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Grado
Vom Sandhaufen zum Kurort

Zwischen Venedig und Triest liegt das Seebad Grado auf einer vorgelagerten Halbinsel in einer Lagune. Es hat mehrere Gesichter - und ist deshalb nicht für für den feinsandigen Strand und die Kuranwendungen bekannt, sondern auch für bedeutende Gäste.

Von Franz Nussbaum | 20.07.2014
    Urlauber machen Strandgymnastik an der Adria in Grado.
    Urlauber machen Strandgymnastik an der Adria in Grado. (picture alliance / dpa / Markus C. Hurek)
    Vor uns die weite Lagune von Grado. Wir sind vorhin auch an den römischen Ruinenresten der einst bedeutenden Stadt Aquileia vorbeigekommen. Und zwischen Aquileia und Grado liegt Belvedere. Belvedere spielt für Grado eine wichtige Rolle als ehemaliger Eisenbahn-Bahnhof und als Rampe zum Brückendamm, der zu dem Badestädtchen führt. Belvedere, die schöne Aussicht. Der Gradeser Dichter und Philosoph Biagio Marin beschreibt uns diese schöne Aussicht in einem "Merian"-Heft - vor rund 50 Jahren.
    "Längs der Straße von Aquileia nach Grado verdecken zwei kleine Schirm-Pinien-Wälder wie ein Vorhang den Blick auf die Adria. Plötzlich gleitet der Vorhang zur Seite und die Augen des Reisenden weiten sich vor Staunen beim Anblick des Meeres. Man erahnt jenseits den Sandstreifen am südlichen Horizont. Es handelt sich um die vorgelagerte Lagune mit ihrem ruhigen oder leicht gekräuselten Wasserspiegel, mit den leuchtend grünen Flecken größerer und kleinerer Inseln. Hinten am Horizont, mal in der strahlenden Kraft der Morgensonne oder im rötlichen Abendlicht, zeichnet sich der Umriss der kleinen, am Lido gelegenen Stadt Grado ab. Die von Gott begnadete Insel."
    Diese von Gott begnadete Insel, das ist ja ein sehr schöner Satz, macht uns neugierig. Und das Wort Lido stimmt uns ja auch italienisch ein. Ein Lido wie ihn sich auch das große Venedig vorgelagert hat. Klingt exklusiv, fast mondän. Jedenfalls fahren wir ab Belvedere über eine schmale Brücke, fünf Kilometer lang, über die Lagune auf die Halbinsel Grado. Ein Zeitsprung. Vor rund 45 Jahren, 1970, rolle ich erstmals über diesen Brückendamm. Hinten, in meinem Auto hocken zwei Töchter, Bambini, 3 und 4,5 Jahre alt. Für die jungen Damen ist es hier der erste Kinderblick auf ein großes Wasser.
    Betörender Duft von Rosen aus Rosenhecken und Sträuchern
    Und damals fuhr ein deutscher Urlauber. 900 Kilometer bis Grado in einem Rutsch, die Nacht durch. Vorne ein Fiat 124, hintendran ein Zeltklapp-Caravan aus Holland, dem klassischen Land damaliger Zeltklapp-Anhänger. Und den Tipp für Grado hatten wir von einem Bekannten. Der schwärmte vom "Parco delle Rose". Und dieser Kurgarten und Rosenpark ist damals auch der Campingplatz. Und als wir ankommen ist es früher Vormittag am 1. Mai 1970. Und der Camping-Parco delle Rose ist noch geschlossen. Anfang Mai feiert man in Italien, wo auch schon Goethe Zitronen blühn, feiern die Italiener noch das Ende des Winters. Sie flanieren bei etwas mehr als 20 Grad Sonnenschein noch in Mäntelchen und Pelzkragen.
    Und dann der erste Eindruck, die sinnliche Visitenkarte von Grado. Betörender Duft von Rosen aus Rosenhecken und Sträuchern. Nach einigen Verhandlungen öffnet man uns den Parco delle Rose. Wir sind die Büchsenöffner der Saison und gehen durch ein Spalier von Zedern unter Blütendächern und Ranken, die nach Vanille duften. Und während wir den Klappwagen aufklappen und meine Frau mit den Bambini eine erste kurze Visite an den Strand unternimmt, erbauen Sie sich doch bitte wieder an Reisenotizen aus der Feder von Biagio Marin.
