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Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer
Verbündete gegen die Bösewichte des Westens

Greogr Gysi, Leit- und Integrationsfigur der Linkspartei und der ehemalige DDR-Bürgerrechtler, und Pfarrer Friedrich Schorlemmer stehen sich in einem Gesprächsband gegenüber. Freischwebend reden sie über ihr Leben und sinnieren über Gott und die Welt, meint unsere Rezensentin Jacqueline Boysen.

Von Jacqueline Boysen | 11.05.2015
    Kennen politisch-historisch Interessierte nicht gerade diese beiden ostdeutschen Stimmen zu genüge?
    Greogr Gysi: "Ich hab jetzt erst mal kennengelernt, wie das ist, wenn man in Opposition steht und dafür nicht gemocht wird und man sich dann aber Schritt für Schritt eine Akzeptanz erst erarbeiten kann."
    Friedrich Schorlemmer: "Ich war in der DDR kein geparkter Politiker, sondern Pfarrer. Ich bete lieber für die Politiker, als dass ich einer werde."
    Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer. Schorlemmer ist der ewige Mahner aus Wittenberg, der politische Protestant mit dem hohen moralischen Ton, dessen Autorität sich nicht zuletzt daraus speist, dass er im Jahr 1983 in einer gewagten Aktion Schwerter zu Pflugscharen schmieden ließ und damit die DDR-Friedensbewegung deutlich sichtbar unter ein biblisches Motiv stellte. Noch viel öfter als Schorlemmers ertönt in der Öffentlichkeit freilich die – stets auch seine eigene Partei herausfordernde – Stimme Gregor Gysis:
    Greogr Gysi:
    Wir haben keine offene politische Kultur. Ich sage das nicht nur gegen die Konservativen, ich sag das auch mit Bezug auf Die Linken. Das ist wahrscheinlich das Libertäre in mir, dass ich so etwas brauche, ich brauche da einfach einen anderen Umgang.
    Bekanntlich ist Gysi wortmächtiger Protagonist der Linkspartei. Als PDS diente sie vielen einstigen DDR-Bürgern und SED-Funktionären als Vehikel, auf dem sie in die Demokratie der Bundesrepublik hineinmanövriert wurden. Seit 2007 versucht Gregor Gysi die Balance zwischen realpolitischem Ost- und dogmatischem Westflügel der Partei Die Linke zu halten. Und hat als Chef der größten Oppositionsfraktion im Bundestag reichlich Gelegenheit, sich öffentlich zu äußern. Zahlreiche Bücher hat er veröffentlicht – nun also Gysi mit dem sozialdemokratischen Prediger Schorlemmer in einem Gesprächsband. Sie unterhalten sich assoziativ über "Herkunft und Zukunft", wie der Untertitel verheißt. Dem Titel zufolge erkunden beide, "was bleiben wird". Schorlemmers Antwort:
    Bezugspunkt bleibt die DDR
    "Was bleiben wird? – Dass wir anders sind als die anderen. Und dass es nicht schlimm ist. "
    Bezugspunkt ist und bleibt in diesem Gespräch natürlich die DDR – um die kollektive Identität und um ihre eigenen ungewöhnlichen Familiengeschichten kreisen Schorlemmers und Gysis bisweilen weit ausholende Gedanken. Unter der Leitung des Publizisten Hans-Dieter Schütt führen sie wahrlich kein Streitgespräch. Schütt wirft ihnen vielmehr Stichworte und Zitate von DDR-Schriftstellern zu, die beide nach Herzenslust ignorieren, um zumeist freischwebend über ihr Leben, über Gott und die Welt zu sinnieren. Eine Kostprobe von der parallel erschienenen Hörbuch-Ausgabe:
    Greogr Gysi:
    "Ich wohnte ja mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Vater und einer Haushälterin in einem halben Haus. Und meine Freunde gegenüber. Und der größte Unterschied fiel mir auf, weil ich gegenüber einen Freund hatte, die Mutter und die drei Kinder waren katholisch. War kein Symbol um Karriere zu machen in der DDR. Und die Frau hatte zwei Bücher: Kochbuch und Bibel. Und meine Eltern - Tausende von Büchern. Da merkte ich, ich hatte es viel leichter. Es war ja kein Vergleich! Trotzdem ist er Oberarzt geworden."
    Politische Botschaft an eigene Erfahrungen geknüpft
    Friedrich Schorlemmer:
    "Was heißt hier trotzdem? (Nicht wegen der Bibel...)"
    Gregor Gysi:
    "Trotz der schlechteren Bedingungen, die er hatte. Und ich behaupte ja immer, das gab es auch in der Bundesrepublik, Gerhard Schröder kommt ja aus denkbar ärmsten Verhältnissen und ist alles geworden, heute: undenkbar! Heute undenkbar! Und das stört mich ungemein."
