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"Green-Card-Debatte zeigt die Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes"

Heinemann: Verkehrte Welt: in der Einwanderungspolitik vertreten die beiden Volksparteien zur Zeit das Gegenteil von dem, was sie bis zur letzten Bundestagswahl gesagt hatten. CDU und CSU fordern ein Gesetz, von dem sie 16 Jahre lang nichts wissen wollten; besonders eindrucksvoll demgegenüber die Wende der Sozialdemokraten. Die Partei, die in der Opposition nicht müde wurde, Deutschland als Einwanderungsland darzustellen, möchte nun von einem Zuwanderungsgesetz nichts mehr wissen. Dabei hatte die SPD noch 1997 einen fertigen Gesetzentwurf präsentiert. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck sagte dazu kürzlich in dieser Sendung:

    O-Ton Struck: Ich sehe dafür zur Zeit keinen Bedarf, insbesondere nicht aufgrund der Diskussion, die wir jetzt haben, ausländische Software-Fachleute, 10.000 zunächst, nach Deutschland zu holen. Wir haben hier im Augenblick die Situation, dass ohnehin über Asylbewerber, Aussiedler und Nachzug von Familienangehörigen eine bestimmte Quote von Ausländern jedes Jahr ins Land kommt. Eine etwa gleich hohe Quote geht aus dem Land wieder heraus. Deshalb halte ich diese Debatte, die ja von der CDU begonnen worden ist, um den Vorschlag von Gerhard Schröder mit der "Green Card" zu diskreditieren, jetzt für überflüssig. Wir werden uns jetzt nicht mit einem Einwanderungsgesetz oder gar mit einem Zuwanderungs-Begrenzungsgesetz, wie die CDU es fordert, beschäftigen.

    Heinemann: Peter Struck, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. - Am Telefon ist jetzt Renate Künast, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und mögliche künftige Sprecherin der Partei. Guten Morgen!

    Künast: Guten Morgen Herr Heinemann.

    Heinemann: Frau Künast, wie bewerten Sie Herrn Strucks Äußerung?

    Künast: Nun ja, die SPD-Fraktion im Bundestag betätigt sich mal wieder als Bremser. Ich habe ja gerade zur Kenntnis nehmen müssen, dass Herr Müntefering bei der Frage Bürgerbeteiligung/Volksentscheid der Fraktion etwas vormacht und sagt, wir wollen den Volksentscheid. Auch dort bremst die Fraktion im Augenblick. Nun habe ich schlicht und einfach Hoffnung, dass das in anderen Bereichen auch so sein wird. So zurückhaltend sich Herr Struck an der Stelle auch bewegt, mit der "Green Card"-Debatte ist natürlich einiges offen gemacht. Ich nenne mal zwei Punkte. Der eine ist bekanntermaßen die Frage, wie bilden wir eigentlich unsere Jugendlichen aus, egal ob sie deutscher oder ausländischer Herkunft sind, die hier leben? - Bekanntermaßen, wie man am Bedarf merkt, nicht hinreichend. Der andere Punkt ist der, dass die "Green Card"-Debatte natürlich auch wieder die Frage über das Einwanderungsrecht neu aufmacht. Da muss man im Augenblick feststellen gibt es Bedarf. Auch wenn Herr Struck heute nein sagt, das Thema wird ihm immer wieder auf den Tisch gelegt werden, weil die deutsche Bevölkerung reduziert sich und schon allein deshalb wird die Frage aktuell sein.

    Heinemann: Frau Künast, wie geht man jetzt damit um? Die einen sagen hüh, die anderen hott.

    Künast: Wenn es mal so wäre, dass die einen nur hüh und die anderen hott sagen. Auch bei CDU und FDP ist es ja so, ...

    Heinemann: Ich meine jetzt rot und grün, SPD und Grüne!

