Donnerstag, 02. Mai 2024

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Goethe und seine Opfer. Eine Schmähschrift

In diesem Jahr bewegt nicht nur der 50. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland die Druckmaschinen, sondern, nach Kästners Hundertstem, vor allem der 250. Geburtstag von Deutschlands Größtem: Johann Wolfgang von Goethes Ruhm überwölbt alles und alle. Er ist der Inbegriff deutscher Kultur, deshalb tragen die ausländischen deutschen Kulturinstitute seinen Namen. Viele seiner nachgeborenen Schriftstellerkollegen haben ihn imitiert; nicht nur in Vers und Prosa, sondern vor allem im Habit, in ihrer stilisierenden Imitation seines gelebten Dichtertums: in diesem Jahrhundert gewiß Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und zuletzt Ernst Jünger.

01.01.1980
    Thomas Mann hat dem "Dichterfürsten" mit seiner "Lotte in Weimar' ein ironisches Denkmal gesetzt und auch selbst ein wenig beobachtet. Er läßt Lotte am Ende ihres Besuchs beim alten Goethe bilanzieren: "So sehr wohl und behaglich war mir's nicht eben in deiner Wirklichkeit, in deinem Kunsthaus und Lebenskreis, es war eher eine Beklemmung, eine Apprehension damit, das laß mich gestehen, denn allzusehr riecht es nach Opfer in deiner Nähe."

    Aber nicht nach "Weihrauch" rieche es, fährt Lotte fort, sondern nach "Menschenopfern (..) sieht's leider aus in deinem Umkreis es ist ja beinah wie ein Schlachteld und wie in eines bösen Kaisers Reich. (..) Ach, es ist wundervoll, ein Opfer zu bringen, jedoch ein bittres Los, ein Opfer sein!"

    Was 'Ihomas Mann Lotte erkennen läßt, daß nämlich all diese Opfer Goethes nichts anderes seien als Opfer seiner Größe, das haben schon andere artikuliert. So nannte Jean Paul Goethe den "Montblanc unserer Literatur - keinen frostigeren Gesellen gibt es auf Gottes Erdboden." Und von Friedrich Nicolai ist der Satz über Goethe überliefert: "Der Kerl ist ein Genie, aber das Genie ist ein schlechter Nachbar."

    Es verwundert deshalb nicht sonderlich, wenn zum 250. Geburtstag dieses Genies nicht nur seine Größe gefeiert wird, sondern auch die Schatten zur Sprache kommen, die solche Größe wirft. Einer, der mit literarischer Leichenfledderei unrühmlich beknnt wurde und das polemische Fleddem auch an noch lebenden Figuren des Literaturbetriebs gern erprobt, hat, herb und bildlich gesprochen: die Leichen, die da im Keller am Weimarer Frauenplan vergraben sind, ausgegraben und seziert - Tilman Jens führt in einer flotten Schrift "Goethe und seine Opfer" vor. Die Strecke dieser Opfer - Goethe wurde bekanntlich 82 Jahre alt - ist lang.

    Auf dieser Strecke blieben bereits zu Beginn seiner Karriere in Weimar einige alte Freunde - Weimar, das war sein Revier, da wurde jegliche Konkurrenz vehement weggebissen: zum Beispiel Jakob Michael Reinhold Lenz, der dem aufstrebenden Minister in Weimar nicht mehr gut genug war für seine vornehme neue Entourage; oder Maximilian Klinger, einst sein mitstürmender und drängender Bruder im revolutionären Geiste, der nun auch nicht mehr ins höfische Bild paßte; oder Johann Heinrich Merck, der ihn schon früh finanziell über Wasser gehalten hatte und für den er, als Merck später selbst in Not geriet und einiger Zuwendung bedurfte, keinen Taler übrig hatte. Und nicht mal ein Wort mehr. Goethe hat auf sie gesetzt, solange sie seinem Treiben und seinen Geschäften nützlich waren. Dann hat er sie vergessen, verdrängt. Die Formel solchen lebenslangen Verhaltens hat er dem Kanzler Fridrich von Müller am 6. Dezember 1825 anvertraut:

    "Die Geschäfte müssen abstrakt, nicht menschlich mit Neigung oder Abneigung, Leidenschaft, Gunst(..) behandelt werden, dann setzt man mehr und schneller durch. Lakonisch, imperativ, prägnant. Auch keine Rekriminationen (Gegenbeschuldigungen), keine Vorwürfe über Vergangnes, nun doch nicht zu Änderndes. Jeder Tag bestehe für sich; wie könnte man leben, wenn man nicht jeden Abend sich und andern ein Absolutorium erteilte."

