Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Glücksfunde in Göttingen

Eine Diebstahlserie war Anlass für eine Großrevision der Universitätsbibliothek Göttingen. Seit Sommer vergangenen Jahres durchforsten Mitarbeiter mehr als 510.000 Bücher. Nicht nur vermisste Bücher werden so wiedergefunden - einige Schätze werden dabei erstmals überhaupt entdeckt.

Von Susanne Schrammar | 04.04.2011
    Mitarbeiter 1: "TAVPOL IV 8603, 3. Auflage."

    Mitarbeiter 2: "Ja, die habe ich. Da habe ich einen Wasserschaden. Beide eingetragen. Ist in Ordnung."

    Klaus-Ingo Pißowotzki ist umgeben von Büchern: Raumhoch stehen die Regale in dem riesigen Saal des Bibliotheksmagazins in der Göttinger Altstadt. Darin drängen sich dicht an dicht unzählige teilweise in Leder gebundene Lehrbücher aus vier Jahrhunderten. Kostbare, wunderschöne Drucke und Handschriften sind darunter: Erstausgaben, Einzelstücke, einige 400 Jahre alt. Ein Fest für alle Bücherfreunde. Doch Pißowotzki hat für die Kostbarkeiten kaum einen Blick übrig: keine Zeit. Der Bibliotheksmitarbeiter und sein Kollege Martin Liebetruth - einige Meter entfernt am Computer - kontrollieren den historischen Bücherbestand in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Rund eine halbe Million Bücher müssen die Angestellten in die Hand nehmen und abgleichen.

    Pißowotzki: "Der Kollege hat Listen, von dem Bestand, wie er sein müsste und wir prüfen, ob das auch im Regal ist. Wenn wir das Buch schon in die Hand nehmen, prüfen wir auch, ob die Verbuchungsnummer, der sogenannte Barcode drin ist. Wenn ich beispielsweise feststellen würde, dass dieses Buch reparaturbedürftig ist, dann würden wir das auch vermerken. Das machen wir beim Prüfen gleich mit."

    Seit ihrer Gründung 1734 hat die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen systematisch einen Bestand an Forschungsliteratur aufgebaut, der in seiner Vollständigkeit vor allem für das 18. und 19. Jahrhundert als einzigartig gilt. Vergangenen August haben rund 100 Mitarbeiter der SUB mit einer Großrevision begonnen: Sind alle Bücher noch vorhanden, stehen sie am vorgesehen Platz? Anlass für die Überprüfung war eine spektakuläre Diebstahlserie, bei der ein ehemaliger Mitarbeiter wertvolle Exemplare entwendet und verkauft hatte. Da der Dieb inzwischen verstorben ist, gilt das Ausmaß des Schadens als unbekannt. Und eigentlich, sagt Helmut Rohlfing, Leiter der Abteilung Spezialsammlungen und Bestandserhaltung, war eine Großrevision längst nötig. Seit 1945 hatte es in dem historischen Bestand keine gegeben:
    "Wir hatten eine sehr bewegte Zeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs, eben dadurch, dass im Zweiten Weltkrieg die Bücher versteckt werden mussten, damit sie nicht durch Bomben beschädigt wurden. Und dann hat man das alles versucht, wieder hier im Gebäude aufzustellen. Aber als der Bücherbestand immer weiter anwuchs, musste man dann Außenmagazine anmieten. Das heißt, es sind sehr viele Transporte gewesen, die uns einen zusätzlichen, noch wesentlicheren Grund geben, diese Revision durchzuführen."

    Die Überprüfung findet während des laufenden Betriebs statt, die Studierenden müssen im historischen Bestand vorübergehend eingeschränkte Öffnungszeiten und ganze Saalschließungen hinnehmen. Die Mitarbeiter, die in Dreistundenschichten arbeiten, um sich optimal konzentrieren zu können, brauchen für die gründliche Überprüfung Ruhe. Manchmal ist auch echte Detektivarbeit gefragt, sagt Mitarbeiter Martin Liebetruth, wenn Bücher verstellt oder nicht aufzufinden sind:

    "Detektivarbeit heißt: Sie finden beispielsweise einen Band nicht hier im historischen Gebäude und die Kollegen suchen dann in der Zentralbibliothek drüben am Campus und im Glücksfall finden wir diesen Band."

    Echte Glücksfälle erleben die Bibliotheksangestellten fast jede Woche, dann nämlich, wenn sie auf historische Bücher stoßen, bei denen es früher versäumt wurde, sie in den Katalog einzutragen. Rund 100 bisher unbekannte Bestandsbände wurden bereits entdeckt, erzählt Abteilungsleiter Rohlfing. Auf der anderen Seite ist bereits eine stattliche Zahl von Büchern auf der Vermisstliste gelandet:

    "Der Vermisstvermerk setzt uns überhaupt nicht in Panik. Wir wissen, dass wir die allermeisten Vermerke wieder löschen werden, nachdem wir alle Prüfungen durchgemacht haben."
    In einem zweiten Prüfschritt wird Rohlfing mit einem Team nach den bislang vermissten Büchern fahnden. Bis Ende des Jahres soll die Großrevision abgeschlossen sein. Einen Teil der Bücher, fürchtet der Bibliothekar, könnte allerdings verschwunden bleiben. Weil nicht alle Bände über einen elektronischen Barcode verfügen, konnten sie leichter gestohlen werden. Durch die Revision erhalten alle Bücher einen solchen Code, damit, so hofft Rohling, werde sich die Sicherheit für die historisch wertvollen Stücke wesentlich erhöhen.