    Künast: Trotzdem müssen wir es ja ganz diskutieren. Wir sind ja als Bundesregierung nicht unter Laborbedingungen tätig, sondern man muss, wenn man das Einwanderungs- oder Flüchtlingsrecht neu regeln will, das ja mit der ganzen Gesellschaft tun. Es macht keinen Sinn, nur eine große Auseinandersetzung zu produzieren und dann nicht zu Regelungen zu kommen, spätestens dann, wenn man mal den Bundesrat braucht.

    Heinemann: Aber diese Auseinandersetzung muss doch auch in der Koalition stattfinden, angesichts dieser widersprechenden Positionen?

    Künast: Ja, die Debatte fängt an. Wir haben gesagt, wir wollen mittelfristig eine neue gesetzliche Grundlage, und Sie können sicher sein, dass wir dieses Thema nicht aufgeben, nicht nur weil Herr Struck es gerade mal vor einigen Tagen als nicht auf der Tagesordnung befindlich bezeichnet hat. Sie wird immer wieder kommen, Herr Heinemann, weil wir auf der einen Seite diese gesamte Frage des Asyl- und Flüchtlingsrechts haben, das auf die europäische Ebene transportiert werden muss. Anders als Herr Schily meint wird dabei nicht der individuelle Anspruch wegfallen, weil auch das europäische Recht das gar nicht sieht. Ich gehe davon aus, dass die deutsche Wirtschaft und viele anderen immer weiter an diesem Thema bohren werden. Insofern haben wir gute Bündnispartner.

    Heinemann: Wann werden die Grünen denn einen entsprechenden Gesetzentwurf im Bundestag einbringen? Das wäre ja der einfachste Weg.

    Künast: Nein, das wäre nicht der einfachste Weg, Herr Heinemann, weil einmal in Koalitionszeiten eines klar ist: man kann im Parlament nicht individuell vorgehen, sondern muss sich mit dem Koalitionspartner einigen. Alles andere macht auch keinen Sinn, wenn ein Gesetzentwurf dann keine Mehrheit hat. Die hat es ja nicht, weil CDU und FDP gar nicht daran denken, sich zu bewegen, sondern Zuwanderung noch mehr eingrenzen und reduzieren wollen, obwohl sie heute schon kaum stattfindet. Nein, wir werden schon die gesellschaftliche Diskussion führen müssen und zusehen, dass wir weiter politische Bündnispartner bekommen. Wir werden das ganze auch koppeln müssen mit der Frage nach Integrationspolitik, weil sich dort auch ein Zugangspunkt befindet. Die Ausländerinnen und Ausländer, die jetzt hier sind, für die hat es ja in 40jähriger Migration nach Deutschland nie eine Integrationsperspektive gegeben, nie systematisch Einstieg in die Arbeitswelt, Sprache, Möglichkeiten, in dieser Kultur auch ein Stück mehr zu Hause zu sein. Insofern müssen wir das beides miteinander verbinden. Der eine Punkt, mit dem wir uns alle miteinander zwingen wollen, immer wieder darüber zu diskutieren, ist der jetzt gerade beschlossene Migrationsbericht des deutschen Bundestages. Da wird man dann jährlich wieder sehen, wie funktioniert hier eigentlich Zu- und Abwanderung. Als erstes muss man dann eine Angst nehmen, Herr Heinemann. Vielen wird immer gerade von der CDU und FDP weißgemacht, wir würden hier eine Flutwelle erleben. Tatsache ist, dass mehr Ausländer wieder weggehen als kommen. Genau das wird unser Problem sein, wenn die deutsche Bevölkerung veraltert.

    Heinemann: Frau Künast, Sie sprachen eben von dieser gesellschaftlichen Diskussion. Das kann ja Jahre dauern. Insofern kann man Ihnen schon vorwerfen, dass Ihnen wieder mal die Koalition wichtiger ist als jetzt ein urgrünes Thema.

