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Globale Wirtschaft
Die Rückkehr des Protektionismus

Hillary Clinton und Donald Trump sind erbitterte Konkurrenten. Aber sie haben auch Übereinstimmungen: Beide wollen etwa die US-Wirtschaft schützen. Protektionistische Ideen spielten im Wahlkampf eine große Rolle und sind weltweit im Kommen - mit unabsehbaren Folgen für die globale Wirtschaft.

Von Caspar Dohmen | 08.11.2016
    "Wall Street" ist auf einem Straßenschild vor der Börse (New York Stock Exchange ) im Finanzdistrikt von Manhattan in New York.
    Binnen sechs Jahren hat sich die Zahl von importbeschränkenden Maßnahmen bei den G 20-Staaten fast vervierfacht. (dpa/picture alliance/Daniel Karmann)
    "Because we can't continue to allow China to rape our country and that's what they are doing. It's the greatest theft in the history of the world."
    "Wir können China nicht erlauben unser Land weiter zu vergewaltigen. Das ist der größte Diebstahl in der Geschichte der Welt", wetterte der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump im Mai dieses Jahres. Und auch am Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA, einem Vertrag zwischen den USA, Kanada und Mexiko, ließ er kein gutes Haar im Fernsehduell mit Hillary Clinton:
    "Because NAFTA signed by her husband is perhaps the greatest disaster, trade deal in the history of the world. It stripped us of manufacturing jobs. We lost our jobs. We lost our money. We lost our plants. It is a disaster."
    Nähme man Donald Trump beim Wort, würde er als Präsident hohe Schutzzölle gegen China und Mexiko verhängen und Freihandelsabkommen aufkündigen. Aber auch Hillary Clinton, Trumps Widersacherin, war noch nie eine glühende Verfechterin des Freihandels. Seit ihr einstiger parteiinterner Widersacher – der Sozialist Bernie Sanders – in den Vorwahlen so gut abschnitt, ist ihre Haltung noch skeptischer geworden.
    In der Tat, der Freihandel ist ins Gerede gekommen, und das weltweit. So gab es in Europa ein politisches Erdbeben: Das Brexit-Votum, es war ganz wesentlich motiviert von dem Wunsch, den heimischen Arbeitsmarkt zu schützen.
    "Wir kommen in eine Phase von wachsenden Handelskonflikten"
    In Deutschland wiederum wehren sich Bürger gegen die Einführung neuer Handelsabkommen, ob TTIP oder CETA. Und in den USA - der größten Volkswirtschaft der Welt - spielten Debatten über Protektionismus eine nicht unwesentliche Rolle im Wahlkampf. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der privaten Berenberg Bank mit Sitz in Hamburg, blickt besorgt auf die Zeit nach den Wahlen:
    "Leider ist es in den USA keine Richtungsentscheidung zwischen Freihandel und Protektionismus, da beide politische Lager in den USA in den letzten Jahren deutlich vom Freihandel abgerückt sind. Selbst Frau Clinton, die ja zunächst das Freihandelsabkommen mit Asien selbst befördert hatte, ist mittlerweile gegen dieses Freihandelsabkommen zwischen den USA und Asien."
    "Ich denke wir sind jetzt tatsächlich an einer Wegmarke angelangt," sagt auch Mikko Huotari, beim Berliner Mercator-Institut für Chinastudien zuständig für internationale Beziehungen.
    "Derzeit scheint es eher zu sein, dass wir in der Tat in eine Periode kommen, wo Protektionismus insbesondere der alten, der westlichen Staaten massiv zunehmen wird. Wir kommen in eine Phase von wachsenden Handelskonflikten, wo auch das alte System der WTO wahrscheinlich nicht mehr alle Kräfte zusammenhalten kann, wo wir dann in der Tat in große Schwierigkeiten laufen."
    Zahl der protektionistischen Maßnahmen ist gestiegen
    Über protektionistische Maßnahmen - also den Schutz heimischer Märkte gegenüber ausländischer Konkurrenz beispielsweise durch Zölle, Subventionen oder spezielle Produktnormen - führt die Welthandelsorganisation WTO Buch. Alle halbe Jahre veröffentlicht sie einen Bericht über die Entwicklung in den 20 größten Volkswirtschaften, den G 20. Stormy-Annika Mildner, Leiterin Außenwirtschaft beim Bundesverband der Deutschen Industrie, sagt, die WTO habe…
    "… festgestellt, dass seit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise die Zahl der protektionistischen Maßnahmen immer wieder gestiegen ist. Und das ist bedauerlich, gerade auch wo sich die G20 Länder eigentlich darauf verständigt hatten, keine neuen protektionistischen Maßnahmen vorzunehmen."
