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Graham Swift: "Da sind wir"
Zauberkunst aus vergangener Zeit

Sie begeisterten ihr Publikum mit Zaubertricks, Songs und eleganten Tanzschritten: Ronnie, der Magier, Evie, seine Assistentin und Jack der Entertainer. Aber es waren die letzten Tage, bevor der Glanz der Varietés erlosch.

Von Eberhard Falcke | 04.05.2020
Der Schriftsteller Graham Swift und sein Roman "Da sind wir"
Der Schriftsteller Graham Swift und sein Roman "Da sind wir" (Cover dtv / Autorenportrait imago stock&people / LeonardoxCendamo Leemage)
1959 ist das Jahr, auf das in dem neuen Roman von Graham Swift alles zuläuft und von dem alles ausgeht. Dadurch erhält der Titel "Da sind wir", der im englischen Original "Here we are" einer sehr alltäglichen Floskel gleicht, seine tiefere Bedeutung. Denn dieses Jahr wird zu einem entscheidenden Wendepunkt im Leben von drei Menschen, bei dem Fügungen und Zäsuren eine entscheidende, ja schicksalhafte Rolle spielen.
Im britischen Seebad Brighton treffen der Entertainer Jack Robbins, der Zauberkünstler Ronnie Dean und die Revuetänzerin Evie White zusammen. Der wendige Jack hat beschlossen, seinem einstigen Wehrdienstkameraden Ronnie unter die Arme zu greifen und ihm ein Engagement in der Show zu verschaffen, bei der er selbst als Conferencier und Sänger mitwirkt. Da aber ein Zauberer ohne eine attraktive Assistentin nur die Hälfte wert ist, hat er seinem Freund aufgetragen, eine Partnerin anzuheuern. So kommt Evie ins Spiel. Die Abmachung erweist sich als Glücksfall.
Im Rampenlicht des Varietés
Unter den Künstlernamen Pablo und Eve werden die beiden in jenem Sommer zur Zugnummer in dem Theater auf einem der traditionsreichen Piers von Brighton, wo die Touristen abendliche Unterhaltung suchen. Natürlich fehlt auch der Trick mit der zersägten Jungfrau nicht, bei dem es Eve besonders gut versteht, Haltung zu bewahren, wie die Erzählung mit folgenden Worten hervorhebt:
"Ah, was er nicht alles mit ihr anstellen durfte! Was ließ sie Ronnie zuliebe nicht alles über sich ergehen! Das Seltsamste jedoch war, dass sie bei all diesen Gräueltaten und Torturen ihr strahlendes, ihr unbezwingbares Lächeln behielt. Jedes Mal, wenn eine Kiste geöffnet wurde, trat sie lächelnd heraus, die Arme in einer Geste des Triumphs und der Freude hochgeworfen."
Graham Swift nimmt hier, wie schon manches Mal zuvor, sein Publikum wieder mit auf die Zeitreise in eine Epoche, als England noch nicht befürchten musste, sein Profil in europäischen Eintöpfen zu verlieren. Im Zentrum stehen dabei, wenn man vom immergrünen Thema Liebe, Verführung und Untreue absieht, die Welt der Varieté-Theater und das Rampenlicht, in dem ein Entertainer volle Säle mit lockeren Sprüchen, klackernden Step-Schritten und populären Songs bei Laune hielt.
Besonders interessant und anrührend sind dabei die Rückblenden auf die Kindheit und Jugend des Zauberkünstlers Ronnie Dean. Denn Ronnie, der Sohn armer Leute, verkörpert einen Konflikt, der zu Graham Swifts Standardthemen gehört, nämlich die Kluft zwischen der Arbeiterklasse und den bürgerlichen Schichten.