    "Grado ist nicht mehr als ein kleiner Sandhügel, ein schmaler Strand, der über das Wasser der Lagune hervorlugt. Dazu zwei Kirchen in der Altstadt, immerhin eine Basilika und die Kirche Santa Maria delle Grazie, jede fast anderthalb Jahrtausend alt. Angrenzend schmale Gässchen kleine Plätze, alte Häuser, wo es nach Fisch und Lack riecht. So war mein Dorf. Über der Insel glänzt aber ein tief blauer Himmel und unendlich waren die Horizonte, die sie umrahmten. Hier habe ich schon als kleines Kind gelernt, das funkelnde Licht des nuancierten Blaus zu bewundern."
    Heilbäder schießen aus dem Boden
    Eine Beschreibung von Grado, wie es sich gegen 1880 aus einem unordentlichen Sandhaufen und Fischernest zu einem eleganten Kurort und Seebad mausert. Christian Ulrich:
    "Damals ist dieser Nord-Streifen Italiens noch habsburgisch. Und Wiener Baulöwen lösen eine Bauspekulation aus. Vorausgegangen war eine Kinderlandverschickungen nach Grado. Asthma, Bronchien, auch Unterernährung. Unter sehr einfachen Umständen blühten die Kinder wieder auf. Das Heilklima aus See, Sonne, frischer Luft spricht sich rum. Was ausgelaugten Kindern guttut, könnte auch die Habsburger Hautevolee anlocken. Überall schießen damals Heilbäder aus dem Boden. Sie sind nicht nur ein Gesundheitsfaktor für echte oder eingebildete Kranke. Heilbäder sind auch eine florierende Kapitalanlage."
    Das alles im 4- und 5-Sterne-Bereich für schwindsüchtig blasse KuK- Kameliendame, für Von-und-Zu's aus Wien, Prag, Budapest. Für wichtigtuende Geheimräte, Adel inkognito. Eine Eisenbahn-Nachtlinie von Wien rollt bis nach Belvedere. Schlaf- und Salonwagen der ersten und zweiten Klasse. Fabrikarbeiter kannten keine Sommerfrische. Das wäre ja noch schöner! In Belvedere steigen die Herrschaften aus. Sie sind entzückt, tragen lange weiße Kleider oder helle Anzüge, hab hier alte Postkarten dabei.
    "Und der bekannte Dienstmann, Typ Hans Moser schleppt ihnen Koffer und Krempel vom Bahnsteig Belvedere auf ein daneben angelegtes Dampfschiff. 30 Minuten später legt es in Grado am Canal Grande an. Und die Schiebekarrenfahrer der Hotels schieben alle in die neuen Nobelherbergen und Villen. So hat's hier angefangen."
    Und dann beginnt die Sommerfrische und das arrangierende Verbandeln heiratsfähiger Töchter mit Herrn aus natürlich bestem Hause. Zurück zu meinen Töchtern. Sie werden noch nicht verbandelt, lernen dagegen 1970 in nur zwei Tagen Schwimmen, oder nennen wir es Hundekraulen. Sie avancieren zur Attraktion der noch frierenden Sonntagsspaziergänger. Zwei blonde Bambini mit blauen Augen und blauen Lippen stürzen sich ohne Hemmung und ohne Schwimmärmelchen von einem Beton-Steg in die 18-Grad kühle Adria. Sie tauchen unter, schlucken Wasser, kommen wieder hoch, paddeln vier Meter bis zur Leiter, steigen nass triefend auf den Steg, saugen das ungläubige Staunen der Spaziergänger und deren "Bravissimo-Rufe" auf. Reisenotizen eines Gradobesuchs von 1970.
    Sandbäder für 22 Euro
    Und einige Tage später und einige Sonnengrade wärmer sehen unsere Töchter erstaunt, wie am Strand beim Parco delle Rose in den Kureinrichtungen Italiener "begraben" werden. Das macht ein Sand-Therapeut. Nur den Kopf stecken sie nicht in den Sand. So schwitzen sie wie ein Hähnchen eine Stunde in der Backröhre, bis sie gar sind. Richtig so, Herr Ulrich?