    Zwei Gegner der Freihandelsabkommen TTIP und CETA zeigen jeweils eine Hand, auf der ein Aufkleber mit durchgestrichenem TTIP- und Ceta-Schriftzug prangt.
    "Wir kommen in eine Periode, wo Protektionismus insbesondere der alten, der westlichen Staaten massiv zunehmen wird", sagt Mikko Huotari vom Berliner Mercator-Institut. (picture alliance / dpa / Thierry Roge)
    Binnen sechs Jahren hat sich die Zahl entsprechender Import-beschränkender Maßnahmen bei den G 20 fast vervierfacht. Darunter sind jedoch auch diverse finanzielle Hilfen, die im Einzelfall sehr wohl ihre politische Berechtigung haben mögen. Da geht es um Hilfen für Bauern in Argentinien oder für angeschlagene Werften in der EU.
    China wirbt für Freihandel
    Nüchtern urteilt Peter Wahl, Vorstand der Nichtregierungsorganisation Weed sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac:
    "Sowohl Freihandel als auch Protektionismus sind keine Ziele an sich, sondern sie sind jeweils Instrumente, mit denen man in bestimmten Situationen Ziele erreichen kann und sie können beide unter bestimmten Bedingungen legitim sein, auch Freihandel kann durchaus legitim sein."
    Doch die Auseinandersetzungen über Freihandel und Protektionismus verlaufen selten derart sachlich: stets spielen nationale Interessen eine Rolle, den schwarzen Peter schieben sich die Regierungen gegenseitig zu. Mikko Huotari führt China als Beispiel an. Das Land tritt inzwischen regelmäßig als Fürsprecher des Freihandels auf:
    "China selbst positioniert sich jetzt als Verteidiger dieser Ordnung natürlich, weil sie davon profitiert haben und wenden sich jetzt gegen den aufstrebenden Protektionismus weltweit, wobei die Realität schlicht und einfach die ist, das China natürlich selbst auch ein geschlossenes System in vielerlei Hinsicht ist, dementsprechend die Frage ist, wer hier mit dem Finger auf wen zeigen darf."
    US-Erfahrung: Erfolgloser Protektionismus
    Doch welche Folgen hat es, wenn sich ein Land stärker wirtschaftlich abschottet? Dies verspricht ja nicht nur Trump in den USA sondern auch Marine Le Pen in Frankreich für den Fall, dass ihr Front National an die Regierung kommt. Können auf diese Weise neue Jobs und neue Wohlfahrt in einem Land entstehen? Ein amerikanischer Präsident hätte zumindest die notwendigen Befugnisse, Handelsabkommen zu verhindern und zeitweilige Handelshemmnisse einführen zu können, sagt der Volkswirt Schmieding und warnt:
    "Ein Handelskrieg zwischen den großen Wirtschaftsnationen China und Amerika wäre ein Schock für die Welthandelsordnung."
    Die Trump-Pläne erinnern Ökonomen an die Zeit als die USA schon einmal zum Protektionismus umschwenkten. 1930 beschloss die Regierung den Smoot-Hawley-Act, um das Land nach dem tiefen Börsenabsturz vor einem Wirtschaftscrash zu schützen. Sie hob die Zölle von mehr als 20.000 Produkten an. Es kam zu einem Handelskrieg, vor allem mit den anderen früh industrialisierten Ländern wie Großbritannien, Deutschland oder Frankreich. Binnen drei Jahren sanken die globalen Exporte - gemessen am Wert - um 60 Prozent. Der darbenden US-Wirtschaft half der Protektionismus nicht auf die Beine – sie erholte sich erst durch große Staatsausgaben im Rahmen des sogenannten New Deal und infolge des Zweiten Weltkriegs. Letzterer löste eine große Nachfrage nach Rüstungsgütern aus und schaffte damit eine Menge neuer Jobs. An diese Lektion erinnerten sich die Staatenlenker in der Finanzkrise, die mit der Pleite der Lehman-Brother 2007 begann. Holger Schmieding bilanziert:
    "Wir hatten mit der Lehman-Krise die größte Finanzkrise der Welt seit 80 Jahren. Wir hatten zum Glück nach der Lehman-Krise bisher die Fehler der dreißiger Jahre vermieden, die Fehler damals waren eine viel zu restriktive Geldpolitik und ein ausufernder Protektionismus."
