des Friedens und des Glücks zu verknüpfen. Eine Zeit, in der die Menschen, die Tiere und die Natur wieder in ursprünglicher Harmonie miteinander leben.
Freiwillig tragen die Ziegen nach Haus milchstrotzende Euter,
und die Rinder fürchten sich nicht vor mächtigen Löwen,
üppig umblüht deine Wiege dich rings mit lieblichen Blumen.
So heißt es in Vergils Gedicht weiter; und es endet mit den Zeilen:
Fang an, kleiner Knabe, lächelnd deine Mutter zu erkennen!
Fang an, kleiner Knabe, wer der Mutter nicht zugelächelt,
kein Gott würdigte den des Tischs, keine Göttin des Lagers.
Ganz und gar antikem Geist entsprungen, erfährt das Gedicht in der Spätantike eine erstaunliche Umdeutung. Sie verschafft ihm eine unerwartete Popularität, die es durch das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit behält. Der Philologe Bernhard Kytzler schreibt: "Wichtig wurde jene Gleichung, die Kaiser Konstantin in seiner Karfreitagspredigt des Jahres 323 vollzog: Er sah in dem göttergleichen Knaben das göttliche Kind von Bethlehem." Ob auch der Maler Giovanni Bellini das Gedicht Vergils kannte, ist nicht überliefert. ,
Ein aufmerksamer Blick des Knaben sucht den Blick seiner Mutter. Der Abglanz eines Lächelns scheint noch über allem zu liegen und lässt auch den Betrachter spüren, welch freudiges Ereignis die Geburt dieses Kindes darstellt.
"Zahlreich sind die Mythen vom göttlichen oder heiligen Kind, weil es die Hoffnung mit sich brachte, dass mit ihm ein Neuanfang in der Geschichte gesetzt sein kann. Einige Religionen, einige Dichter haben zu allen Zeiten auf dieses Potential des Kindes gesetzt," hebt der Philosoph Hans Saner in seinem Buch "Geburt und Phantasie" hervor.
In hoffnungsfrohes Grün ist auch die Welt gekleidet, die sich hinter Maria und dem Jesusknaben erstreckt. Auf weichem Gras rasten zwei Wanderer. Auf grüner Flur begibt sich ein Reiter mit Hund und Gefolge auf die Jagd. Dahinter rudern Fischer auf einem breiten Fluss, der vor den Mauern einer Stadt dahinfließt. Und in weiter Ferne verliert sich das Grün einer sanft geschwungenen Bergsilhouette im wolkenlos blauen Horizont.
Wie vertraut sind uns all die Madonna-mit-Kind-Darstellungen, die sich seit der Frührenaissance in einer gewaltigen Bilderproduktion verbreitet haben.Wie selbstverständlich haben sich für uns ebenso die biblischen Prophezeiungen eines Neuanfangs mit der Erzählung von der Geburt eines Kindes verbunden.
Wie aber sieht es aus, verlässt man die Tradition religiöser Heilsgeschichte? Fängt nicht mit der Geburt eines jeden Kindes etwas potentiell Neues an?
Die Lyrikerin Gertrud Kolmar hat 1917 eine Reihe von Gedichten unter dem Titel "Mutter und Kind" versammelt. In einem der Gedichte betrachtet sie das Bild einer Madonna mit Kind – aber sie schreibt am Schluss:
"Ich knie' nicht vor der Himmelskön'gin Thron,
An einem Frauenglück möcht' teil ich haben;
Ich grüß' die Mutter mit dem kleinen Sohn,
Nicht die Madonna mit dem Jesusknaben."
In ein tiefblaues, weites Manteltuch ist die junge Frau gehüllt. Denn Blau ist ihre Farbe, und es ist auch die Farbe der Himmelskönigin Maria als der Mittlerin zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen. So jedenfalls lautet es in den religiösen Schriften. Doch hier im Bild – ganz ohne Nimbus und Strahlenkranz – ist sie schlicht die junge Mutter, die liebevoll ihren Sohn umfasst.
Geburt und Neubeginn
"Ein Kind ist uns geboren", hatte es beim Propheten Jesaja geheißen. Ein Kind, mit dessen Eintritt in die Welt etwas Neues beginnt – wie mit der Geburt eines jeden Menschenkindes. Doch blickt man in die Geschichte der Philosophie, fällt auf, dass dies keinen nennenswerten Niederschlag in der denkerischen Tradition gefunden hat. Es war die Philosophin Hannah Arendt, die als erste darauf hingewiesen hat:
"Merkwürdigerweise hat noch keine Philosophie sich dazu vermocht, den Menschen auf seine Gebürtlichkeit hin anzusprechen, nämlich darauf hin, dass mit jedem von uns ein Anfang in die Welt kam."
Von ihr stammt auch der Begriff der "Gebürtlichkeit" des Menschen oder der "Natalität" im Unterschied zu dem der "Mortalität" oder "Sterblichkeit". Denn es sei uns aus der Philosophie zwar vertraut, den Menschen als ein sterbliches Wesen zu verstehen, nicht jedoch als ein Wesen, das, so Arendt, "kraft seiner Gebürtlichkeit als ein einzigartig Neues in der Welt erschienen" ist.
Mit diesem Gedanken knüpft Hannah Arendt freilich an eine alte Formulierung an. Sie stammt vom Kirchenvater und spätantiken Philosophen Augustinus. In seiner Schrift "Vom Gottesstaat" findet sich die berühmte Wendung: "Initium ergo ut esset, creatus est homo. – Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab."
