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Graphic Novel
Im Dschungel mit dem Großvater

Arsène Schrauwen, ein junger Belgier, ist 1947 in die damals belgische Kolonie Kongo aufgebrochen, um sich am utopischen Siedlungsprojekt der "Freedom Town" zu beteiligen. So erzählt es sein Enkel Olivier Schrauwen in der nach dem Großvater benannten Graphic Novel. Dabei taucht man in die fremde Welt der Kolonie und des Dschungels ein.

Von Tabea Soergel | 07.04.2016
    Kongo
    Dschungel im Kongo (picture-alliance/dpa/Foto: Yannick Tylle)
    Ein Mann sitzt allein in einer Hütte im kongolesischen Busch und verliert langsam, aber sicher den Verstand. Sein Vetter, dem er beim Bau einer futuristischen Siedlung helfen soll, hat sich seit Wochen nicht gemeldet. Auch sein einheimischer Hausdiener ist ohne Erklärung verschwunden. Und da die Regenzeit begonnen hat und der Mann nichts mehr fürchtet als die todbringenden Elefantenwürmer, die angeblich das Wasser verseuchen, kann er seinen Unterschlupf nicht verlassen. Gesellschaft leisten ihm nur halbbewusste, fiebrige Fantasien, die ihn in der Einsamkeit heimsuchen.
    "Dann sah er, wie sich etwas am Horizont bewegte. Es sah aus wie ein Schlüsselloch. Es war absurd, doch Arsène konnte nicht anders: Er probierte, ob sein Schlüssel passte. Er passte! Mittlerweile bekam die Silhouette Beine, Arme und einen Kopf. Jemand kam auf ihn zu!"

    Die fremde Welt der Kolonie
    Arsène Schrauwen, ein junger Belgier, ist 1947 tatsächlich in die damals belgische Kolonie Kongo aufgebrochen, um sich am utopischen Siedlungsprojekt der "Freedom Town" zu beteiligen. So erzählt es zumindest sein Enkel Olivier Schrauwen in der nach dem Großvater benannten Graphic Novel. Bei der Lektüre taucht man ganz in Arsènes Bewusstsein ein: Man sieht die fremde Welt der Kolonie mit den Augen dieses unzuverlässigen Protagonisten, der seine Hirngespinste im Laufe der Zeit immer weniger von der oft grotesken Wirklichkeit unterscheiden kann. Arsène verfolgen wiederkehrende Bilder, Zeugnisse von Angst, Scham, Ekel und Selbstentfremdung – wenn sich etwa ein gerupftes Huhn in sein eigenes kauerndes, kopfloses Ebenbild verwandelt, oder wenn er bei der Erinnerung an Marieke, die begehrenswerte Frau seines Vetters, zum liebestollen Esel mutiert. Gelegentlich schaltet sich auch der Autor direkt ein, indem er etwa zwischen zwei Kapiteln klare Handlungsanweisungen an den Leser richtet:
    "Bitte warten Sie eine Woche, bevor Sie weiterlesen."
    Und auf der nächsten Seite:
    "Danke fürs Warten."

    Fahrt durch den obskuren Dschungel
    Als es endlich nicht mehr regnet, wird Arsène, labil und geschwächt durch die unfreiwillige Isolation, überraschend zum Leiter des megalomanen Siedlungsprojekts ernannt. Die Fahrt des Expeditionstrecks durch den obskuren, menschenfeindlichen Dschungel zum Baugrund gipfelt in einem Überfall durch anthropomorphe Schimären. Auch der Realitätsgehalt dieser surrealen Alptraum-Szene wird nicht hinterfragt. Grauen und absurder Witz halten sich die Waage.
    "Dann wurde der Zahnlose von drei Leopardenmenschen aus der Gruppe gerissen. Zuerst sah es harmlos aus, sie schienen einfach mit ihm zu spielen, so wie Katzen mit einem Wollknäuel. Dann zerfetzten sie ihm mit ihren messerscharfen Krallen behände seine Kleider. Was hatten sie mit dem armen Teufel vor? Wollten sie ihn in Stücke reißen? Arsène wagte es nicht hinzusehen, doch nicht hinzusehen wagte er auch nicht."
    In der Bildsprache Olivier Schrauwens hat die Ästhetik klassischer amerikanischer Zeitungscomics deutliche Spuren hinterlassen. Anders als in früheren Werken ist der Stil von "Arsène Schrauwen" aber stark reduziert, gebrochen und schroff: Hier treffen schlicht gezeichnete Figuren immer wieder auf graphische Elemente, offene, rohe Formen und fragmentierte Nebenfiguren – oft haben die nicht einmal ein Gesicht, sondern zerfallen in irritierende Einzelmerkmale:
    "Sein Name war Lippens, er hatte Triefaugen und, wie zum Hohn, ziemlich dicke Lippen. Seine Lippen umschlossen wollüstig den Rand des Glases, nahezu obszön. Die Lippen waren ständig in Bewegung, wie ein Trompeter schien er die Zirkularatmung zu beherrschen. Pausenlos plätscherte der Fluss der Worte."
    Der kongolesische Fiebertraum

    Olivier Schrauwen nutzt die Möglichkeiten des Comic-Genres virtuos, um selektive, störanfällige Wahrnehmung darzustellen. Auch die Farbgebung akzentuiert den inneren Zustand des Protagonisten: Während über weite Strecken Blau und grelles Orangerot einander in den Bildern abwechseln oder miteinander kollidieren, ist erst die letzte Episode im Kongo durchgehend zweifarbig, in zarten Tönen, koloriert. Da ist "Freedom Town" als bodenständiges belgisches Koloniestädtchen längst Wirklichkeit geworden, und auch Arsène hat sich erholt. Kurz darauf kehrt er nach Belgien zurück, um eine Familie zu gründen. Der kongolesische Fiebertraum ist in unvorstellbare Ferne gerückt. Auf den letzten Seiten sieht man, wie Arsène auf seinem Fahrrad allmählich verschwindet – aus dem Buch seines Enkels und aus der Welt.
    "Sein Fahrrad war in ausgezeichnetem Zustand, obwohl es zwei Jahre lang dem belgischen Wetter ausgesetzt gewesen war. Er sprang auf den Sattel und radelte davon. Tschüss, Opa!"
    Olivier Schrauwen: "Arsène Schrauwen"
    Aus dem flämischen Niederländisch von Helge Lethi, Reprodukt, 260 Seiten, 39 Euro.