    Hillary Clinton und Donald Trump während ihres zweiten TV-Duells am 9. Oktober 2016
    Keine Verfechter des Freihandels: Hillary Clinton und Donald Trump (dpa / picture-alliance / Jim Lo Scalzo)
    Tatsächlich ist Schmieding ein entschiedener Verfechter des Freihandels:
    "Freihandel ist fast immer das richtige Rezept. Meines Erachtens brauchen wir beim Freihandel kein Moratorium."
    Ein Moratorium, wie es der Ökonom Paul Krugman fordert, der für seine Analysen des internationalen Handels immerhin 2008 den Wirtschaftsnobelpreis bekam. Er warnt, man müsse aufpassen, dass die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Wandels die Menschen nicht überfordere.
    Donald Trump: Potentieller Unsicherheitsfaktor
    Schon vor einigen Jahren wies der mittlerweile verstorbene Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Samuelson darauf hin, dass Freihandel keinesfalls immer nutze und löste damit eine Debatte über die Auslagerung von Arbeitsplätzen in den USA aus, wo allein zwischen 1990 und 2011 rund 2,4 Millionen Arbeitsplätze durch Importe aus China verloren gegangen waren.
    "We certainly have Trump, it's unclear what he thinks. Frankly, I have no idea."
    Er habe keine Ahnung, was Donald Trump wirklich denke und vorhabe, sagt Jody Calemine, Chefjustitiar bei der US-Gewerkschaft CWA. In einem Restaurant in Düsseldorf spricht er über falsche Versprechungen und Probleme. So hatte die US-Regierung infolge des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA 170.000 neue Jobs für die USA prognostiziert - binnen zwei Jahren. Tatsächlich aber gingen in den ersten zehn Jahren Jobs verloren, übrigens in allen drei beteiligten Ländern, also in den USA, Kanada und Mexiko. Und Jahr für Jahr verzeichnen die USA ein Handelsdefizit von rund 500 Milliarden Dollar.
    "Wir haben unsere eigene Kritik an Handelsabkommen, die in der Vergangenheit unterzeichnet worden sind, eingeschlossen TPP, das Trans-Pazifische Handelsabkommen. Aber natürlich ist Handel offensichtlich notwendig. Man muss exportieren und die Debatte dreht sich nicht darum, ob es Handel gibt oder nicht. Es geht um die Bedingungen des Warenaustauschs."
    Staatliche Eingriffe als sinnvolle Maßnahme
    Ähnlich argumentiert auch Gustav Horn, Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung und ein Vertreter der keynsianischen Denkschule der Ökonomie, die vor allem auch darauf achtet, wie sich die Nachfrage in einer Volkswirtschaft entwickelt:
    "Es geht bei den derzeitigen Debatten nicht darum, dass man die Grenzen wieder dicht macht, den Welthandel einschränkt. Es geht vielmehr darum, dass man den Welthandel anders gestaltet. Es ist kein unbedingter Freihandel mehr, der als ideales Ziel angesehen wird, sondern es ist ein gestalteter Freihandel, der auf die Interessen der jeweiligen Volkswirtschaften und vor allen die Interessen der Menschen in den Volkswirtschaften stärker Rücksicht nimmt als dies vielleicht in der Vergangenheit der Fall war."
    Nach der klassischen ökonomischen Außenhandelstheorie spricht nichts für Protektionismus. Denn der Handel zwischen zwei Volkswirtschaften lohnt sich sogar dann, wenn eine der beiden Ökonomien alle Produkte absolut günstiger herstellen kann. Das ist der Kern der Theorie der sogenannten komparativen Kostenvorteile, die der britische Ökonom David Ricardo vor dreihundert Jahren beschrieben hat. Er führte die komparativen Kostenvorteile auf eine unterschiedliche Produktivität zurück, verursacht etwa durch unterschiedliche technologische Ausstattung oder verschiedene klimatische Verhältnissen. Allerdings ist sein Modell idealtypisch, so gibt es nur den Produktionsfaktor Arbeit.
