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"Grenzland Europa"
Von Kriechströmen und Wiedervereinigungen

In "Grenzland Europa" wirft Karl Schlögel einen neuen Blick auf Osteuropa. Dabei ist dieses Europa mehr als ein winziger Auswuchs der riesigen Landkarte Eurasiens: Es hat seine eigene Geschichte und Gegenwart.

Von Roland H. Wiegenstein | 07.02.2014
    Seit Jahrzehnten ist Karl Schlögel, Osthistoriker und Zeitdiagnostiker in Osteuropa unterwegs: Kaum ein Gebiet "im Osten" - wie man das hierzulande zu sagen sich angewöhnt hat - das er nicht bereist, wo er nicht seine Erfahrungen und Aufzeichnungen gemacht hätte. Für ihn gehört, was "nach der Wende", dem Zerfall des sowjetischen Imperiums, zu analysieren er nicht müde wird, zu Europa, denn:
    "Europa gibt es wirklich, es muss nicht - auch wenn mit den besten Absichten - erst ausgedacht werden."
    Es ist das Europa der Reisenden, der Truckfahrer und Studenten, der Touristen und Investoren, ein Europa unterhalb und neben dem, was in Brüssel verhandelt wird. Ein Europa, in dem die alten Kulturen wieder sichtbar geworden sind; wenn man sie denn finden und entdecken will, in Lemberg und Moskau, Lodz und St. Petersburg. Und dies Europa ist mehr als ein winziger Auswuchs der riesigen Landkarte Eurasiens: Es hat seine eigene Geschichte und Gegenwart.
    "Europa hat im Guten wie im Schlechten bereits mehr miteinander zu tun, als in Beschwörungsritualen und Zukunftsszenarien zugegeben wird."
    Karl Schlögel hat in zahlreichen Büchern dies Europa, diesen Osten untersucht, den Polenmarkt, der jahrelang am Potsdamer Platz in Berlin bestand, ehe er den neuen Bauten dort weichen musste, Marjampole, den größten Markt für Gebrauchtwagen, das neue Moskau, das nach dem des "Terrors von 1937" wieder aus der versteinerten Zeit Breschnews sich zurückgemeldet hat, sich eingeklinkt hat in die Herausforderungen der Geschichte: All das, was der Leser - auch in seinem neuen Buch "Grenzland Europa" - erfährt, einem Buch, das aus lauter Vorträgen entstand, die der Unermüdliche in den letzten Jahren gehalten hat.
    Er hat die Geopolitik, die Untersuchung des Raums in der Zeit, vom Ludergeruch nationalsozialistischer Eroberungspolitik befreit, bis hin zu einer leidenschaftlichen Rechtfertigungsrede auf die erste Strophe von Hoffman von Fallerslebens "Lied der Deutschen", "von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, sie als europäischen Traum eines bürgerlichen Revolutionärs, der keine Eroberung durch eine Nation wollte, den brüllenden Nationalisten entrissen.
    Unendlich viele Facetten
    Er hat aber auch die unermesslichen Kosten dessen beschrieben, was das "kurze Jahrhundert" von 1914 bis 1989 mit seinen Kriegen und Vertreibungen uns allen angetan hat. Dies Gedenken, das Erinnerung ist und Aufforderung zur Besinnung, kommt in diesen Texten nirgendwo inniger zum Ausdruck als in seiner einlässlichen Beschreibung des Ortes Kreisau, der heute Kryžowa heißt und wo der Widerstand gegen Hitler einen seiner Standpunkte in jedem Sinn hatte, und wo es heute ein deutsch-polnisches Begegnungszentrum gibt, wo man das unternimmt, was für Schlögel Voraussetzung dessen ist, was aus dem Grenzland Eurasiens wieder etwas macht, was in die Mitte Europas gehört: die Erzählungen von dem, was geschehen ist, was allen Europäern zugemutet wurde, und was zur Sprache kommen muss, ehe die Toten zur Ruhe kommen.
    Schlögel geht es um diese Erzählung, um das Narrativ, wie die Historiker sagen, das sich in unendlich vielen Facetten, unendlich vielen widersprüchlichen Stimmen als unaufhörliches Hintergrundgeräusch für den vernehmen lässt, der genau hinhört. In den Orten, in den zahllosen Büchern, in den Monologen derer, die noch leben. Im Durchwursteln, in den verschlungenen, komplizierten Wegen des Handels, eben in dem, was er die "Kriechströme" nennt, die unterhalb aller Politik sich ihren Weg bahnen.