Der Zauberlehrling
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wird der Achtjährige wie viele andere Kinder aus dem von deutschen Bomben bedrohten London in die Nähe von Oxford gebracht, wo er bei Pflegeeltern unterkommt. Das ist ein Sprung aus der Sozialsiedlung in ein Herrenhaus, für Ronnie ein fremdes Paradies. Hier findet der Junge, der vom bitteren Materialismus der Armut geprägt ist, zum kunstvollen Spiel mit der Phantasie. Denn sein Pflegevater praktiziert die Zauberkunst mit Kaninchen, Tauben und allem, was dazu gehört. Er macht Ronnie zu seinem Lehrling, und für den wird die Zauberei zur Passion seines Lebens. Womit er bei der Rückkehr zu seiner Mutter am Ende des Krieges reines Entsetzen, ja puren Hass auslöst. Die Putzfrau fühlt sich betrogen, weil diese besseren Leute ihr den Sohn entfremdet haben. Und das klingt so:
"Heilige Scheiße! Ronnie! Zauberer! Was soll der Mist, verdammt?
Nach dieser Explosion brach seine Mutter in Tränen aus. Ein vertrauter Kreislauf. Beinah wäre Ronnie selbst in Tränen ausgebrochen, aber er war fast fünfzehn, da ging das nicht."
Im übrigen aber sind die Figuren in diesem Roman ganz gewiss keine psychologisch fein gezeichneten Charaktere, sondern eher Typen, die für allgemeinere Muster stehen. Besonders deutlich wird das an der erotischen Dreiecksgeschichte von Zauberer, Assistentin und Entertainer. Ronnie ist ein zarter, unsicherer Bursche, der allein aus dem, was er sich als Zauberkünstler erarbeitet, Sicherheit gewinnt. Jack dagegen versteht sich auf den souveränen Auftritt an der Rampe und entlockt Frauen den Seufzer "Was für ein Mann!" Dass die Assistentin Evie dann vom Tüftler im Zaubererfrack zum tänzelnden Schwadroneur überläuft, entspricht dem Klischee, dass die Schönen und Erfolgreichen zusammengehören. Mit anderen Worten: Der Roman hat auch seine seichten Momente.
Die Welt als Bühne
Trotz des Themas der Zauberei ist Graham Swifts Roman kein Werk von magischer Brillanz. Mit Bedacht ertüftelt wie ein guter Zaubertrick ist er allerdings durchaus. So gibt es reichlich bewährte klassische Motive: Die Dreiecksgeschichte wurde schon erwähnt, das Spiegelmotiv mit seinem Potential von Trug und Illusion findet sich mehrfach, ebenso die Metapher von der Welt als Bühne.
Hinzu kommen zahlreiche Perspektivwechsel zwischen den Figuren und eine Technik von Rückblenden, die manchmal etwas willkürlich erscheint, aber zuverlässig für melancholische Stimmungswerte und historische Tiefenwirkungen sorgt. Zum Beispiel wenn sich Evie als Fünfundsiebzigjährige an ihr Leben erinnert und an Jacks Worte nachdem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten:
"Meinst du nicht", hatte er zu ihr gesagt, "dass das Ganze hier, mit der Show und dieser ganzen Trickkiste, an sein Ende gelangt ist? Die Zukunft liegt woanders, meinst du nicht auch?"
Die Beatles stehen vor der Tür
Evie hat sich also auf die Seite des historischen Siegers geschlagen. Sie wird den Entertainer Jack heiraten, er wird ein berühmter Schauspieler in Film und Fernsehen, sie werden eine Produktionsfirma gründen und der Zauberer Ronnie wird, wie alles, was zum Untergang verurteilt ist, in die Sphären der romantischen Erinnerungen eingehen.
Es ist dieser kulturhistorische Wendepunkt, um den sich in Graham Swifts Roman "Da sind wir" insgeheim alles dreht. Das ist die Zeit, als die Varietés eingingen, als die Zauberkünstler sich wegzaubern mussten, weil sie nicht arbeitslos werden wollten, als der Niedergang der Theater auf den Piers von Brighton begann, während die Beatles und die Rolling Stones schon vor der Tür standen. Und dieser Roman über das Ende einer Epoche ist Graham Swift, alles in allem, durchaus geglückt.
Graham Swift: "Da sind wir".
Aus dem Englischen von Susanne Höbel.
dtv, München, 160 Seiten 20 Euro.