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Gleiche Chancen für alle

Die USA gelten international als vorbildlich bei der Integration von Menschen mit Trisomie 21. Kinder mit Downsyndrom werden in Regelschulen unterrichtet und bekommen Therapien bezahlt. Doch ob das so bleibt, das hängt auch am Wahlausgang im November.

Von Beatrice Uerlings | 20.09.2012
    Donnerstagmorgen in der Kleinstadt Greenwich im US-Bundesstaat Connecticut. Bei den Cevallos geht es drunter und drüber. Während die Eltern sich für den Arbeitstag zurechtmachen, tollen Bruder und Schwesterchen auf den Wohnzimmermöbeln herum. Julie Cevallos ist entzückt. Jede andere Mutter wäre genervt über so viel Chaos. Ihre dreijährige Tochter Nina hat Downsyndrom.

    "Wir sind überglücklich, dass sie so stark ist, denn Downkinder haben weniger Muskelspannung. Nina klettert aber genauso gut wie ihr großer Bruder früher. Das einzige, was ihr Leben von seinem unterscheidet, ist, dass ein paar Mal in der Woche ein Therapeut zu uns kommt, der ihr bei der Sprachentwicklung und Motorik hilft. Das ist wichtig, denn je früher du ein Downkind förderst, desto bessere Chancen hat es später."

    Julie war schwanger mit Nina, als es die neuen Bluttests noch nicht gab. Eine Fruchtwasseruntersuchung wollte sie trotz ihres relativ fortgeschrittenen Alters nicht – zu groß war die Angst vor einer Fehlgeburt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine werdende Mutter über 35 Jahre bei diesem Eingriff ihr Kind verliert, liegt bei 3,5 Prozent. So erfuhr Julie erst nach der Geburt, dass ihr Töchterchen das Downsyndrom hat.

    "Erst einmal war ihr nichts anzumerken, erst tags darauf kam der Kinderarzt und sagte mir, dass Nina ein Downbaby ist. Wir waren geschockt, aber man hat uns sehr dabei geholfen, das schnell zu überwinden. Das Krankenhaus hat uns direkt an eine Organisation vermittelt, die ‘Birth to three’ heißt und sich um all das kümmert, was du bis zum dritten Lebensjahr deines Kindes brauchst. Sie haben dafür gesorgt, dass Nina Therapien bekommt, die der Staat bezahlt, und sie haben Kontakte zu anderen Downfamilien in meiner Wohngegend hergestellt, damit wir uns austauschen können."

    Keine Nation der Welt setzt sich schon so lang und so intensiv für die Förderung und Integration von Menschen mit Behinderungen ein. Bereits 1990 unterzeichnete Präsident George Bush Senior den "Americans with Disabilities Act". Das Gesetz schützt Behinderte vor Diskriminierung, stattet sie mit einem zumindest grundlegenden Sicherheitsnetz aus und sichert ihnen allgemeine Barrierefreiheit zu. Deutschland verabschiedete ein Ähnliches Regelwerk erst 12 Jahre später. Anders als deutsche haben amerikanische Behinderte beispielsweise ein Anrecht darauf, dass ihnen nicht nur öffentliche, sondern auch private Einrichtungen wie Restaurants, Kinos oder Theater angemessene Zugangsmöglichkeiten bieten. Die Bildungschancen sind ebenfalls vorbildlich in den USA, erklärt Cevallos.

    "Kinder mit Downsyndrom können hier auf eine ganz normale Schule gehen. Das ist extrem wichtig für sie, weil sie sehr visuelle Lerner sind. Sie verstehen besser, was sie sehen als was sie hören. Wenn ihre Mitschüler etwas machen, dann ahmen sie es nach. Und das funktioniert prima. Seitdem Menschen mit Downsyndrom in den regulären Unterricht mit einbezogen werden, schaffen sie mehr. Sie machen Uni-Abschlüsse, heiraten, arbeiten und sind auch gesellschaftlich viel integrierter. Meine Tochter wird zu jedem Kindergeburtstag eingeladen, keiner ihrer Klassenkameraden schert sich darum, dass sie ein bisschen anders ist."

