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"Globalisierung darf Menschen nicht erschlagen, sondern soll Türen öffnen"

Elf Tage hat sich Bundespräsident Johannes Rau Zeit genommen für seine Reise durch Lateinamerika. Viele Stationen hat er besucht, zunächst Mexiko, dann Chile, dann Uruguay und zum Schluss seiner Reise ist er zur Zeit in Brasilien, wo er auch heute noch mit den Oberhäuptern der katholischen und evangelisch-lutherischen Kirche Brasiliens zusammentreffen wird.

Moderator: Burkhard Birke |
    Burkhard Birke: Eingangs vielleicht die ein bisschen provozierende Frage: vier Länder in zehn Tagen, bleiben da mehr als nur flüchtige Eindrücke?

    Johannes Rau: Ja, wenn man sich auf die politischen Gespräche konzentriert und die touristischen Angebote im Rahmen hält, was ich versuchte, zu tun. Ich bin bei den Pyramiden gewesen, fand das sehr eindrucksvoll, vor allen Dingen wegen des hohen Anteils deutscher Besucher, aber sonst habe ich mich ganz auf die Gespräche mit den Staatschefs dieser Länder konzentriert, die zum Teil auch Regierungschefs sind. Wenn man weiß, dass eine solche Reise Arbeit und nicht Vergnügen ist, dann kann man doch eine Menge von Eindrücken mitnehmen.

    Birke: Ein Thema, das sich durch all ihre Gespräche wie ein roter Faden gezogen hat, war die Globalisierung. Sie haben mit Nachdruck überall dafür plädiert, diese Globalisierung politisch zivil zu gestalten. Nun haben Sie sehr unterschiedlich Länder besucht, Mexiko und Brasilien mit Armutsraten von bis zu 50 Prozent der Bevölkerung. Was können Sie jetzt der Politik in Deutschland und Europa empfehlen, um die Strukturen hier bei der Armutsbekämpfung zu unterstützen?

    Rau: Das Erste, was ich der deutschen Politik empfehle ist, dass wir uns weniger um uns selber drehen und weniger mit uns selber beschäftigen, sondern wissen, dass in anderen Erdteilen, Asien, Afrika, Lateinamerika, große Erwartungen an die deutsche Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft artikulieret werden und dass hier viele Menschen sind, die sich engagieren, um menschliche Dimensionen in die Politik dieses Milliardenkontinents zu bringen. Ich bin immer wieder traurig, wenn ich in Deutschland feststelle: Wir sind so mit uns selber beschäftigt, dass wir die Sorgen der anderen gar nicht sehen. Meine Frau hat sich hier mit Straßenprojekten beschäftigt bei früheren Reisen und wir wissen, wie wichtig das ist. Wenn Sie bedenken, dass nicht nur die Armutsgrenze zum Beispiel in Argentinien, wo ich jetzt nicht war, bei 56 Prozent liegt, und dann hinzunehmen, dass die Mehrheit dieser Armen unter 18 Jahre ist, dann wissen Sie, welcher Sprengstoff da liegt. Da sind nun wirklich alle aufgefordert, Kirchen, Verbände, Gewerkschaften, Unternehmen, mitzuhelfen durch qualifizierte Ausbildung, Angebote an Arbeit, dafür zu sorgen, dass Globalisierung nicht zu einem Hammer wird, der Menschen erschlägt, sondern zu einem Werkzeug, das Türen öffnet.

    Birke: Finanzminister Hans Eichel muss wohl auch dafür sorgen, dass hier auch die Armut nicht allzu sehr ausufert. In der Zeit von knappen Kassen, ist denn da für Entwicklungshilfe überhaupt Platz?

    Rau: Es gibt seit über 30 Jahren das Ziel, 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe auszugeben. Es gibt in Europa nur ein Land, das das bisher erreicht hat. Deutschland ist unter der Hälfte dieses Betrages, und trotzdem ist es in der Entwicklungshilfe das führende Land innerhalb Europas.

    Birke: Sie plädieren aber dafür, dass Deutschland auch dieses Ziel erreicht?

