Mittwoch, 24. April 2024

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Globalisierung im Festivalbetrieb
Zeitgenössische Musik und die nicht-westliche Perspektive

Wieso sollte Musik aus Europa oder den USA in nicht-westlichen Ländern verständlich sein, schließlich klingt auch Musik aus diesen Ländern in unseren Ohren fremd. Kuratoren für zeitgenössische Musik müssen sich in Zeiten der Globalisierung dieser Frage stellen – und Konzepte für Festivals neu denken.

Von Matthias Nöther | 28.09.2020
    Weiß umwickelte Schlägel mit rotem Kern liegen auf den hölzernen Röhren eines Xylofons.
    Zeitgenössische Musiker aus nicht-westlichen Ländern, wie beispielsweise Gamelan-Orchester, wollen raus aus der exotischen Nische (imago / Agefotostock)
    Vor kurzem forderte der deutsch-indische Komponist Sandeep Bhagwati in der Zeitschrift "Van", dass die klassische und zeitgenössische Musik hierzulande ihren Platz in der Welt erst noch finden müsse. Wie bitte? Die selbsterklärte Weltsprache Musik von Haydn bis Boulez und Jörg Widmann soll nirgendwo verstanden werden als in Europa? Eine solche These ist provokant, trifft aber den Nerv einer Zeit, die von Gender- und Rassismusdebatten bestimmt ist. Was also sind die Aspekte der zeitgenössischen Musik, die von uns hierzulande als selbstverständlich wahrgenommen werden, in fernen Ländern aber nicht? Wer das wissen will, kann zum Beispiel die chinesische Komponistin und Multiinstrumentalistin Du Yun fragen.
    "In vielen Jahren der interkulturellen Zusammenarbeit haben viele von uns gemerkt, dass wir einfach mal mit irgendetwas anfangen müssen. Es gibt keine einfache theoretische Antwort, die die Probleme lösen könnte. Man erfährt nur, was die Wahrheit ist, wenn man aktiv im Konzert viele Dinge ausprobiert und sich vorher gemeinsam nur grobe Richtungen überlegt."
    Übergeordnete Ideen von Kuratoren für Konzerte
    Du Yun kennt sowohl die westliche als auch die nicht-westliche Perspektive auf die Neue-Musik-Szene. Sie kennt die Versuche, nicht-westliche Sichtweisen auf Musik wertfrei, gleichberechtigt und unter bestimmten gedanklichen Mottos einzubringen und hält diese Versuche für gescheitert. Außerdem kritisiert sie, dass Kuratoren sich übergeordnete Ideen für Konzerte ausdenken und diese dann von Komponisten umgesetzt werden sollten.
    "Das ist Diktatur. Das kommt aus einem Top-Down-Denken. Man muss die Hierarchie flacher machen und die Künstler da mit einbinden und das Gedankliche dezentralisieren. Wir müssen eher etwas zusammentragen als irgendwelche Ideen umzusetzen. Die Kuratoren dürfen nicht die Torwächter sein, das Kuratieren von Kunst muss ein gemeinsamer Prozess sein."
    Die Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp.
    Ist offen für neue Ideen, sieht aber organisatorische Probleme: Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp (picture allliance / Marcel Kusch)
    Musikalische Zusammenarbeit von Künstlern, die bei Konzerten und Festivals aus verschiedenen Kulturen aufeinanderstoßen, ohne dass es zuvor einen gedanklichen Leitfaden gibt – auch Kuratoren können sich mit solchen Experimenten mit ungewissem Ausgang anfreunden, allerdings sehen sie Probleme in der Organisation für ihre Festivals. Stefanie Carp ist Intendantin der Ruhrtriennale.
    "Die wird sehr lange vorausgeplant und ist relativ unbeweglich. Da könnte man sicherlich so eine Art Pocket machen, wo Freejazz des Kuratierens und des Sich-Entwickelns und sich Veränderns möglich ist. Aber schon allein die Angestellten des Betriebs würden das nicht mitmachen, wenn man das ganze Festival so ausrichten würde. Und die Politik auch nicht."
    Andere Musikkulturen aufwerten