    Künast: Herr Heinemann, was ist das für eine Frage. Soll ich jetzt ein Blatt Papier in den deutschen Bundestag einbringen, das im Augenblick keinerlei Aussicht hat umgesetzt zu werden? Wir haben in dieser Koalition natürlich auch die Aufgabe, gerade im Bereich Asyl-, Flüchtlingspolitik, im Bereich der Zuwanderungsregelung, ob es nun individuelle oder Kontingentansprüche sind, etwas in Bewegung zu bringen. Wir beschäftigen uns, auch die Ausländerbeauftragte, mit der Frage der Integration. Wir haben uns bemüht, trotz aller Begrenztheit des neuen Staatsbürgerschaftsrechts, aber wir haben dazu etwas umgesetzt, wenn es auch ein Optionsmodell ist, aber schauen wir mal, was in 23 Jahren ist. Niemand wird mir erzählen können, dass all die Jugendlichen, die sich in 23 Jahren zwischen beidem entscheiden müssen, diese Entscheidung tatsächlich werden treffen müssen. Wir werden dagegen kämpfen, das wieder zu verändern. Genauso ist es an dieser Stelle auch. Ich versuche es positiv zu sehen, Herr Heinemann. Die "Green Card" hat eine Diskussion offengemacht. Es ist schwierig. Wir haben jetzt auch einen Punkt, der ganz klar zeigt, nicht nur aus humanitären Gründen, sondern aus gesellschaftlichen Gründen brauchen wir Einwanderung. Selbst die Wirtschaft hat daran Interesse. Das ist doch eine Stärke für die weitere Diskussion.

    Heinemann: Sind Sie denn der Meinung, dass der Bundeskanzler am Asylrechtsparagraphen 16 des Grundgesetzes hängt, also an dem Rechtsanspruch?

    Künast: Nein, ich sage schlicht und einfach er ist in einer Koalition, wo ihm klar ist, dass er an dieser Regelung nicht rütteln kann. Ich sage Ihnen auch, unsere Überprüfung des europäischen Rechts hat ergeben, dass Otto Schily nicht Recht hat. Eine Harmonisierung des EU-Rechts wird nicht bedeuten, dass dieser individuelle Anspruch und die gerichtliche Überprüfung bei Flüchtlingen fallen muss.

    Heinemann: Auslöser der ganzen Diskussion ist die "Green Card"-Entscheidung der Bundesregierung. Glauben Sie, dass die Computerfachleute, die jetzt angeworben werden sollen, überhaupt kommen wollen, wenn sie wissen, dass sie nach fünf Jahren die Koffer wieder packen sollen?

    Künast: Ich glaube, es wird nur einen begrenzten Run auf diese Möglichkeit geben. Einige werden kommen. Trotz allem bleibt aber der Punkt, dass die USA für Computerfachleute immer noch interessanter sind, nicht nur dass das Geschäft dort mehr boomt, sondern dass man dort mit der "Green Card" auch eine Dauerkarte bekommt, eine unbegrenzte Möglichkeit des Aufenthaltes und auch des Familiennachzugs. Insofern ist das hier ja nur eine sagen wir halbe "Green Card".

    Heinemann: Nehmen wir aber an, es kommen trotzdem welche?

    Künast: Dann wird sich hier zum Beispiel die Frage des Familiennachzugs und der Integration stellen. Ich glaube, dass das auf Dauer nicht haltbar ist. Sie werden - und das wird auch die Wirtschaft nicht zulassen - für drei, vier, fünf Jahre Fachleute haben, die sie dann auf dem höchsten Stand der Ausbildung und Qualifikation wohin eigentlich schicken? Die werden natürlich sofort in den USA genommen. - Es ist ein Anfang!

    Heinemann: Spiegelt die Bundesregierung den Bürgern falsche Tatsachen vor, wenn sie sagt, dass die nach fünf Jahren wieder gehen müssen?

    Künast: Wir sind ja an dieser Stelle in einer Zwickmühle, Herr Heinemann. Die Zwickmühle ist die, dass es im Augenblick einen Bedarf gibt. Die Zwickmühle ist aber auch die, dass wir ihn selber mit den hier ausgebildeten Arbeitskräften stillen können. Da muss ich natürlich zwei Vorwürfe machen: einmal an Herrn Rüttgers, der angeblich mal Zukunftsminister war und es nicht gemerkt hat, und auch an die deutsche Wirtschaft, die das vor Jahren nicht gemerkt hat.