    "Sandbäder hat es schon in römischen Zeiten gegeben. Sie sind heute eine Heilbad-Spezialität von Grado. Der warme Sand ist mit allerlei Mineralstoffen und Salzen aus dem Meer, und mit Algen-Extrakten angereichert. Sandbäder helfen bei Artrose, auch bei der Behandlung von Sportverletzungen. So ein Sandbad kostet heute 22 Euro. Oder sie schaufeln sich ihr Grab am Strand selber und lassen sich von ihren Bambini einbuddeln."
    1970 ist der in Fachkreisen beliebte Ärzte-Kongress von Grado noch Openair im Parco delle Rose. Die angereisten Doktores lauschen den Vorträgen und den Vögeln, atmen den Rosenduft ein. Witzbolde sagen, als der Gesang der Vögel interessanter wurde als der Inhalt der Seminare, da baut Grado neben dem Parco ein Kongresszentrum. So sitzen die Teilnehmer heute ohne Vogelgezwitscher und ohne die Duftmarken des Parks in einem klimatisierten Saal. Und eben diese Witzbolde meinen, das wirke sich auch auf das Klima in den heimischen Praxen aus. Weg von den Heilkräften der Natur hin zu den Rezeptblöcken der Pharmaindustrie.
    Und nun folgen wir den Duftnoten von Grado in die fast autofreie Innen- und Altstadt, in das Grado der alten Gässchen und Kirchen. Die antike Innenstadt, das befestigte, ummauerte "Castrum", war 400 Meter lang und 100 Meter breit. Einige Mauerreste kann man hier archäologisch in der Unterwelt Grados noch erkennen.
    "Und wir müssen nun aber zum richtigen Verständnis die große antike Stadt Aquileia, rund acht Kilometer von Grado entfernt, einbeziehen. Aquileia war in der Blütezeit des römischen Weltreichs vor 2.000 Jahren die viertgrößte Stadt auf dem italienischen Stiefel. Venedig gab es noch nicht. Eine pulsierende Handels- und Hafenmetropole. Aquileia wird rund 100.000 Einwohner gehabt haben. Wir müssen uns Aquileia und Grado als ein benachbartes Gesamtkonstrukt vorstellen."
    Wichtiger Seehafen
    Grado als Vorstadt und Lido für die Kaufleute und Reeder von Aquileia, auch eine Art Sonntagsspaziergang zum offenen Meer?
    "Aber noch wichtiger war Grado als Seehafen. Denn der Flusshafen von Aquileia ist damals eine ewige Baustelle, weil er permanent versandet. Daran ist ja auch das berühmte Ephesos oder Milet in der heutigen Westtürkei gescheitert. Die Flüsse aus den Alpen schieben große Mengen Schwemmland und Sand bis nach Aquileia rein. Und so wird sowohl die mächtige Militärgarnison mit ihren Ingenieuren und Soldaten, auf Wasserbau spezialisiert, aber auch ein Heer von Sklaven, immer wieder die Durchfahrt für seetüchtige Schaluppen freischaufeln müssen. Aber die antiken Galeeren und Segelschiffe sind wegen des Tiefgangs meistens in Grado bestückt oder entladen worden."
    Wie müssen wir uns "Handel" in einem multinationalen römischen Mittelmeer-Weltreich vorstellen, eine mediterrane EU?
    "Ein kleines, auch deutsch verständliches Beispiel. Aquileia-Grado liegt damals auch am Ende einer Bernstein-Straße aus dem Ostseeraum. Bernstein hatte einen Wert wie Gold. Die wertvollen Klunker werden dann weiter nach Byzanz und anderen Metropolen "verhandelt". Aber die cleveren Handelsfamilien von Aquileia haben an Bernstein noch ganz anders verdient. Man unterhält hier auch Designer und Schmuck-Werkstätten, die aus den tumben Klümpchen Harz wertvolle Ketten und Armbänder für die Kleopatras des Mittelmeerraumes fertigen. Auch ein damaliger Papst soll ein Kreuz aus Bernstein getragen haben. Salopp gesagt, man verhundertfacht in Aquileia den Wert einer Handelsware, indem sie manufakturiert von Künstlerhand bearbeiten lässt. Und dabei verdienen sie sich in Aquileia eine Bernstein-Nase."