    Weiterhin etablierte Festival-Formate, zum Beispiel Uraufführungsreihen oder Komponisten-Porträts – und abseits eben die Pockets für alles etwas Exotische, das nicht ins lange zuvor ausgedachte Programm passt? Wenn man andere Musikkulturen eigentlich aufwerten will, besteht genau in solchen Pockets das Problem und nicht die Lösung. Der Komponist Sandeep Bhagwati beschreibt das dahinter stehende Bewusstsein bei der Auslese von neuer Musik.
    "Wenn der Kurator denkt, er müsse jetzt mal global sein und divers sein, und dann guckt, mit welchen Figuren mit exotischen Namen oder Frauen – Gender ist ja auch ein Aspekt des Ganzen – man sein Programm garnieren kann, dann ist das natürlich eine sehr konservative Weise. Weil letztlich sagt man: Die Musik, die ich mache, ist eigentlich schon gut, jetzt gucken wir mal: Ich hab zwar von denen noch nie was gehört, die können nicht so gut sein – aber wir nehmen sie jetzt mal rein, weil sie einen schönen Namen haben. Das ist konservativ und faul, und man kümmert sich dann nur darum, dass die eigene Musik so weitergeht, wie man sie kennt. Mit ein bisschen Ornament. Ich glaube, wir sind an einem anderen Punkt. Wir sind an einem Punkt, wo die Art und Weise, wie die eigene Musik gemacht wird, durchaus nur noch eine von vielen Möglichkeiten ist, wie man das machen kann und wie neue Musik entstehen kann."
    Und das heißt: Weniger Fokus auf Uraufführungen aus im Voraus aufgeschriebenen Partituren.
    Die Kunst, sich mit Uraltem auseinanderzusetzen
    Die Musik des usbekischen Komponisten Artyom Kim etwa verschließt sich dem Musikverständnis vieler westlicher Neue-Musik-Festivals, wo sie eventuell zu schnell als Folklore abgetan wird. Sie knüpft aber auf improvisatorische Art an musikalische Traditionen seines Landes an und wird dort als echte Avantgarde hoch geschätzt. Komponistin wie Artyom Kim und auch seine chinesische Kollegin Du Yun kritisieren den Zwang zum vermeintlich Neuen auf westlichen Festivals, und auch den Zwang, möglichst viele Uraufführungen zu bringen. Ihre Kunst sehen sie vor allem darin, sich mit Uraltem auseinanderzusetzen.
    "Das finde ich immer so faszinierend, wenn ich dann chinesische Musikologen lese, die etwas kommentieren, was vor 4.000 Jahren geschrieben wurde. Und da ganz aktiv damit umgehen, als wäre es gestern geschrieben. Eine solche Kultur schaut vielleicht ein bisschen anders auf die Notwendigkeiten und auf Zeitabläufe, die in kulturellen Prozessen stecken."
    Komponierende aus östlichen Kulturkreisen fühlen sich hierzulande oft dem Zwang ausgesetzt, eine Idee für ihre Komposition verbal benennen zu müssen. Wenn sie das nicht machen, wird oft eine Idee an ihre Musik herangetragen. So falsch etwa Komponisten aus dem Nahen Osten dies finden, so sehr haben sie sich in ihr Schicksal gefügt. Das beschreibt Sharif Sehnaoui aus Beirut, der per Videostream zur Konferenz in Berlin zugeschaltet ist.
    "Das ist wirklich ein Klischee, aber: Nein, ich drücke nicht den Krieg in meiner Musik aus. Ich tue es nicht. Das sage ich immer wieder. Meine Musik drückt keinen Krieg aus. Und sie fragen immer wieder: Wir hören den Krieg in deiner Musik. Bestimmt hat der Krieg eine Wirkung auf deine Musik. Und man kann nichts tun, als zu sagen: Nein, nein, nein. Ich hoffe ja, dass es mal aufhört. Aber ich denke, an dem Tag, wo es aufhört, können wir vielleicht sagen: Jetzt endlich kontrolliert der Westen die musikalischen Narrative nicht mehr – vielleicht."
    Das internationale Interesse an einem Ende der westlichen Vorherrschaft in der Szene zeitgenössischer Musik ist offenbar groß. Zahlreiche Komponisten aus fernen Ländern waren zu den Gesprächsrunden in der Akademie der Künste per Videostream zugeschaltet, mehrere hundert Kommentare kamen zusätzlich aus den Weiten des Internets. In der Szene hierzulande ist die Bereitschaft zu spüren, sich mit solcher Kritik auseinanderzusetzen und die Bedürfnisse nicht-europäischer Komponisten zu berücksichtigen. Ob man die eingefahrenen Machtstrukturen deshalb auch schnell durchbrechen kann, ist nicht gesagt.