    Nach diesem Muster hat er alle seine dienstbaren Geister behandelt: von der Köchin Charlotte Hoyer aber die Diener Johann David Eisfeld, Philipp Friedrich Seidel, Carl Christian John und Carl Wilhelm Stadelmann bis hin zu, natürlich, Eckermann, dessen Beziehung zu Goethe Tilman Jens so beschreibt:

    "Keinen zweiten hat Goethe so beharrlich ausgenommen wie Johann Peter Eckermann. So konsequent abgerichtet. Er weiß: Dieser Mann aus ärmlichen Verhdltnissen wird aufschauen zu ihm, dem Staatsdichter. DerMann kam wie gerufen. Er braucht schließlich eine Hilfskraft, die seine Werke letzter Hand durchsieht. Verlager Cotta wird nach langer Verhandlung das Werk mit über 100 000 Taler entlohnen. Goethe weiß nun seinen Marktwert. Dem Assistenten aber will er keinen Groschen zahlen. Der ist doch zufrieden, wenn er dann und wann an des Dichterfürsten Tafel sitzen darf. "Bei Tische teilt er manches mit mir, und gibt mir von seinem Teller", juchzt Eckermann 1824 in einem Brief an seine Verlobte Johanna Bertram. Wer so schreibt, ist ein ideales Opfer. Der läßt sich schinden. Skrupel kennt Goethe nicht. Schon 1805 hat er im Rahmen seiner Mittwochsgesellschaft einen, so Henriette von Knebel, "hübschen Vortrag " über die " Elastizität der Moral " gehalten. - Goethe handelte mit System."

    Aber auch Familie und Verwandtschaft waren eingespannt in das ,System Goethe': Die Schwester Cornelia hat er tyrannisiert, bis sie ihm in eine kurze unglückliche Ehe entrann-. Was er ihr nie verzieh: noch in "Dichtung und Wahrheit" hat er es ihr heimgezahlt mit bösen Worten über ihre angebliche Häßlichkeit. Den Sohn August Walter hat er sich als Werkzeug seiner Interessen zugerichtet und ihm mit Ottilie eine Schwiegertochter verpaßt, die nach Christianes und Augusts Tod sein Haus versorgte. Selbst Christiane, die er nach achtzehnjährigem, zuerst leidenschaftlichem, dann immerhin noch liebevollem Konkubinat heiratete, wurde nach der Hochzeit ausschließlich zur bloßen Verwalterin seiner häuslichen Geschäfte, während er sich jüngeren Damen zuwandte; und als sie auf dem Tod lag und starb, wachte er weder an ihrem Krankenbett noch begleitete er ihren Sarg zum Grabe. Aber auch die vier Kinder, die Christiane ihm nach August noch geboren hat und die alle kaum einige Tage alt wurden, finden im gesamten Werk keine Erwähnung - Goethe floh die Erscheinung des Todes, wo immer er konnte. Sich selbst hat er kaum zu überwinden vermocht, um anderen zu dienen.

    So pflegte er auch zu den Kollegen wie Wieland und Schiller bloß diplomatische Freundschaften. Herders unabhängigen Geist hat er im Dienste des Herzogs gebrochen. Mit jungen Autoren wie Hölderlin und Kleist ging er distanziert, ja verächtlich um. Er verstand die neuen Töne nicht - die Schmonzetten eines Kotzebue waren ihm lieber, denn sie konnten ihm nicht gefährlich werden.

