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"Good Night Stories for Rebel Girls 2"
Nicht nur für Mädchen, bitte!

Wie im ersten Band erzählen Elena Favilli und Francesca Cavallo die Lebensgeschichten von 100 herausragenden Frauen - Politikerinnen, Aktivistinnen, Künstlerinnen, Sportlerinnen und Wissenschaftlerinnen. Feministische Gute-Nacht-Geschichten sind nach wie vor nötig – allerdings nicht nur für Mädchen.

Von Miriam Zeh | 30.03.2019
Buchcover: Francesca Cavallo, Elena Favilli: “Good Night Stories for Rebel Girls 2. Mehr außergewöhnliche Frauen“
Heroinen-Sammlung, in der die Stimmen aller Kontinente vertreten sind (Hanser Verlag)
Märchen können mitunter recht heteronormativ daherkommen. Da schreitet der tapfere Prinz zur Rettung des schönen, aber hilflosen Mädchens. Auch ein Blick in die Kinderbuchabteilung überregionaler Buchhandelsketten verrät, dass die dort feilgebotenen, vermeintlich wertvollen Publikationen, noch immer reihenweise in die rosa-hellblau-Falle tappen. Den Mädchen glitzern Titel über Familie, Freundschaft und Fürsorge entgegen, während Jungen sich mit altersgerechten Sachbüchern in die abenteuerliche Welt der Wissenschaft und Technik hinauswagen dürfen.
Derart antiquierten Geschlechterverhältnissen wollen viele junge, engagierte Eltern ihre Kinder nun nicht länger aussetzen. Bereits 2017 wurde über eine Million Dollar für eine Crowdfunding-Kampagne gespendet, mit der Francesca Cavallo und Elena Favilli ein Buch mit feministischen Gute-Nacht-Geschichten finanzierten. "Good Night Stories for Rebel Girls" wurde das Buchprojekt mit dem höchsten Unterstützungsbetrag in der Geschichte des Crowdfunding und ein internationaler Verkaufserfolg.
Für den zweiten Band dieser Reihe hielten die Herausgeberinnen daher am bewährten Konzept fest. Abermals 100 Kurzportraits über herausragende Politikerinnen, Aktivistinnen, Künstlerinnen, Sportlerinnen und Wissenschaftlerinnen der Weltgeschichte sind darin versammelt. Sie sollen Mädchen Mut machen, ihnen als Vorbild und Inspiration dienen.
Ein Flächenbrand, der Gutes tut
Anders als im ersten Band der "Good Night Stories" durften Käufer- und Leserschaft die Fortsetzung jedoch nicht nur mitfinanzieren, sondern auch mitbestimmen. Ganz dem selbstermächtigenden Impetus entsprechend, beruht die Auswahl an Heldinnen auf eingesandten Vorschlägen, wie Cavallo und Favilli in ihrem Vorwort beschreiben:
"Vor einem Jahr haben wir in unserer kleinen Wohnung in Los Angeles ein kleines Feuer angefacht, ein Feuer, an dem wir uns versammeln konnten, um einander eine neue Art von Geschichten zu erzählen. Ihr seid dazugekommen, habt eure Freundinnen eingeladen und Feuerholz mitgebracht. Ihr wolltet zuhören, aber ihr wolltet auch selbst sprechen. Das Feuer wurde größer und auch die Familie. Davon handelt dieser zweite Band."
Mit "Good Night Stories for Rebel Girls 2" ist so eine weitere überaus beachtliche Heroinen-Sammlung entstanden, die sich besonders durch ihre Diversität auszeichnet. Von der mongolischen Adlerjägerin Aisholpan Nurgaiv bis zur nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie, von der iranischen Mathematikerin Maryam Mirzakhani bis zur litauischen Thereministin Clara Rockmore sind Expertinnen aller gesellschaftlichen Bereiche und Bewohnerinnen aller Kontinente vertreten. Auch die unterschiedlichen Jahrhunderte und Altersstufen tauchen auf. So ist die älteste Portraitierte, die griechische Dichterin Sappho, etwa 610 v. Chr. geboren. Die jüngste dagegen, die japanische Skateboarderin Sky Brown, feiert in diesem Jahr ihren elften Geburtstag.
