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Glaubwürdigkeit Tony Blairs auf dem Prüfstand

Müller: Am Telefon sind wir nun verbunden mit Angus Robertson. Er sitzt für die Scottish National Party im britischen Unterhaus. Herr Robertson, hat Tony Blair die Öffentlichkeit belogen?

    Robertson: Na ja, Tony Blair hat zumindest Riesenprobleme mit seiner Glaubwürdigkeit und mit dem Vertrauen vieler Mitbürger und Mitbürgerinnen in Großbritannien. Herr Blair hat jetzt sehr schwierige Fragen zu beantworten, nicht nur von Oppositionsparteien wie meiner. Dunkle Wolken ziehen in der heimischen Front auf. Die ehemalige Entwicklungsministerin Claire Short, die Blairs Irakpolitik schon während ihrer Amtszeit kritisiert hatte, hat den Herrn Blair zum Rücktritt aufgefordert, bevor alles für ihn noch schlimmer wird. Auch der Labour-Abgeordnete Brian Donohoe meint, wenn im Irak nicht bald Massenvernichtungswaffen gefunden werden, sei Herr Blairs Position unhaltbar. Aus diesen und anderen Gründen fordern jetzt die Oppositionsparteien, die Konservativen, aber auch die Liberaldemokraten und meine Partei, eine besondere richterliche Untersuchung, weil diese schwierige Fragen an Herrn Blair unabhängig untersucht werden müssen.

    Müller: Um da noch einmal nachzuhaken, das heißt, eine systematische, bewusste Lüge von Tony Blair, das unterstellen Sie ihm nicht?

    Robertson: Das unterstelle ich nicht, aber es sind gewiss viele Halbwahrheiten und Behauptungen von der britischen Regierung vor und während des Kriegs und in der Zeit danach aufgestellt worden. Es gibt sehr schwerwiegende Vorwürfe gegen die Regierung. Es wäre nahezu lächerlich, von einem Tag auf den anderen von einer absoluten uneingeschränkten Proklamation der Existenz von Massenvernichtungswaffen auf eine Vermutung von früher oder später zu findenden Waffenprogrammen umzusteigen. Zumindest wäre es nur lächerlich - wenn nicht die erste Behauptung zu einem Krieg geführt hätte.

    Müller: Downing Street hat ja in der vergangenen Woche argumentiert, es gehe in erster Linie darum, den offiziellen Informationen der Regierung zu vertrauen, und nicht etwa irgendwelchen ominösen Quellen, die da die Zeitungen zitieren. Hat Downing Street damit Recht?

    Robertson: Ja, das hört man immer öfter. Das Problem ist nur, dass jetzt auch die Verbündeten in Amerika die britischen Quellen in Frage stellen. Es bestehen zweifellos wichtige Fragen zum Beispiel darüber, ob der Irak sich einst im Niger um atomwaffenfähiges Uran bemüht hat. Gestützt auf bis heute schattenhafte Quellen, hat die britische Regierung diese Behauptung als eine der grundlegenden Rechtfertigungen für den Krieg genutzt. Das ist inzwischen von den Amerikanern kritisiert worden und auch von vielen anderen. Also es sind viele offene Fragen, und es ist umso wichtiger, weil wir Mitglieder unserer Streitkräfte im Irak verloren haben. Es sind Leute in einem Krieg gestorben. Als Vertreter von vielen Tausenden in meinem Wahlkreis stationierten Soldaten ist es durchaus wichtig, dass wir die Wahrheit sicherstellen und dass die Regierung wichtige Fragen beantworten muss. Wir werden ein bisschen später heute in der Fragestunde von Premierminister Blair darüber hören werden. Das wird interessant sein.

    Müller: Wenn wir uns noch einmal in die Zeit vor dem Krieg versetzen, wenn es das Argument der Massenvernichtungswaffen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch aus Ihrer Sicht keine Mehrheit für den Irak-Krieg in Großbritannien gegeben?

    Robertson: Außer Frage. Ich glaube, wenn wir das wüssten, was wir inzwischen gelernt haben, dass viel von Experten überspitzt wurde, glaube ich, dass wenn heute oder morgen es zu einer Abstimmung im Parlament käme, es keine Mehrheit dafür geben würde. Damals haben viele, auch Regierungsmitglieder, Fragen gestellt, und viele Abgeordnete, auch von der Labour-Partei, haben gegen die Regierung und gegen den Krieg gestimmt. Es geht nicht darum, dass viele von uns durchaus kritisch gegenüber dem Regime von Saddam waren, und ich bin überglücklich, dass Saddam Hussein jetzt nicht an der Regierungsspitze im Irak ist, aber es geht um die Rechtfertigung für das Eingreifen im Irak. Es steht außer Frage, dass vor einigen Jahren das Saddam-Hussein-Regime versucht hat, chemische, biologische und atomare Waffen zu entwickeln. Aber standen wir vor einigen Monaten unter direkter Bedrohung durch das irakische Regime? Ich würde das mit Nein beantworten, und ich glaube, wenn es zu einer wiederholten Abstimmung käme, würde es keine Mehrheit für einen Krieg geben.

    Müller: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, in der Konsequenz sind die anderen Argumente für die Intervention, die da auf dem Tisch liegen und auch heute ja noch angeführt werden, sprich einerseits Demokratisierung, andrerseits Befreiung des irakischen Volkes vom Regime Saddams, das sind Argumente, die nicht ausgereicht hätten, dort zu intervenieren?

    Robertson: Sicherlich nicht, weil es geht um internationales Recht. Das sogenannte Regime-Change, also der Versuch, Regime zu wechseln durch militärisches Eingreifen, ist nicht durch internationales Recht gedeckt. Also man kann zum Beispiel eine Liste aufstellen und sagen: Na ja, wir haben Riesenprobleme mit dem Regime in Nordkorea oder anderswo. Es gibt viele Diktatoren auf dieser Erde, von denen sich viele Demokraten wünschen, gleich ob sie auf der linken oder rechten Seite des politischen Spektrums sitzen, diese Diktatoren von der politischen Realität wischen zu können. Aber das ist nicht durch internationales Recht gedeckt. Das ist das Problem, weil wir in Großbritannien in einer ganz anderen Situation im Vergleich mit Amerika sind. In Amerika hat man argumentiert, dass dieses sogenannte Regime-Change ein militärisches Eingreifen begründet, aber bei uns nicht, und bei uns ging es um Massenvernichtungswaffen.

    Müller: Wir hatten kurz vor Ausbruch des Krieges ebenfalls hier miteinander gesprochen, und auch damals hatte Tony Blair ja nun große innenpolitische Schwierigkeiten, die Bevölkerung von der Notwendigkeit des Irak-Krieges zu überzeugen. Er hat auch dort großen innenpolitischen Gegenwind gespürt. Ist jetzt die Situation für ihn noch dramatischer?

    Robertson: Ich glaube, das spitzt sich zu, und von Woche zu Woche werden die Probleme schwieriger. Mittlerweile haben wir hier eine Regierung, die sich tagtäglich in eine Grube von Halbwahrheiten und Fälschungen hineinredet. Der Herr Blair ist damals in 1997 gewählt worden, weil viele Leute ihn für einen sehr glaubwürdigen und vertrauensvollen Politiker gehalten haben. Inzwischen schaut er weniger glaubwürdig aus und weniger Leute haben Vertrauen in ihn, und das wird sicherlich politische Folgen haben.

    Müller: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio