
Vanya und Pete finden keinen Sinn in ihrem Leben. Mit Partys, Drogen, Sex und Alkohol lehnen sie sich gegen die ungeliebten Eltern auf, ihrer dumpfen Lethargie versuchen die jungen Männer durch Selbstzerstörung zu entkommen: Der eine stürzt sich nackt vom Balkon, der andere trinkt Säure und überlebt knapp.
Mit "Acid", seinem nihilistischen Porträt einer am Abgrund taumelnden Jugend in Russland, wirft Regisseur Alexander Gorchilin einen hoffnungslosen Blick auf Generationenkonflikte und damit auf ein Thema, das den Wettbewerb in Wiesbaden auffallend bestimmte.
Abgrenzung vom Kunstkino
Überwiegend junge Filmschaffende um die 20 präsentierten ihre Arbeiten, die sich schon stilistisch von dem poetischen Kunstkino älterer Meister abgrenzen. Zu ihren Vorbildern zählt der renommierte, bis vor kurzem noch unter Hausarrest stehende Regisseur Kirill Serebrennikow, sagt Festivalleiterin Helen Gerritsen:
"Diese sehr schöne Ästhetik mit sorgfältig ausgeleuchteten Bildern und durchkomponierten Szenen - das ist in diesem Jahr tatsächlich weniger. Jede Geschichte hat natürlich auch ihre eigene Ästhetik, und manchmal passt es einfach sehr gut, da karg zu inszenieren oder sehr minimalistisch zu sein."
Allerdings kreist Gorchilin in seinem Debütfilm ziemlich ratlos um seine Protagonisten. Konkreter offenbarten sich die Konflikte in einer Dokumentation um einen ehemaligen Militär-Veteran und seinen in Lokalen als Stripper auftretenden Enkelsohn. Für Filmemacher Andrei Kutsila aus Belarus resultiert die Auseinandersetzung aus unterschiedlichen politischen Ansprüchen:
"Die ältere Generation wünscht sich eine Regierung, die hart durchgreift. Diese Menschen wollen nicht überdenken, dass Menschenrechte in ehemals kommunistischen Ländern verletzt und Freiheiten eingeschränkt werden und es keine unabhängigen Medien gibt. Noch dazu haben sie Angst vor Veränderungen und befürchten, bei uns in Belarus könnten Zustände eintreten wie in der Ukraine, wo Krieg herrscht. Dagegen begehren die Jungen auf."
Starke Coming-Of-Age-Geschichten

Stärker noch als diese etwas nüchternen, gesellschaftspolitisch ambitionierten Werke berührten in Wiesbaden die Coming-of-Age-Geschichten zweier Frauen. Von der psychisch kranken Mutter, dem ruppigen Vater und der unentwegt redenden, nervtötenden Großmutter stark beansprucht, muss eine Tschechin unter großen Mühen lernen, sich in ihren eigenen Wünschen und Grenzen auszuloten. In dem Roadmovie "Take me somewhere nice" reift eine nach Bosnien gereiste junge Frau aus Holland an der Unzuverlässigkeit ihres Cousins: Der will sie nicht im klapprigen Auto zu ihrem Vater ins Krankenhaus bringen, und so macht sie sich kurzerhand mutig auf eigene Faust auf den Weg.
Spannende Einblicke in die Probleme, Haltungen und Sichtweisen der osteuropäischen Jugend täuschten in Wiesbaden jedoch nicht darüber hinweg, dass gute Geschichten allein keine große Filmkunst hervorbringen. Die meisten um die "Goldene Lilie" für den besten Film konkurrierenden fernsehtauglichen Beiträge bewegten sich eher im Mittelfeld. Vielleicht nicht zufällig kam es in dieser Ausgabe bei der Auswahl der Filme zu heftigen Kontroversen:
"Wir haben sehr lange diskutiert. Aber für mich ist das ein gutes Zeichen. Zwar denkt man in dem Moment als Festivalleiterin: Ich brauche mein Programm, das kann nicht wahr sein, dass wir uns hier nicht einig werden. Aber das ist für die Vitalität eines Festivals sehr wichtig, dass man sich auch mal streitet."
Historienfilm mit Szenen im Kerzenschein

Am Ende überragte der singuläre fiktive Historienfilm "Das Rätsel des Jaan Niemand" von Kaur Kokk aus Estland um einen vermeintlichen deutsch-baltischen Arzt, der sich selbst fremd ist und noch nicht einmal an seinen Namen erinnern kann, den Wettbewerb. Mit faszinierenden Kamera-Aufnahmen von nächtlichen, mystischen Szenen im Kerzenschein und langsamen Einstellungen, wie sie die alten Meister des osteuropäischen Kinos bevorzugten, ließ er keinen Zweifel darüber aufkommen, dass großes Kino eben doch zeitlos ist.