Wohl gab es vor dem Menschen etwas – nämlich das von Gott geschaffene Gestirn, die Natur, die Pflanzen und die Tiere –, aber erst mit dem Menschen kommt ein Wesen in die Welt, ein Jemand, der selbst Ursprung von Anfängen sein kann. Bildete die Erschaffung der Welt den ersten Anfang – "principium" –, so fängt mit der Erschaffung des Menschen ein zweiter, ein neuer Anfang an – "initium".
Damit, folgt man Augustinus weiter, geht das ursprünglich göttliche Vermögen, Anfänge setzen und anfangen zu können, auf den Menschen über. Auf den Menschen und auf seine Wesensbestimmung, anfänglich zu sein, initiativ werden und Neues in Bewegung setzen zu können. Diese Loslösung von einem ersten göttlichen Ursprung aber besagt, so Hannah Arendt, nichts anderes, "als dass die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt. Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, dass er schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen, immer wie ein Wunder an."
Ein Wunder wie auch für Maria die Geburt ihres Sohnes. Gewiss – seine Geburt war bereits seit Jahrhunderten erwartet und durch Propheten angekündigt worden. Aber jetzt ist dieses Kind da und in der Welt. Quicklebendig sitzt es hier auf ihren Knien. Ein Wunder, ein Anfang, eine Freiheit.
"Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen," heißt es auch beim Philosophen Friedrich Nietzsche. Denn es ist kein Zufall, dass in der Moderne Philosophen und ebenso Dichter die Gestalt des Kindes aufgegriffen haben – als ein Inbild dafür, dass der Mensch unabhängig von Glauben und religiösem Heilsversprechen in aller Freiheit selbst ein Anfang und ein Neubeginnen sein kann.
Von Fernando Pessoa, dem portugiesischen Schriftsteller, stammt ein Gedichtzyklus mit dem Titel "Der Hüter der Herde". In einem der Gedichte schildert Pessoa einen seltsamen Traum: Er sieht, wie Christus aus dem Himmel flieht:
Den Hang eines Berges hinab,
Wieder zum Kind geworden,
Lief und rollte er durchs Gras
Und lachte, dass man es schon von weitem vernahm.
Er war dem Himmel entflohen.
Eines Tages, als Gott gerade schlief
Und der Heilige Geist umherflog,
Lief er zur Truhe mit den Wundern und stahl daraus drei.
Mit dem ersten bewirkte er, dass niemand von seiner Flucht erfuhr –
Mit dem zweiten schuf er sich ewiges Menschensein und wurde zum Kind.
Mit dem dritten schuf er einen ewig gekreuzigten Christus
Und ließ ihn an dem Kreuz hängen, das im Himmel steht.
Heute lebt er bei mir in meinem Dorf.
Es ist eine Flucht zurück in die Welt. Ein Versuch auch, aus einer langen Überlieferungsgeschichte auszuscheren. Ein Ende zu machen mit Schuld und Kreuzestod, um schuldlos neu anzufangen und sich als Mensch "mit jedem Augenblick für die ewige Neuheit der Welt geboren" zu fühlen, wie es bei Fernando Pessoa weiter heißt.
Der Philosoph Hans Saner betont: "Der Mensch ist nie mehr Anfänger als nach der Geburt. Er hat sich zwar seine Herkunft, seine Eltern, sein Leben und die Stunde der Geburt nicht gewählt. Aber in diesem Anfang ist er, obwohl schon geprägt, doch auch ganz offen und als Ganzes noch Möglichkeit."
Mit welch lebhafter Geste der Knabe sein rechtes Händchen an die Brust führt! Kindlicher Eifer hat auch seine Wangen gerötet, und sein Kindermund scheint von Anfangen und Neubeginnen sprechen zu wollen. Aber noch will seine Mutter nichts davon wissen, was er der Welt zu geben hat. Besänftigend hat sie ihre rechte Hand neben seine kleine Faust gelegt.
Als Giovanni Bellini 1516 in Venedig stirbt, hinterlässt er ein Oeuvre, das 36 Madonna-mit-Kind-Darstellungen verzeichnet. 31 weitere Werke desselben Sujets werden ihm zugeschrieben.
Doch lange schon haben diese Bilder, die wir heute in den Museen bewundern, ihre ursprüngliche Bestimmung verloren. Andachtsbilder sind sie für uns längst nicht mehr. Zumindest nicht für alle. Bereits im 19. Jahrhundert hatte der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel für die Kunst konstatiert: "Mögen wir Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr."
Das "Wunder" der Geburt
Spätestens im 20. Jahrhundert haben wir ebenso erfahren, dass sich auch die Erwartung der säkularen Neuzeit auf eine neue und heile Welt diesseits christlicher Heilserwartung mitnichten erfüllt hat. Angesichts dieser 'Heillosigkeit' hat der Schriftsteller Samuel Beckett sarkastisch vermerkt: "Wir fragen immer nur, ob es ein Leben nach dem Tode gebe. Wir sollten fragen: Gibt es ein Leben nach der Geburt?"
Die Philosophin Hannah Arendt teilt diesen Sarkasmus nicht. Der stets drohenden Gefahr heilloser Weltzustände, die sie selbst als deutsche Jüdin hatte erleben müssen, hält sie jenes "Wunder" der Geburt entgegen, "das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet – die Tatsache der Natalität. Das "Wunder", dass überhaupt Menschen geboren werden und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können, kraft ihres Geborenseins."
"Freue dich", hatte damals der Engel zu ihr gesagt. Sie hat es nicht vergessen, obwohl ihr sinnender Blick auf Zukünftiges vorauszueilen scheint. Als mische sich in ihre Freude über den Neugeborenen in ihrem Arm schon der Schmerz über sein grausames Ende. "Es geschehe", aber hatte sie dem Engel geantwortet. Bereit für die Geburt dieses Kindes und für das Wunder eines neuen Anfangs.