    "Nun ist die Realität komplexer als das. Es gibt Transportkosten, die Ricardo nicht kannte, aber das ist ja noch relativ trivial, aber es gibt auch Geldströme, die Ricardo nicht berücksichtigt hat, Wechselkursschwankungen, das ist schon etwas weniger trivial. Und es gibt eben völlig unterschiedliche Entwicklungsstände und da hat nicht zuletzt Paul Samuelson gezeigt oder auch Paul Krugman in seiner neuen Theorie, dass es dann durchaus zu Verdrängungswettbewerben kommen kann, die auch schwerwiegende soziale Folgen haben können."
    Trotzdem dominierte Ricardos Theorie in der ökonomischen Debatte bis in die 1970er-Jahre. Eine neue Sichtweise auf den Außenhandel prägte unter anderem Paul Krugman, indem er unter anderem unterschiedliche Präferenzen von Konsumenten berücksichtigte. Er lieferte auch ein wichtiges ökonomisches Argument für Protektionismus zwischen Industrieländern, und zwar bei Monopolen. Stormy-Annika Mildner vom Bundesverband der Deutschen Industrie:
    "Wenn ein unvollkommener Markt vorliegt, dann soll der Staat, soll die Regierung intervenieren und der Wirtschaft helfen, die eigene Industrie aufzubauen, um so auch Monopolrenten aus dem Ausland auf das eigene Land umzulenken."
    Airbus-Subventionen als Zankapfel
    Monopolrenten entstehen, weil ein Unternehmen als Alleinanbieter unabhängig vom Wettbewerb seine Preise gewinnmaximierend festsetzen kann. Davon profitiert dann das Land in dem das Monopolunternehmen seinen Sitz hat. Krugman schaute insbesondere auf den Luftfahrtsektor:
    "Boeing war zu dem Zeitpunkt weit vorweg. Empfehlung an die europäischen Länder: Airbus aufzubauen und zu subventionieren und auch zu schützen."
    Tatsächlich entschieden sich die Europäer für diese Strategie. Aus einem Quasimonopol wurde ein Duopol, wovon die Käufer – also die Fluggesellschaften und deren Kunden profitieren. Später erkannte Krugman die Schwierigkeiten seiner Politikempfehlung.
    "Weil es nicht so ganz einfach ist, immer dann Subventionen wieder wegzunehmen, wenn eine Industrie tatsächlich wettbewerbsfähig ist oder auch für den Staat tatsächlich den Sektor oder die Industrie auszuwählen, die dann irgendwann mal wettbewerbsfähig ist."
    Bis heute streiten sich die USA und die EU vor der Welthandelsorganisation über Subventionen für Airbus. In den Augen vieler Politiker beschädigt Industriepolitik diesseits und jenseits des Atlantiks den Marktwettbewerb. Und dennoch fördern die Regierungen häufig Spitzentechnologien, direkt oder indirekt. Bestes Beispiel ist Apple. Zwölf wichtige Technologien stecken im iPhone und bei deren Entwicklung hat die US-Regierung eine entscheidende Rolle gespielt.
    Chinesische Arbeiter bauen eine Smart-Watch zusammen.
    China tritt regelmäßig als Fürsprecher des Freihandels auf. (AFP)
    China verfolgt ganz radikal eine strategische Handelspolitik. Mikko Huotari vom Mercator-Institut in Berlin:
    "'China Manufacturing 2025', ein großer Plan mit dem industrielle Vormacht Chinas erreicht werden soll, da soll gleichgezogen werden mit anderen eben entwickelten Industriestaaten. Und da geht es darum, in zehn genau definierten strategischen Bereichen von Biomedizin bis eben zu Hochgeschwindigkeitszügen und Advanced Robotics und ähnlichem international wettbewerbsfähig zu werden."
    Deutschland - einst Protektionismus-Vorreiter
    China setzt auf offene und versteckte Schutzmaßnahmen für heimische Firmen. Dazu zählen Standards, aber auch günstige Finanzierungsmöglichkeiten für heimische Firmen, die derzeit im Ausland Technologiefirmen aufkaufen, gerade auch in Deutschland. So übernahm der chinesische Haushaltsgerätehersteller Midea den Roboterhersteller Kuka aus Augsburg. Noch nicht entschieden ist der Streit um die geplante Übernahme des Aachener Halbleiterherstellers Aixtron durch eine chinesische Firma. Mit welch harten Bandagen China kämpft, haben auch die Amerikaner erfahren. Die US-Giganten Google, Amazon und Facebook konnten ihre globale Marktdominanz auf das Reich der Mitte nicht ausweiten. Dort entstanden eigene Giganten wie der Suchmaschinenbetreiber Baidu oder der Internethändler Alibaba.