    Heinemann: Frau Künast, die Bundesregierung sagt, nach fünf Jahren sollen diese Computerfachleute wieder gehen, und Sie sagten gerade, das ist ziemlich unrealistisch, dass die dann wieder ihre Koffer packen. Deshalb die Frage: spiegelt die Bundesregierung den Bürgern da falsche Tatsachen vor?

    Künast: Die "Green Card" ist ja in der jetzigen Situation eine Idee von Herrn Schröder. Sie ist einerseits richtig. Ich habe eines klar gesagt: es werden meines Erachtens nicht so viele kommen, weil die Möglichkeiten in anderen Ländern bedeutend besser sind als hier. Der andere Punkt ist der, dass die, die kommen werden, sicherlich eine starke Lobby haben, wenn ihre Zeit hier abgelaufen ist, zum Beispiel die fünf Jahre, weil die deutsche Wirtschaft dann sagen wird, es kann doch nicht sein, und sie werden versuchen, Ausnahmegenehmigungen zu bekommen.

    Heinemann: Also keine Gastarbeiter, sondern Mitbürger auf Dauer?

    Künast: Schon bei den Gastarbeitern hat man geglaubt, es würde eine Arbeitsrotation stattfinden, die am Ende nicht stattgefunden hat.

    Heinemann: Frau Künast, alle Jahre wieder wird die Idee vom Volksentscheid aus der Kiste gekramt. Diesmal - Sie haben es eben schon angesprochen - hat SPD-Generalsekretär Franz Müntefering dies getan. Ihre Partei hat dem zugestimmt. Bedeutet das nicht, dass auch in Detailfragen künftig Zustimmung erhält, wer die besseren Werbespots schaltet, Plakate klebt oder die meisten Unterschriften sammelt?

    Künast: Zum einen haben wir dem nicht zugestimmt, sondern wir haben begrüßt, dass die SPD sich auch endlich auf den Weg gemacht hat. Der Volksentscheid und andere Instrumente der Bürgerbeteiligung sind ja nun eine urgrüne Forderung. Es war mühevoll genug, das bis heute zu transportieren. - Nein, ich glaube, durch den Volksentscheid wird das noch nicht der Fall sein. Der Volksentscheid ist, wenn die Quoten nicht zu hochgehängt sind, dass die Bürger damit am Ende nur ausgetrickst werden, ein Instrument bekommen, das sie gar nicht nutzen können, schon eine ganz legitime Möglichkeit. Warum soll man alles an Parlamentarier delegieren, von denen wir ja heute wissen, dass die nicht auch immer die Weisheit mit Löffeln gefressen haben oder bessere legitimierte Entscheidungen treffen. Ich finde, ein Volksentscheid ist eine Selbstverständlichkeit. Ein Problem habe ich mit diesem spontanen Vorschlag von Herrn Müntefering, mit den Primeries. Dies stellt ja auf US-Verhältnisse ab, die wir hier überhaupt nicht haben. Sie geht eigentlich von einer Situation des Mehrheitswahlrechts aus wie in den USA, wo der, der mehr als 50 Prozent hat, gewählt ist. Das sind alles Situationen, die wir hier nicht haben. Dort hätte ich die Sorge, dass man das nicht begrenzen kann, sondern der, der am besten Zugang zu Sponsoring und zur Wirtschaft hat, derjenige ist, der der Bevölkerung im Ergebnis vorgaukelt, sie könne mitentscheiden. In Wahrheit kann dieses Spiel aber nicht jeder mitspielen, sondern nur der, der tatsächlich das Geld hat.

    Heinemann: Renate Künast, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und mögliche künftige Parteisprecherin der Grünen. - Haben Sie vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Link: (Roland Koch: Anti-Green-Card- Kampagne in Nordrhein-Westfalen (3.4.2000)==>/cgi-bin/es/neu-interview/601.html)

    Link: Interview als RealAudio