Ich bin mein eigenes Kunstwerk
In knappen Portraits fokussieren die "Good Night Stories" häufig kleine biographische Anekdoten aus dem Leben der Protagonistin und erschaffen eine jeweils runde Kurzerzählung. Oft gelingt es den Autorinnen, die gesellschaftliche Relevanz der Vorreiterinnen zu betonen, und gleichzeitig vorlesbare Gute-Nacht-Geschichten von nahbaren Frauenfiguren zu erzählen.
So heißt es etwa über die als "Sängerin, Texterin und Geschäftsfrau" ausgewiesene US-Amerikanerin Madonna: "Damals war es noch ungewöhnlich, dass Künstlerinnen ihren Weg selbst bestimmen wollten. Meist trafen Männer alle wichtigen Entscheidungen für sie – Manager, Produzenten, Agenten. Doch das wollte Madonna nicht. ‚Ich bin mein eigenes Experiment‘, erklärte sie, ‚mein eigenes Kunstwerk.‘"
Auch Märchenelemente lassen sich wiedererkennen. So beginnt etwa die Doppelseite zur italienischen Partisanin Claudia Ruggerini mit der berühmten Formel: "Es war einmal ein junges Mädchen, das musste seinen Namen ändern. "Ciao, Marisa", riefen ihre Freunde ihr zu. Niemand wusste, dass sie in Wirklichkeit Claudia hieß. Das wäre zu gefährlich gewesen."
Wer war Mussolini?
Überzeugend und altersgerecht wurde die deutsche Übertragung von Birgitt Kollmann besorgt. Auch sie kann allerdings nicht ausgleichen, dass man sich an einigen Stellen gerade für die junge Zielgruppe einen etwas ausführlicheren historischen Kontext gewünscht hätte. Wer war denn dieser Mussolini, gegen den sich Claudia Ruggerini zur Wehr setzte? Und was hat es mit diesem Hitler und seiner Armee auf sich, gegen den sich die französische Widerstandskämpferin Andrée Peel engagierte?
Am Ende des Bandes steht zwar ein Glossar, in dem vereinzelte Fremdwörter erklärt werden, doch nach weltgeschichtlichen Schlüsselereignissen sucht man auch hier vergeblich. Stattdessen sind an vielen Stellen vielmehr informierte und auskunftsfreudige Vorleserinnen nötig, die gegebenenfalls mit zusätzlichen Erklärungen aushelfen können.
Zu sehen gäbe es für die jungen Zuhörerinnen während etwaiger Abschweifungen eine Menge. Wie der erste Band der "Good Night Stories for Rebel Girls" ist auch die Fortsetzung von Illustratorinnen aus der ganzen Welt mit vielfältigen und prächtigen Portraits bebildert worden. Und ganz zum Schluss, in der Danksagung der Herausgeberinnen auf der allerletzten Seite, finden sie dann doch noch Erwähnung: die Männer.
"Wir danken allen Vätern, die freie, unabhängige, starke Töchter großziehen."
Ein wunderbares, wichtiges Buch
Es ist nicht so, dass man sie im Rest des Buches vermisst hätte. Jahrtausende der patriarchalen Unterdrückung rechtfertigen sicherlich diese und noch viele weitere Sammlungen von bewundernswerte, selbstbestimmte und erfolgreiche Frauen der Weltgeschichte. Schließlich ist der Weg zur Gleichberechtigung immer noch lang.
Warum dann allerdings diese Gute-Nacht-Geschichten in Titel und Ansprache nur für "Rebel Girls", für rebellische Mädchen bestimmt sind, erschließt sich nicht so recht. Haben Jungen diese Heldinnen nicht ebenso verdient? Können nicht auch Jungen Inspiration in Giusi Nicolini, J. K. Rowling oder Serena Williams finden?
Gerade wenn Geschlechterungerechtigkeit programmatisch verurteilt wird, sollte sie doch nicht – unter welchen Vorzeichen auch immer – reproduziert werden. So bleibt nur zu wünschen, dass sich zahlreiche rebellische Menschen finden, die auch ihren heranwachsenden Söhnen, ihren Enkeln, Neffen, Brüdern und Freunden aus den "Good Night Stories for Rebel Girls", aus diesem wunderbaren und wichtigen Buch vorlesen.
Francesca Cavallo, Elena Favilli: "Good Night Stories for Rebel Girls 2. Mehr außergewöhnliche Frauen", aus dem Englischen von Birgitt Kollmann, Hanser Verlag, München, 224 Seiten, 24 Euro.