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Golfkrise 1990
Willy Brandts Coup in Bagdad

Hunderte ausländische, darunter deutsche Geiseln wurden 1990 nach dem irakischen Überfall auf Kuwait als menschliche Schutzschilde im Irak festgehalten. Am 5. November 1990 brach Ex-Kanzler Willy Brandt nach Bagdad auf, um mit Diktator Saddam Hussein über ihre Freilassung zu verhandeln.

Von Wolfgang Stenke | 05.11.2020
    Willy Brandt bei Saddam Hussein in Bagdad 1990
    Willy Brandt bei Saddam Hussein in Bagdad 1990 (A2800_epa)
    "Der Frankfurter Flughafen stand heute für zwei Stunden ganz im Zeichen der Fototermine in Sachen Irakgeiseln. In der Tat hatte sich das Beladen der Maschine verzögert, mit der Willy Brandt in den Irak fliegen wird. Es sind Medikamente und Kindernahrung- diese Hilfsgüter fallen nicht unter das von der UNO gegen den Irak verhängte Handelsembargo", so berichten es die TV-Nachrichten 5. November 1990.
    Brandt als Idealbesetzung
    Der Lufthansa-Airbus namens "Nördlingen", der auf dem Rhein-Main-Flughafen in Richtung Bagdad abhob, startete in einer hochpolitischen Mission. Er transportierte nicht nur Hilfsgüter für die irakische Bevölkerung. An Bord der Sondermaschine war auch Willy Brandt, Friedensnobelpreisträger, ehemaliger Bundeskanzler, Ehrenvorsitzender der SPD und Chef der Sozialistischen Internationale. Ihn begleiteten die Hoffnungen vieler Frauen, deren Männer nach dem irakischen Überfall auf Kuwait im Machtbereich von Saddam Hussein festgehalten wurden: meist Techniker, Repräsentanten deutscher und internationaler Firmen, medizinisches Personal. Brandt wollte mit dem irakischen Diktator über die Freilassung der Geiseln verhandeln.
    Zitate von Angehörigen: "Ich setzte also sehr viel in ihn als Persönlichkeit, und ich glaube also, dass er das schon erreichen wird". – "Wollen wir nicht hoffen, dass es zu spät kommt. Wir denken ja doch, dass wir in dieser Woche unsere Männer zu Haus haben werden." – "Ich hoffe, dass auch die in Kuwait nicht vergessen werden, denn mein Mann ist ja immer noch in Kuwait.
    Saddam Hussein (r.), irakischer Diktator in einer Kampfpose vor dem Golf-Krieg 1990
    Zweiter Golfkrieg - Saddams Blitzkrieg
    Der Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait lähmte die Arabische Liga und Europa. Einzig die USA handelten – allerdings auch aus politischem Kalkül. Heute ist Kuwait befreit, Hussein verurteilt und erhängt worden. Doch die Folgen des Zweiten Golfkriegs sind bis heute spürbar: bei der Muslimfeindlichkeit nach 9/11 und dem Vormarsch des terroristischen IS.
    Laute Kriegstrommeln über dem Golf
    1990 war die Lage in der Golfregion hochexplosiv. Nach dem Einmarsch irakischer Truppen in das benachbarte Kuwait – die beiden Länder stritten um Ölfelder in der Grenzregion – bereiteten die USA einen Angriff auf die Invasoren vor. Die Vereinten Nationen verhängten Sanktionen über das Regime von Saddam Hussein. Der Diktator, der im Inland aufständische Kurden mit Giftgas bekämpft und gegen die iranischen Nachbarn Krieg geführt hatte, setzte hunderte von Ausländern als Geiseln fest und postierte einige als lebende Schutzschilde an strategisch wichtigen Punkten. Frankreich und Österreich schafften es, ihre Bürger heimzuholen. Die Bundesregierung unter CDU-Kanzler Kohl blieb zunächst passiv, sie wollte den Bündnispartner USA nicht verärgern. In dieser Situation eröffnete die irakische Einladung an den international renommierten Ex-Kanzler Brandt einen Ausweg. Angehörige der Geiseln, die zuvor heftig gegen die Untätigkeit der Bundesregierung protestiert hatten, waren am Flughafen, als Brandt losflog und dankten Brandt, "dass Sie als Einziger den Mut hatten."
    Teilerfolg auf dem "Geiselbasar von Bagdad"?
    Im "Geiselbasar von Bagdad", wie damals das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" schrieb, verhandelte Willy Brandt mit Saddam Hussein und dem irakischen Außenminister. Seine Idee, analog zur "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" eine vergleichbare Institution im Mittleren Osten zu etablieren, stieß bei den Irakern nicht auf Gegenliebe. Doch immerhin gelang es Brandt, dem Diktator die Freilassung von Geiseln aus Deutschland und anderen Nationen abzuringen. Am 9. November 1990 kehrte er zurück nach Frankfurt. Mit ihm saß auch ein belgischer Staatsbürger in der Sondermaschine.
    "Ich war in Bagdad. Ich weiß nicht, was gesagt wird in Belgien, aber ich sage doch, dass Brandt der einzige Europäer ist bis heute, das Leute von ganz Europa rausgenommen hat. Und das können wir nicht sagen von unsere Regierung – hat selbst die eigenen Leute nicht versucht rauszukriegen."
    Mit einem Schild "Danke Herr Brandt" drücken Angehörige der Geiseln, die Willy Brandt (auf der Treppe) aus Irak nach Frankfurt gebracht hatte, ihre Dankbarkeit aus.
    Willy Brandt mit von ihm freiverhandelten Irak-Geiseln nach der Landung in Frankfurt 1990 (dpa)
    Kohl-Regierung beargwöhnte die Mission
    175 Geiseln aus elf Ländern landeten damals mit Willy Brandt auf dem Rhein-Main-Flughafen. Später ließ der Irak weitere Gefangene frei. In der Bundesrepublik, die kurz vor den ersten gesamtdeutschen Wahlen stand, hatten CDU-Kanzler Helmut Kohl und seine Regierung zunächst Bedenken gegen Brandts Irak-Mission geäußert. Kohl fürchtete Verwicklungen mit den USA und wohl auch die immer noch große Popularität des alten Sozialdemokraten. Auch aus Brüssel kamen kritische Stimmen. Dazu Brandts Kommentar nach der Rückkehr aus Bagdad: "Ich hab’ keine Zeit gehabt, solchen Quatsch zu lesen."
    Explosion eines irakischen Bunkers während des Zweiten Golfkriegs 1991.
    Golfkrieg 1991 - "Die Mutter aller Schlachten"
    Es war ein Schock für die USA und die Folgen sind bis heute spürbar: Vor 25 Jahren begann mit dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait der Zweite Golfkrieg. Die USA reagierten mit dem Aufmarsch amerikanischer Einheiten – die allerdings nicht nur zu Befreiung Kuwaits anrückten.
    Mit der Bombardierung Bagdads begann im Januar 1991 der Zweite Golfkrieg. Die umfassende Friedensmission, die Willy Brandt bei seiner Reise in den Irak im Sinn hatte, war damit gescheitert. Doch den Geiseln verhalf sein solidarischer Einsatz zur Freiheit.