    Jedes Jahr kommen in den USA 5.000 Kinder mit Downsyndrom zur Welt. Die Tatsache, dass sie heute gezielt gefördert und versorgt werden, lässt sie auch deutlich länger leben. 1983 lag ihre Lebenserwartung bei gerade einmal 25 Jahren, heute werden sie im Schnitt 60 Jahre alt. Doch auch in den USA gibt es immer noch viel zu tun. Ein großes Problem bleibt der berufliche Werdegang. Nur 18 Prozent der Amerikaner mit Downsyndrom gehen einer bezahlten Tätigkeit nach. Und das hat nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass die Arbeitgeber sie nicht haben wollen, schildert Julie Cevallos die Situation:

    "Das amerikanische Gesetz besagt, dass behinderte Menschen nicht mehr als 2.000 Dollar auf ihrem Konto haben dürfen, um sozialstaatlich abgesichert zu bleiben. Wenn sie also zu viel verdienen oder sparen, dann müssen sie zum Beispiel selber für ihre Gesundheitsversorgung aufkommen. Das ist nicht fair, weil Menschen mit Downsyndrom eine viel intensivere medizinische Betreuung brauchen. Sie sind öfter zuckerkrank, haben mehr Schilddrüsen-, Magen-, oder Darmprobleme und auch Alzheimer ist ein großes Problem. Downmenschen erkranken früher daran als andere, mit 40-50 Jahren."

    Julie Cevallos gehört zu denjenigen, die Dampf machen, statt auf bessere Zeiten zu hoffen. Noch während ihres Mutterschutzes entschied sie sich für einen Karrierewechsel. Sie hängte ihren gut bezahlten Marketingjob bei einem Luxusmode-Label an den Nagel und wechselte zur National Down Syndrome Society. Seit mehr als 30 Jahren gilt diese gemeinnützige Organisation als das landesweit wichtigste Sprachrohr für Amerikaner mit Downsyndrom. Julie und ihre Kollegen machen Lobbyarbeit bei Politikern in Washington, vernetzen lokale Arbeitskreise, organisieren Benefizveranstaltungen und bemühen sich – vor allem in diesen Tagen – darum, Stereotypen zu brechen.

    "Die neuen, pränatalen Bluttests haben eine enorme Kontroverse ausgelöst. Die einen sind dagegen, andere dafür. Unsere Herangehensweise ist, dass wir für einen offeneren Dialog plädieren. Zu viele werdende Eltern haben immer noch die Bilder von früher im Kopf, als Downmenschen als unfähig galten und einfach abgeschrieben wurden. Wir wollen, dass man den werdenden Eltern die neuesten Informationen gibt, damit sie auf dieser Basis ihre Entscheidung treffen können. Leider ist das oft nicht der Fall. Die meisten Ärzte hier raten den betroffenen Frauen zur Abtreibung."

    Denn eines ist in den USA genauso wie in Deutschland. Mehr als 90 Prozent der Schwangeren, die bei einem vorgeburtlichen Test erfahren, dass ihr Baby das Downsyndrom hat, brechen die Schwangerschaft ab. Julie Cevallos will sich dazu nicht äußern, aber sie versteht diese Entscheidungen. Denn so zukunftsweisend die amerikanische Behindertenpolitik in vielen Teilen auch sein mag – nichts ist in Stein gemeißelt. Julies größte Sorge ist, dass Mitt Romney im November die Präsidentschaftswahl gewinnt. Der Republikaner will das staatliche Medicaid Programm, über das sozial Schwache und Behinderte krankenversichert sind, um 40 Prozent kürzen.

    "Unsere Angst ist sehr real, das hat zum einen mit der Wahl zu tun und zum anderen mit der Wirtschaftslage – die öffentlichen Kassen sind leer, überall muss gespart werden. Das amerikanische Gesetz besagt, dass Kinder mit Downsyndrom ins reguläre Schulsystem mit einbezogen werden müssen, und dass der Staat die Unterstützung finanziert, damit sie in der Klasse mitkommen. Aber jeder Therapeut und jede Hilfskraft kostet natürlich Geld – ich frage mich, wie lange das noch aufrecht erhalten werden kann."