    Zwar sind viele Schienenwege und Straßen noch verrottet, gleichwohl kann man sich schon heute am Berliner Bahnhof Zoo eine Fahrkarte Berlin-Schanghai kaufen und die Reise via Russland in zehn Tagen bewältigen. Freilich braucht man dafür neue Visa, muss neue Grenzen überwinden, aber - es geht! Schlögel hat es ausprobiert. Er hat auch die alten großen Städte für sich (und für uns) wiederentdeckt, die zu Europa gehörten: Prag und Krakau, Czernowitz, St. Petersburg und eben Moskau, die flirrende Metropole. Aber er weiß auch, was die Menschen dort wollen: Sicherheit und Frieden, ein Luftholen nach all dem, was in gefährlichen Zeit der Stagnation ihnen angetan wurde. Er macht klar, welche Umbrüche in den Staaten Osteuropas stattgefunden und was sie gekostet haben:
    "Das Ende der Sowjetunion war eben nicht nur ein Dekorationswechsel, nicht nur das Ende von politischen Institutionen und administrativen Strukturen, sondern die Auflösung einer Lebensform. Kein Aspekt blieb davon unberührt, und jeder von uns hat sogleich Dutzend, ja Hunderte von Beispielen zur Hand, an denen sich die ganze Wucht der Auflösung, der Zerstörung und Neubildung gezeigt hat."
    Aus Beobachtungen auf Tendenzen schließen
    Er nennt solche Beispiele: die Kommunalkas, also Gemeinschaftswohnungen, in die früher große kleingeteilt wurden in allen größeren russischen Städten, oder die kurze Epoche der Anarchie, in der die riesigen (und kleineren) Vermögen der Wenigen entstanden, die Reiselust der neuen Russen, auch der Mittelschicht, deren Anwesenheit an italienischen, griechischen, Malteser Stränden unüberhörbar ist, die Immobilienkäufe im Westen - für alle Fälle - die Basare, die neue Lebensformen des Mangels und des Überflusses anzeigen.
    Schlögels scharfe Beobachtungsgabe, die oft an die phänomenologischen Einsichten Walter Benjamins erinnert, aber auch seine Begabung aus solchen genauen Beobachtungen auf Tendenzen zu schließen, die ein neues, anderes Europa in seinen Anfangsstadien zeigen und die Hoffnung machen auf die nicht mehr kriegerische Routine von Grenzen. Auch wenn neue dazugekommen sind: die der wieder erstandenen baltischen Staaten etwa.
    Er macht klar, dass die Urerfahrung der Zwangsarbeit beginnt, sich aufzulösen, und er macht darauf aufmerksam, dass - von Jugoslawien abgesehen - dieser Epochenwandel, dieser Umsturz all dessen, was vorher galt -bis hin zu den verbindlich-dräuenden Ideologien - sich friedlich und nicht in neuen Eroberungskriegen vollzogen hat. Die neu entstandenen Ethnien sind nicht aufeinander losgegangen. Damit war nicht zu rechnen. Und er hat für diese erstaunliche Entwicklung eine auf den ersten Blick überraschende und doch einleuchtende Erklärung:
    "Ich glaube, dass der Konsum, ja der Konsumrausch, der Russland erfasst hat, Ausdruck dieser Sehnsucht ist, endlich in einem normalen Land zu leben. Der Wille zum Konsum besagt: Es gibt eine Gegenwart, in der wir heute leben, und nicht nur eine Zukunft, für die wir uns aufopfern müssen; es geht nicht immer nur um Heldentaten und große Visionen, von denen die sowjetische Geschichte mit ihren Megaprojekten gekennzeichnet ist, sondern um die kleinen Dinge des Alltags."
    Für all das gibt Schlögel Beispiele: Seine Vorträge sind immer auch Aufrufe, dem Neuen aufmerksam und antwortbereit zuzuhören, die Chancen nicht zu verpassen und dorthin auch einmal zu fahren, wo sich all das begibt. Dass man dabei mit Landschaften und Städten bekannt gemacht wird, deren Schönheit uns überwältigen kann, das zu betonen, wird dieser Ostlandfahrer nie müde. Er macht neugierig auf andere Welten und Erfahrungen und gibt im Chaos die Hoffnung nicht auf, dass Osteuropa nicht nur Grenzland Eurasiens ist, sondern Teil des Kontinents, den allein als Europa zu sehen wir uns angewöhnt haben. 1989 war eine Wasserscheide, gehen wir über den Fluss.
    Karl Schlögel: "Grenzland Europa"
    Hanser Verlag München 2013, 352 Seiten, gebunden, 21,90 €