    Drastische protektionistische Maßnahmen standen übrigens auch am Anfang der erfolgreichen Industrialisierung von Deutschland und den USA. Beide Länder schützten sich damals vor allem gegen Konkurrenz aus Großbritannien, dem Mutterland der Industrialisierung.
    "Und auch da wurde das Infant Industry Argument in die Praxis umgesetzt und hat dazu beigetragen, sich zu industrialisieren."
    Beschrieben hatte dieses Prinzip, also das "Infant Industry Argument", als erster Friedrich List im 19. Jahrhundert. Der deutsche Ökonom sprach von einem Erziehungszoll. Damit meinte er einen Importzoll, der in bestimmten Fällen erhoben werden sollte, um eine im Aufbau befindliche eigene Industrie zu schützen.
    Freihandel: Günstig zwischen Ländern "auf Augenhöhe"
    Erfolgreich setzten das Instrument im 20. Jahrhundert asiatische Länder ein. Zunächst Japan, dann die asiatischen Tigerstaaten Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong und seit Ende der 1980er-Jahre China sowie heute Vietnam. Wäre deren wirtschaftliche Aufholjagd gegenüber den etablierten Industrieländern in Europa und Nordamerika ohne Schutzmaßnahmen möglich gewesen?
    "Das ist absolut nicht der Fall. Das ist wirklich im Herzen des Entwicklungsmodells, das hier Grenzen geschlossen werden, das bestimmte Produkte gefördert werden, das eben auch dann in diesem geschlossenen System abgeschnitten von internationalem Wettbewerb diese neuen Unternehmen dann florieren können."
    Sagt Huotari vom Mercator-Institut für Chinastudien. Erst wenn eine Industrie wettbewerbsfähig war, entließen diese Staaten sie auf den Weltmarkt. Heute sind ein Großteil der Autos, Schiffe oder Smartphones und vieler anderer Waren "Made in Asia". Volkswirtschaften wie Südkorea oder Japan spielen nun auf Augenhöhe mit Deutschland oder den USA. Freihandel zwischen solchen Ländern ist dann für alle Beteiligten gewöhnlich von Vorteil. Gleiches gilt übrigens meistens, wenn Länder auf einer ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstufe stehen, also auch für den Handel zwischen Entwicklungsländern. Kontraproduktiv ist es dagegen oft, wenn Ökonomien sehr unterschiedlich entwickelt sind. Peter Wahl von der Nichtregierungsorganisation Weed:
    "Man muss sich ja vorstellen, das sind gleiche Wettbewerbsbedingungen für einen Maserati und für einen Eselskarren, die haben jetzt plötzlich die gleichen Bedingungen, keine Zölle, die die Unterschiede ausgleichen, keine administrativen Auflagen um den Eselskarren sozusagen in Schutz zu nehmen vor dem Maserati."
    Reger Handel als Wachstumsmotor
    "Den perfekten Freihandel für alle Länder hat es nie gegeben und gerade am Anfang eines Entwicklungsprozesses ist perfekter Freihandel auch eher schädlich. Das heißt, wir werden gerade Entwicklungsländern immer die Möglichkeit geben müssen, auch sich zu schützen und sich erst aufzubauen, es gibt ja dieses klassische Beispiel mit Afrika, wo wir unsere Hähnchenschenkel, die wir nicht wollen, hin transportieren und damit die heimischen Industrien kaputt machen bzw. gar nicht erst entstehen lassen. Hier wäre ein Zoll absolut gerechtfertigt von Seiten der Entwicklungsländer, damit sie eine Chance haben, im globalen Wettbewerb überhaupt teilzunehmen."
    Diverse Studien belegen: Länder mit viel Handel wachsen schneller. Offen ist jedoch die Frage, ob durch Freihandel der Wohlstand in einem Land steigt oder ob ein Land sich für Freihandel entscheidet, nachdem es wohlhabend geworden war. Die ewige Frage nach Henne und Ei also. Selbst der anerkannte Ökonom und Freihandelsverfechter Jagdish Bhagwati von der Columbia University in New York räumt ein, dass die Kausalität nicht eindeutig geklärt sei.
    "Übrigens gibt es Länder mit vergleichsweise hohen Zöllen, die prosperieren. Jüngstes Beispiel ist Vietnam. Andererseits gibt es Länder, die arm sind wie Haiti, obwohl sie ihre Handelsschranken weitgehend beseitigt haben. Offensichtlich spielen andere Faktoren eine wichtige Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Ganz entscheidend scheinen institutionelle Stabilität und Rechtssicherheit in einem Land zu sein."
