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Globalisierungsgegner besinnen sich "auf die eigenen Kräfte"

Schossig: Zurzeit findet in der indischen Metropole Bombay das vierte Weltsozialforum statt. In Bombay, wo die Kluft zwischen Arm und Reich stetig wächst. Der Kontrast zum exklusiven Weltwirtschaftsforum im idyllischen Davos, als dessen Gegenkonferenz sicher dieses Weltsozialforum, auch das vierte, steht, könnte kaum größer sein. Das scheint auch gewollt. Die Plattform steht, von Freitag übrigens noch bis zum kommenden Mittwoch, allen offen, die eine andere Welt wollen als die multinationalen Konzerne. Auf der Tagesordnung Strategien gegen Armut in der Dritten Welt, Finanzspekulationen gegen Steuerflucht, Umweltzerstörung, Militarisierung. Man will deutlich machen, dass es eine andere Welt geben könne. Fragt sich natürlich, mit welchen Mitteln und Strategien. Dieter Rucht, Sie sind Soziologe am Wissenschaftszentrum in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische Soziologie, sozialer Wandel, politische Partizipation, soziale Bewegungen, Umweltkonflikte. Wenn man sich an die Proteste zum Beispiel in Seattle oder in Genua, sehr prominent, erinnert, waren sie doch deutlich militanter, sie standen eigentlich, könnte man sagen, ungebrochen noch in der Tradition revolutionärer Rebellion. Dieses Image möchten die NGOs von heute eigentlich lieber loswerden, hat man den Eindruck. Woran liegt das, was hat sich geändert?

    Rucht: Geändert hat sich zunächst einmal die Konstellation. In der Vergangenheit versuchte man diejenigen, die politische Entscheidungen zu treffen hatten, kurz die Reichen, die Mächtigen, direkt zu konfrontieren, vor Ort physisch zu blockieren und dann in den Konflikt zu treten. Jetzt besinnt man sich stärker auf die eigenen Kräfte. Man trifft sich zunächst einmal in den eigenen Reihen, formuliert auch die Parole ‚Eine andere Welt ist möglich’, nicht nur ‚Wir wollen verhindern, was die anderen wollen’. Das ist eigentlich die grundsätzlich geänderte Konstellation.

    Schossig: Also nicht nur gegen-gegen, man will Bündnispartner gewinnen, man will vielleicht sogar mit den Politikern wirklich reden, sie an ihren Versprechen messen. Die 68er verwarfen ja solche Haltungen als, ja, man sagte damals affirmatives System, Immanenz oder dergleichen. Ist das heute eigentlich eher eine Taktik oder ein Strategiewandel?

    Rucht: Ich denke, es ist beides. Also, längerfristig ist natürlich diese Besinnung auf die eigenen Kräfte etwas, was für die Zukunft trägt, was nicht nur jetzt in Feinheiten und Einzelheiten des taktischen Verhaltens besteht, sondern das erst einmal die grundsätzliche Konstellation bezeichnet. Aber ein Stück Taktik ist natürlich insoweit auch vorhanden, als diese Sachen natürlich auch sehr öffentlichkeitswirksam geplant werden. Allein die Wahl des Ortes, Sie haben es eingangs betont, dieser Kontrast könnte nicht größer sein. Davos ist eine sehr elitäre Veranstaltung, die übrigens auch sehr teuer ist. Also, es können sich nicht nur reiche Leute einkaufen, sondern müssen auch überhaupt zugelassen werden, trotz des Geldes, das sie bezahlen. Davos ist also hier ein kleiner elitärer Zirkel und in Bombay haben wir den physischen Kontrast auch, eine Metropole mit 14 Millionen. Jeder kann kommen, jeder kann mitmachen und natürlich wird da kein Eintritt verlangt.

    Schossig: Auch der Dissens, hat man den Eindruck, achtet auf die Bilder. Die haben sich ja sehr geändert seit 1968. Damals grobkörnige Fotos in der Bildzeitung von Rudi Dutschke mit verzerrtem Gesicht. Heute, ja, man kann fasst sagen in Eigenregie veröffentlichte nackte Studentinnen zum Beispiel habe ich gesehen, die sich dann sozusagen den Protest auf den Leib pinseln lassen unter dem Motto nackte Tatsachen. Ist das nun mehr als eine Demo-Spaß-Kultur oder wie sollte man das nennen?