    Rau: Aber ja. Nur ich hatte gehofft, dass es in kürzeren Fristen zu erreichen wäre, als es offenbar ist, denn es sind ja inzwischen 32 Jahre ins Land gegangen. Es ist nicht meine Sache, zum aktuellen Haushalt Stellung zu nehmen, aber ich bitte darum, die Strukturen nicht zu vernichten, die es in diesen Ländern gibt und die mit Misereor, Adveniat oder Brot für die Welt aufgebaut worden sind, denn deren Arbeit hier zu sehen, macht nicht nur Freude, sondern das ist auch Ermutigung.

    Birke: Die Verteilungsspielräume, auch zur Armutsbekämpfung, werden ja auch durch eine Senkung der Handelbarrieren geschaffen. Was empfehlen Sie da der Politik, runter mit den Agrarsubventionen, damit wir endlich zu einem Abschluss der Welthandelsrunde kommen?

    Rau: Ich hoffe, dass es zu einem Abschluss kommt und dass das Scheitern von Cancún nicht das letzte Wort gewesen ist. Aber natürlich nehme ich nicht Stellung zu den nationalen Entscheidungen, was die Haushalte angeht. Ich glaube allerdings seit vielen Jahren, dass eine Politik, die landwirtschaftliche Produkte fördert, um anschließend ihre Vernichtung zu subventionieren, falsch ist. Die hat es viele Jahre gegeben, sie ist heute nicht mehr aktuell, aber sie hat viel Geld verbraucht.

    Birke: Wie erwartungsvoll blickt ein lateinamerikanischer Präsident nach Europa, um eben hier etwas zu erreichen?

    Rau: Mit sehr großen Hoffnungen und vor allem in der Erwartung, dass wir auf gleicher Augenhöhe miteinander diskutieren, dass wir nicht Herablassung zeigen und uns durchaus bewusst sind, dass wir als Deutsche auch immer Teil des Landes sind, das ich besuche, zum Beispiel hier in Brasilien. Sao Paolo ist nun einmal eine der größten Industriestädte Deutschlands, wenn man so will, auf brasilianischem Boden, und die Wirtschaft hat sich in einem Maße nicht nur internationalisiert, sondern globalisiert, dass ich der Meinung bin, wir müssen aus dem nationalen Denken heraus.

    Birke: Lula da Silva ist eine Art Führungsperson geworden, spätestens, seitdem er auch das Sprachrohr der G21-Gruppe in Cancún geworden ist. Welche Hoffnungen ruhen auf ihm und seinem Land als Mitglied des Mercosur, hier vielleicht auch ein Schritt hin zu einer Einheit oder Union in Südamerika zu gehen?

    Rau: Lula möchte, dass Mercosur eine gesamtlateinamerikanische Veranstaltung wird und nicht mehr ein reines Handelsbündnis oder eine reine Freihandelszone ist, sondern dass es sich in Richtung auf die Europäische Union entwickelt mit ähnlichen Strukturen unter Vermeidung dessen, was es da an Reformbedarf bei der EU zu bewältigen gilt. Er hofft, dass dann Mercosur und Europäische Union gleichberechtigte Partner mit dem gleichen Ziel sind, nämlich mehr Gerechtigkeit, weniger Hunger, weniger Armut, mehr Beschäftigung und auch mehr unternehmerische Aktivität.

    Birke: Gleichberechtigte Partner werden zwei Länder, nämlich Brasilien und die BRD, auch wieder im UN-Sicherheitsrat demnächst sein. Welche Erwartungen ruhen auf Lula und auf der Bundesrepublik, was die Reforminitiative für die Vereinten Nationen angeht. Welche Vorstellungen haben Sie, Präsident Rau?

    Rau: Ich habe die Vorstellung, dass nicht nur der Weltsicherheitsrat in den Strukturen verändert wird, was die Zahl der ständigen Mitglieder angeht, sondern dass vor allen Dingen die Arbeitsteilung zwischen den UNO-Organisationen verändert wird, denn da gibt es Überschneidungen und dann auch Kosten, die nicht zu entstehen brauchten, wenn man die Zuständigkeiten genauer beschriebe und deutlicher abgrenzte. In diesen Punkten waren Lula und ich der gleichen Auffassung.