    Sicherlich war nicht nur Bernstein das Tagesgeschäft der antiken Banker von Aquileia. Aber dieses Beispiel beantwortet uns etwas, woher sich dann auch das winzige Grado – 400 mal 100 Meter mit seinem Hafen - einen Dom und daneben weitere Kirchen wie Santa Maria delle Grazie finanzieren kann? Als Attila, der schreckliche Hunnenkönig, 452 das reiche Aquileia zerstört und plündert, da ist diese ummauerte "Festung Grado" der Fluchtort und einer der letzten militärischen Stützpunkte des weströmischen Reiches in seinen todgeweihten Zuckungen.
    "Das Machtvakuum des weströmischen Reiches lockt überhaupt erst die nord- und osteuropäischen "Wander-Völker" in den reichen italienischen Raum. Die Westgoten und die Ostgoten mit Theoderich. Dann die Langobarden mit einem Königreich. Schließlich "versanden" die Geschäfte im mehrfach geplünderte Aquileia gänzlich, dazu kommen Erdbeben. Und irgendwann macht der Letzte das Licht aus. Und der Patriarch von Aquileia residiert nun im Dom von Grado. Und auch Grado stürzt nach einer Blütezeit ab. Auch hier bläst ein Letzter die Kerze aus. Und der Patriarch von Grado zieht mit seiner Karawane weiter in das neue Machtzentrum Venedig, wo nun die Lichter angehen."
    Die Mosaike befragen
    Wir sind nun in der Basilika. Aber wie können wir nun etwas von den Gute-Zeiten-Schlechten-Zeiten Grados mit Händen fassbar machen?
    "Lassen wir uns hier vom Charme der alten Mauern und Steine des Doms einfangen. Ein Ziegelsteinbau von 571. Und fragen Sie nun die alten Fußbodenmosaike hier, warum sie denn nur Ornamente und Inschriften zeigen, aber keine Jesus-Darstellung, keine Himmelfahrt? Antwort: Es hat ein christlicher Bildersturm stattgefunden. Es wird schließlich untersagt, dass sich der gläubige Mensch ein Bild Gottes ausdenken darf. Kirchenspötter sagen, und der Mensch schuf sich Gott nach seinem Ebenbild. Erst später, und dann ist ein Michelangelo ein Höhepunkt, malt er in der Sixtinischen Kapelle einen schwebenden Gottvater mit diesem berühmten Fingerkontakt als epochales Fresko."
    Das heißt, ich muss hier in der Basilika die Mosaike befragen und dann ergeben sich Antworten?
    "Fragen Sie eine der insgesamt 20 Stein- und Marmorsäulen der Basilika nach ihrer Geschichte? Und wenn Sie ganz genau zuhören, dann erzählt ihnen die Säule, ich stand mal in einem römischen Jupitertempel. Da kommt gegen 390 nach Christus die Anweisung, alle römischen Göttertempel sind abzureißen. Und da fragt mich ein Steinhändler, du Jupiter-Säule, du kommst aus einem Marmorsteinbruch im fernen Frankreich. Du hast viel Geld gekostet und noch mehr Arbeitsstunden eines Meisters und seiner Gesellen und Sklaven. Willst Du als Säule nun nur noch gelangweilt rumstehen, nur weil sich die Menschen eine andere Götterwelt zugelegt haben? Sinnlos rumstehen bis das nächste Erdbeben Dich umkippt? Oder willst Du vielleicht in eine Basilika von Grado umziehen und hier eine neue tragende Rolle übernehmen?"
    Danke, liebe Säule. Aus Grado kommt nicht nur der Philosoph und Schriftsteller Biagio Marin und beschreibt uns den Horizont und das Blau über der Lagune. Hier gibt es auch Steine, Mosaike, sogar Säulen, die mit dem Besucher sprechen, wenn er sie nur danach fragt. Nur eins kann uns Biagio Marin nicht beschreiben, den Duft des Parco delle Rose. Den muss sich der Besucher in Grado selber reinziehen. Er ist unbeschreiblich.