    Rucht: Es steht natürlich durchaus der Ernst der Aktivisten dahinter. Sie haben ja konkrete politische Anliegen, sie wollen in diesem Fall jetzt, wenn es um die aktuellen Studentenproteste geht, vor allen Dingen die Hochschule reformieren und aktuell drohende Kürzungen abwehren. Das ist ja nicht nur eine Spaßangelegenheit, sondern das hat einen sehr soliden und ernsten Hintergrund. Aber der Versuch, dieses in die Öffentlichkeit zu tragen, der fällt im Vergleich zu der 68-Bewegung natürlich sehr viel lockerer, sehr viel entspannter aus. Früher dominierte auch ein Stück Aggressivität, von beiden Seiten übrigens, denn damals wurden die Studenten unter anderem als langhaarige Affen beschimpft. Also, heute haben Sie auf beiden Seiten die Fronten etwas entkrampft. Man kann also lockerer, gelassener auf den Protest, auch von Seiten der Polizei, der Verantwortlichen, die da unter Umständen einmal konfrontiert werden, zur Kenntnis nehmen, und das erleichtert dann auch den Dialog und nimmt die Komponente des Kampfes, der Schlacht ein Stück weg von diesem Geschehen.

    Schossig: Der studentische Protest von heute, man fragt sich, Furcht vor Radikalität oder Verzicht auf das Utopische, denn man betont ja eigentlich relativ klar und pragmatisch, dass es darum geht, die Studienbedingungen einigermaßen komfortabel zu gestalten.

    Rucht: In der Tat, alle weitergreifenden oder weiterreichenden Vorstellungen sind in den Hintergrund getreten. Es gibt natürlich jetzt innerhalb der Studentenschaft natürlich radikale Gruppen, die vielleicht auch weniger dominant als früher auftreten, die auch gelernt haben, dass sie jetzt mit revolutionären Parolen überhaupt nicht landen können. Aber in den Köpfen einiger linksradikaler Gruppen steht natürlich immer noch das Moment, wir müssen dieses System, zuweilen auch als Schweinesystem bezeichnet, entschieden bekämpfen, nur wir müssen uns in der Rhetorik ein bisschen zurücknehmen, sonst werden wir isoliert. Aber das Gros der Studierenden macht dieses nicht mit.

    Schossig: Aber seit 1968 hat sich auch im Staat, in der Gesellschaft viel verändert. Es gab den berühmten Strukturwandel der Öffentlichkeit, den Habermas konstatiert hat. Ist unsere Demokratie, würden Sie sagen, in gewisser Weise so flexibel geworden, dass sie viele Protestformen gerade zu spielend integrieren und damit auch in gewisser Weise unwirksam machen könnte?

    Rucht: Ja, das hat zwei Seiten. Es gibt die positive Seite, dass diese Demokratie, die ja von außen in der Nachkriegsfolge implantiert wurde, zunächst einmal nur in ihrer institutionellen Gestalt bestand, aber sehr wenig getragen wurde durch die Herzen, durch die Überzeugung. Das ist über die Jahrzehnte nachgewachsen, aber die Kehrseite davon ist, jeder kann sagen, was er will, es sind auch viele Protestformen möglich, aber die Wirkungen bleiben natürlich ein Stück weit weg, man rennt gleichsam gegen eine Gummiwand. Das heißt, man dringt ein Stück weit ein, und die Wand, die Gegenseite gibt ein Stück nach, und dann drückt sie dann die Protestierenden wieder zurück und am Ende sind dann fast die gleichen Zustände wie zuvor vorhanden.

    Schossig: Das war ja jetzt im letzten Jahr, als die Proteste gegen den Irakkrieg waren, also wieder ein internationales Thema, was ganz wegführt wieder von den Studentenprotesten, ganz anders. Man hatte ja vorher gesagt, es gibt ein allgemeines Desinteresse der Jugend an der Politik, dann kamen diese großen Demonstrationen, auch in der Bundesrepublik, auch in Deutschland die größten Friedensdemonstrationen in der Geschichte. Muss man das Urteil eigentlich über die junge Generation, die so als Egotaktiker etwas, auf die herab geguckt wurde, revidieren?