    Handelspolitik contra Sozial- und Lohnpolitik?
    Zweifelsohne ist der globale Wohlstand in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Zu den Gewinnern zählen hunderte Millionen Menschen aus Asien, die den Aufstieg in die Mittelschicht schafften.
    Zu den Gewinnern zählen die Konzerne aus den Industrieländern. Laut der Unternehmensberatung McKinsey hat sich der Profit der größten 30.000 Konzerne seit 1989 verfünffacht, nach Abzug von Steuern und Zinsen für Kredite.
    Unter den Verlierern hingegen sind Beschäftigte in Europa und den USA. Viele Amerikaner verloren gut bezahlte Jobs in der Industrie und fanden oft, wenn überhaupt nur schlecht bezahlte im Dienstleistungsgewerbe. Zwei von fünf Amerikanern verdienen heute weniger als 15 Dollar die Stunde. Viele müssen mehrere Jobs machen, um über die Runden zu kommen. Banken-Ökonom Holger Schmieding:
    "In der praktischen Wirtschaftspolitik ist es leider oft vergessen worden, dass zum Freihandel auch gehören muss und soll, dass man den Verlieren des Wandels einen Ausgleich anbietet. Das heißt in der Praxis vor allem, das Bildungssystem muss so gut sein, dass diejenigen, deren Arbeitsplatz entfällt, gute Möglichkeiten haben der Umschulung."
    Bei der Gründung der Welthandelsorganisation in den 1990er-Jahren wollte die damalige US-Regierung soziale Mindeststandards vereinbaren. Dagegen wehrten sich die Entwicklungsländer. Sie wollten nicht auf ihr größtes Pfund verzichten, billige Arbeit, und sprachen von einem Protektionismus der Industrieländer durch die Hintertür. Die Entwicklungsländer setzten sich durch, mit Folgen. Lohn- und Sozialdumping dort wirkten sich auf Beschäftigte in den Industrieländern aus, sagt Ökonom Gustav Horn.
    Mitglieder mehrerer Industrie-Gewerkschaften, besonders der Stahlindustrie, halten am 15.02.2016 in Brüssel ein Plakat  mit dem Text "Stoppt China Dumping" hoch, um gegen die Dumpingpreise chinesischer Produkte im europäischen Markt zu protestieren.
    Im Februar 2016 demonstrierten Arbeiter der Stahlindustrie in Brüssel gegen Billigimporte aus China. (AFP / ERIC LALMAND / Belga / AFP)
    "Wenn wir beispielsweise internationalen Handel nur so verstehen, dass wir Arbeit auslagern, dass wir damit heimische Arbeitnehmer unter Druck setzen, ihre Löhne, ihre Lohnforderungen einschränken und immer damit drohen, dass dann eben in Ländern wie Bangladesch, China etc. produziert wird, dann ist dies ein Welthandel, der von vielen als Bedrohung empfunden wird, und das ist die Debatte gerade, dass wir von dieser Bedrohung wegkommen. Dass wir sagen, alle Seiten sollen etwas davon haben. Das ist gut so. Aber dann müssen wir auch Regelungen treffen, dass solche Bedrohungen wegfallen."
    Aber Handelspolitik könne nicht die Defizite bei Sozial- oder Lohnpolitik aufwiegen, warnt wiederum Peter Wahl von Weed:
    "Weil: Die Handelspolitik wird überfrachtet mit solchen Aufgaben."
    "Good afternoon or rather good morning to New York."
    Thomas Mattusek, Geschäftsführer der Alfred Herrhausen-Gesellschaft und ehemaliger Deutscher Botschafter, diskutiert wenige Tage vor den US-Wahlen via Livestream in der Berliner Dependance der Deutschen Bank mit einer Runde von Wirtschafts-Experten in New York.
    Ein Thema sind die Verlockungen des Protektionismus. Die Beteiligten hoffen auf eine künftige Präsidentin Clinton und eine kluge Handelspolitik. Aber im Falle ihres Sieges müsse Clinton auch liefern. Sie müsse zeigen, dass ihre Regierung die Lebensumstände der Menschen verbessern könne, sagt Karen Donfried, frühere Beraterin für Europa-Angelegenheiten von US-Präsident Barack Obama und heute Leiterin des German Marshall Funds. Sonst dürfte der Druck der Straße steigen, jenseits und diesseits des Atlantiks.