    Es war aber nicht nur die mißliebige Konkurrenz, die er vom Weiman'schen Hofe fernhalten und sich deshalb vom Halse schaffen wollte. Es waren auch die Töne einer neuen Zeit, die ihm unheimlich war, die er nicht mochte. Und schon gar nicht jene revolutionären Klänge, die nach 1789 aus Paris herüberschallten. Sie infizierten nicht nur die Intellektuellen, die in Weimar lebten, sondern auch die Professorenschaft in Jena, und deren Studenten. Was wiederum eine ganze Maschinerie an Spitzelei und Repression in Gang setzte, an denen auch der Dichterfürst Goethe als Mitglied des Geheimen Consillums nicht unmaßgeblich beteiligt war - Er hat sie sogar ziemlich rabiat betrieben, worunter namentlich einige Jenaer Professoren zu leiden hatten. Zum Beispiel der junge Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der 1799 von Jenas Universität verbannt wurde und nach Berlin ging, freilich erst nachdem er sich den revolutionären und demokratischen Schneid hatte abkaufen lassen. Oder der Jurist Gottlieb Hufeland, der schon deshalb unliebsam auffiel, weil er eine Vorlesung über die neue französische Verfassung hielt, dann aber, eingeschüchtert, sich dem "Wunsch" des Herzogs fügte und nun selbst zum Verteidiger der Zensur wurde. Ähnlich erging es dem Philosophen und Theologen Carl Christian Ehrhard Schmid und dem Mediziner Christian Gottfried Gruner, die als politisch freidenkende Professoren nach Jerm berufen den, um der Universität einen liberalen Anstrich zu geben, denen dann aber untersagt wurde, politische Themen öffentlich zu artikulieren.

    Schon vor einigen Jahren hat sich der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson im beschriebenen Sinne kritisch über die Intellektuellen und die Macht im klassischen Weimar, und insbesondere über Goethes Wirken als Geheimer Rat, geäußet. In seinem jüngst erschienenen Buch "Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar" nun belegt er auf vielen Feldern seine damalige Behauptung: Das durch die Goetheforschung geisternde Urteil, der politische und soziale Geist im klassischen Wei sei liberal gewesen, ist falsch, beruht auf Legendenbildung. Tatsache ist:

    "Die Intellektuellen erkauften (mäßige) wirtschaftliche und soziale Reformen durch die Preisgabe politischer Freiheit - ein Modell, das sich bis in unser Jahrhundert verheerend ausgewirkt hat. ( .. ) Und gerade die normative Dichterfigur Goethe schützt das Tabu um den absolutistischen Staat.- Da er an der Herrschaft teilnimmt, möchten die Forscher nicht so genau nach möglicher Opposition gegen diese Herrschaft fragen."

    Diese, wenn man so will, späte Oppositon kommt nun, zum 250. Geburtstag Goethes und zum 50. Geburtstag des neuen, wieder gesamten deutschen Staates, in Tilman Jens' polemischem Buch überaus zeitgemäß zu Wort: als Erinnerung einer sehr deutschen Ambivalenz.

    "Frankfurt am Main, 28. August 1945, das Klassikers erstem Nachkriegsgeburtstag. Ernst Beutler, Direktor des Freien Deutschen Hochstifts, erklärt in festlich-zeitentrückter Rede, Goethe zeuge" von dem Edelsten und schönsten, dessen deutscher Geistfahig gewesen ist". Das war in beklommender Weise zutreffend, wenn auch anders als vom Fastredner intendiert. Deutsche Geister hatten die Welt in Schutt und Asche gelegt, eine ganze Kultur nahezu ausgerottet. Der Schrecken war an Goethes Ehrentag gerade einmal vier Monate vorüber, doch schon wurden überall kleine Schlußstriche gezogen. Wohin man auch schaute: leuchtend weiße Westen. Nirgendwo Täter, nur hier und dort ein paar verirrte Mitläufer.

    Was hatte Goethe noch 120 Jahre zuvor gesagt? "Keine Vorwürfe über Vergangenes, nun doch nicht zu Änderndes. Jeder Tag bestehe für sich; wie könnte man leben, wann man nicht jeden Abend sich und anderen ein Absolutorium erteilte?"