    Rucht: Also, man muss sicher die Medienwahrnehmung, die Medienmeinungen über Generationen revidieren. Es gab ja zuvor im Grunde die Haltung oder die Sichtweise auf die Jugend, das ist eine Spaßgeneration, eine entpolitisierte Generation. Das hat so ja nie gestimmt. Es gab ja immer eine Minderheit natürlich von Jugendlichen, die sehr engagiert waren, in der Jugendumweltbewegung, in vielen anderen Bereichen, in der Dritte-Welt-Bewegung. Und das hat man einfach verdrängt bei diesem Bild der unpolitischen Jugend. Und jetzt ist dann das Umgekehrte passiert, man hat plötzlich wiederum eine Minderheit von Jugendlichen, die sehr präsent waren, sehr sichtbar waren in dieser Phase des Irakkrieges, zum Phänomen einer gesamten Generation hochstilisiert und hat vergessen, dass natürlich viele völlig passiv und inaktiv waren und auf dem Konsumtrip waren wie diejenigen zuvor schon.

    Schossig: Also würden Sie nicht einstimmen, wenn man sagt, es gibt jetzt so zusagend eine neue, etwas flappsig gesagt, Generation Golfkrieg?

    Rucht: Nein, ich glaube, in der Substanz hat sich da sehr wenig gewandelt und auch die Proportionen haben sich nicht wirklich verschoben.

    Schossig: Herr Rucht, Sie haben sich am Beispiel der Berliner 1. Mai-Demonstrationen, die ja wirklich etwas Eintöniges und auf die Dauer auch Gespenstisches bekommen haben, Sie haben sich in einer Studie über diese Mai-Demonstrationen in Berlin mit dieser zur rituellen Randale verkommenen Selbstvergewisserung einer in die Jahre gekommenen Protestgeneration beschäftigt. Dies ist aber ja nicht der Standardtyp von Demonstrant, wie er anlässlich eben zum Beispiel des Irakkrieges jetzt wieder auf die Straße ging.

    Rucht: Ja, der 1. Mai in Berlin ist etwas Besonderes, wahrscheinlich weltweit Einmaliges, nämlich dass mit einer hohen Berechenbarkeit zu bestimmten Abendstunden am 1. Mai Gewalt auftritt und gleichsam reflexartig sich Jahr für Jahr abspielt. Das hat im Grunde sehr wenig zu tun mit der Vielzahl von Protesten, die wir an vielen anderen Stellen sehen. Also, beim 1. Mai geht es einer Gruppe von Autonomen oder Post-Autonomen oder Antifaschisten, wie immer sie sich bezeichnen wollen, vor allen Dingen daran, zumindest einmal im Jahr Symbole für Stunden zu demonstrieren, wir sind mit dieser Ordnung nicht einverstanden im Grundsatz, wir wagen auch die Konfrontation mit der Staatsgewalt, wir fordern sie heraus. Das steht nicht im Vordergrund bei der Menge der anderen Proteste, die Tag für Tag stattfinden. Nur zur Erinnerung, allein in Berlin gibt es jährlich etwa 2.300 Protestereignisse und das Gros dieser Ereignisse verläuft völlig unspektakulär und völlig friedlich.

    Schossig: Würden Sie sagen, dass es eine Art von neuer Friedensbewegung heute gibt, vielleicht sogar eine, die sich, ja, in das Internet etwa zurück gezogen hat?

    Rucht: Also, es gab auch bei dem Golfkrieg von 1991 sehr viele Proteste, das ist weitgehend in Vergessenheit geraten, und auch damals waren schon die Jugendlichen, waren insbesondere die Schüler sehr dominant. Heute haben wir natürlich auch das Phänomen, dass technische Mittel, das Internet, dazu gekommen sind, dass die Mobilisierungen beschleunigt, erleichtert und verbilligt werden, aber sie können zunächst einmal den physischen Protest auf der Straße nicht ersetzen. Das heißt, würde man nur über das Internet und im Internet per Mausklick protestieren und demonstrieren, so wäre niemand davon beeindruckt, denn alle wissen, dass das ein zu bequemer Weg ist. Also, es bedarf schon auch der physischen Präsenz, es bedarf häufig auch einer gewissen Opferbereitschaft, damit die Protestierenden beim Publikum Eindruck machen können.

    Schossig: Zum Protest auf der Straße sind Internet und Konferenztisch getreten. Das war der Berliner Soziologe Dieter Rucht über den Wandel des politischen Protestes heute. Vielen Dank nach Berlin.

    Rucht: Bitte schön.