    Gysi knüpft mit rhetorischer Raffinesse seine politische Botschaft an eigene Erfahrungen. Der heute 67-Jährige berichtet insbesondere über die Beziehung zu seinem Vater, dem Staatssekretär für Kirchenfragen und späteren DDR-Kulturminister Klaus Gysi. Die Gysis entstammen einem jüdisch-intellektuellen, privilegierten Milieu, der einflussreiche Vater schützte die Kinder, auch der junge Jurist Gregor Gysi galt der DDR in gewisser Hinsicht als unantastbar – und als Verteidiger von Dissidenten wusste er dies sehr wohl. Zugleich stieß Vater Gysi in der Nomenklatura auch an Grenzen:
    Gregor Gysi:
    "Ich bin ja mal gefragt worden, ob es in der DDR Antisemitismus gab. Ich glaube eigentlich nicht, aber es gab etwas als Ersatz dafür: eine tiefe Intellektuellenfeindlichkeit. Dadurch hatte er immer so eine Sonderrolle. Sie haben ihn nie richtig rangelassen. Die Partei war intellektuellenfeindlich. "
    Friedrich Schorlemmer:
    "Wenn sie eine Klugheit hatten, dann wussten sie, wie dumm sie sind."
    Der klassenkämpferische Gysi schweigt in diesem Band. Zu Wort meldet sich vielmehr ein nicht minder wortgewaltiger Gysi, den Nachdenklichkeit und Witz auszeichnen. Er spart nicht an selbstironischen Bemerkungen und verschont auch sein Gegenüber kaum, sondern wirft immer wieder kleine Provokationen ein. Charmant erklärt Gysi, warum sein Gesprächspartner Schorlemmer nach einer kurzen Episode im Demokratischen Aufbruch in die SPD eingetreten, nicht aber in der Partei Karriere gemacht hat.
    Gysi über Schorlemmer:
    "Wenn er in die Politik gegangen wäre und da ein Amt übernommen hätte – nicht mal ein Jahr im Kommunalparlament – auch ein Jahr im Bundestag - dann würde er Dinge kennen, mit denen er noch ganz anders umgehen könnte. Aber wenn er sich darauf reduziert hätte, wäre das ein Fehler gewesen. "
    Hans-Dieter Schütt: Hat er recht?
    Friedrich Schorlemmer: "Ich kann ihm doch da nicht widersprechen."
    Während Gysi sich auch nachdenklich äußert, kommt Friedrich Schorlemmer gewichtig daher. Aus dem 70-Jährigen sprechen im Wechsel Paulus, Luther und Brecht. Und Humor ist seine Sache nicht. Aber er hat zu allem ein scheinbar profundes Urteil parat, ergeht sich in Andeutung und Klischee:
    Friedrich Schorlemmer:
    "Wenn man das Strafgesetzbuch der DDR anguckt, kann der ganze Horror dieses SED-Regimes noch mal richtig aufstoßen. Nun habe ich aber das Strafgesetzbuch, was jetzt gilt, gelesen. Da sind ja manche Formulierungen so ähnlich, also, wenn das mal in andere Hände kommt.... Also, das lohnt auch den Vergleich, was ist substanziell anders?"
    Beide eint, dass sie sich geschickt immer wieder zu Anwälten oder Propheten der Armen und Entrechteten machen, ohne selbst wirklich hoffnungslos arm oder rechtlos gewesen zu sein. Sie umarmen förmlich ihre Leser und ihre Zuhörer. Zwar haben sie in der DDR als Pfarrer oder Anwalt außerhalb der staatlich verordneten Arbeiter- und Bauernnorm gelebt, aber sie gehen mit den Arbeitern und Bauern von damals quasi einen Pakt ein: Sie verbünden sich mit ihnen gegen unverständige Bösewichte aus dem Westen. Das schweißt zusammen. Und das eröffnet sogar die Möglichkeit, DDR-Willkür und -Unrecht zu benennen, ohne den bösen – natürlich aus dem Westen übergestülpten – Begriff "Unrechtsstaat" im Munde führen zu müssen.
    Bleibt die Frage, ob ein Gespräch ein 300-seitiges Buch trägt? Sie ist mit Ja zu beantworten, denn wenn etwas bewahrenswert ist aus 40 Jahren Realsozialismus, so sind es persönliche Erinnerungen.
    Gregor Gysi, Friedrich Schorlemmer:
    Was bleiben wird. Ein Gespräch über Herkunft und Zukunft.
    Aufbau, Berlin 2015
    300 S., 19,95 €
    Gregor Gysi, Friedrich Schorlemmer:
    Was bleiben wird. Ein Gespräch über Herkunft und Zukunft.
    Aufbau Audio, Berlin 2015
    3 CDs, 210 Minuten, 16,99 €