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Grenzverlauf im Himalaya
Konflikt zwischen China und Indien eskaliert

Ihr Verlauf wurde nie endgültig fixiert: Seit rund 60 Jahren streiten sich Indien und China über ihre genauen Staatsgrenzen im Himalaya. Nach mehreren militärischen Zwischenfällen nehmen die Spannungen zwischen den beiden Atommächten wieder zu.

Von Bernd Musch-Borowska | 05.09.2020
Bei den Zusammenstößen zwischen chinesischen und indischen Truppen in der Region Ladakh, Himalaya, sind mindestens 20 indische Soldaten ums Leben gekommen.
China und Indien haben ihre Truppen in der Grenzregion verstärkt. (Mukhtar Khan/AP)
Militärkonvois auf dem Weg ins Hochgebirge des Himalaya. Die Mannschaftstransportwagen der indischen Streitkräfte quälen sich die Serpentinen der Passstraße hoch, die die kaschmirische Hauptstadt Srinagar mit Leh in Ladakh verbindet, der zweithöchsten ständig bewohnten Stadt der Welt, auf 3.500 Metern Höhe. In der kargen Landschaft am westlichen Abschnitt des Himalaya gibt es seit Wochen immer wieder Zusammenstöße zwischen indischen und chinesischen Soldaten.
Mitte Juni waren bei einem militärischen Zusammenstoß an der Line of Actual Control, der inoffiziellen Grenzlinie entlang des Galwan-Flusses mindestens 20 indische Soldaten und - nach unbestätigten Angaben - auch einige chinesische Soldaten getötet worden. Es war der schlimmste Grenzzwischenfall zwischen den beiden Atommächten seit dem Krieg im Jahr 1962, den China gewonnen hatte.
Nun wächst die Sorge vor einer militärischen Eskalation, obwohl sich der indische Armeechef, General Manoj Mukund Naravane zuversichtlich gab, dass der Konflikt noch friedlich beigelegt werden könne. Manoj Mukund Naravane:
"Die Situation entlang der Line of Actual Control ist seit zwei drei Monaten etwas angespannt. Wir haben Truppen in die Region verlegt, zu unserer eigenen Sicherheit und zur Sicherung der Grenzlinie. Unsere Leute in Leh sind hochmotiviert und bereit für jede Situation, die noch entstehen kann."
Doch die Bewohner der Hochgebirgsregion sind beunruhigt. Sonam Tsering, aus dem kleinen Ort Chushul in Ladakh meint:
"Unsere Viehhirten dürfen nicht mehr in die Nähe des Grenzgebiets gehen. Die chinesische Volksarmee kommt dort immer näher. Jedes Jahr holen die sich ein paar Kilometer von unserem Land."
Stanzin Dorjay klagt über die Einschränkungen der Kommunikation angesichts der Spannungen mit China:
"Seit Tagen sind der Mobilfunk und das Internet bei uns abgeschaltet. Das ist nicht leicht für die Leute, die in der Nähe der Grenze leben. Ich hoffe, die finden bald eine Lösung, denn für uns hier ist diese Situation ein Riesenproblem."
Gegenseitige Schuldvorwürfe zwischen Indien und China
In den vergangenen Tagen warf Indien China neue Provokationen vor. Chinesische Truppen hätten versucht, mit Militärbewegungen am Südufer des Sees Pangong Tso, den Status Quo im Grenzgebiet zu verändern, hieß es in einer Erklärung des indischen Verteidigungsministeriums. Indische Truppen seien dem zuvorgekommen und hätten Maßnahmen ergriffen, um ihre Positionen zu verteidigen, hieß es. Die Regierung in Peking wies die indische Darstellung zurück. Es seien vielmehr die indischen Soldaten gewesen, die die Grenzlinie verletzt hätten, so die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Hua Chunying.
"Indien hat seit Anfang des Jahres die Vereinbarungen über den Grenzverlauf im westlichen Abschnitt der Grenze verletzt und damit den Frieden und die Stabilität in der Region gefährdet. Die Verantwortung für die Spannungen liegen allein auf indischer Seite."
Die beiden Atommächte sind stets darum bemüht, ihre Grenzstreitigkeiten nicht eskalieren zu lassen. Doch Indiens Premierminister Narendra Modi machte jüngst noch einmal deutlich, dass er keinen Millimeter des indischen Staatsgebietes aufgeben werde. Bei einem Besuch der Grenztruppen kündigte er weitere Infrastrukturprojekte an - auch in Gebieten, die von China beansprucht werden. Er sagte:
"Wir haben unsere Investitionen in die Grenzinfrastruktur verdreifacht. Dadurch wurde die Entwicklung in der Region gefördert und der Bau von Straßen und Brücken im Grenzgebiet verstärkt."
Expansive Politik Chinas
Medienberichten zufolge hat auch China zahlreiche Infrastrukturprojekte in der Region in die Wege geleitet. In Tibet seien Investitionen in Höhe von umgerechnet fast 150 Milliarden US-Dollar geplant, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters. Darunter eine Eisenbahnlinie zwischen Tibet und Nepal und Autobahnen bis an die Grenzlinie zu Indien heran. Eine offizielle Staatsgrenze zwischen Indien und China gibt es nicht, stattdessen mehrere Linien, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert von den britischen Kolonialherren gezogen wurden.
Umstritten ist demnach unter anderem eine Region im Osten Ladakhs, genannt Aksai Chin, eine karge Landschaft aus Fels, Gletschern und Salzseen auf 4.000 Metern Höhe. Außerdem ein Gebiet im indischen Bundesstaat Sikkim im Dreiländereck Indien-China-Bhutan und der indische Bundesstaat Arunachal Pradesh, den die chinesische Regierung als Süd-Tibet bezeichnet.
Das erneute Aufflammen des jahrzehntelangen Konflikts stehe im Zusammenhang mit der expansiven Politik der Volksrepublik China, die auch in anderen Regionen der Welt zu beobachten sei, so Harsh V. Pant, der China-Experte der Observer Research Foundation, einem politischen Think Tank in Delhi:
"Viele betrachten das als Teil der Durchsetzungskraft, die China in anderen Regionen an den Tag legt, im südchinesischen Meer beispielsweise, sowie gegenüber Taiwan und Hongkong. Indien würde den Konflikt sicher gerne einvernehmlich beilegen, aber die indischen Streitkräfte werden ihre Position an der Grenze halten, solange die Situation es erfordert."
Verbot chinesischer Apps in Indien
Indien hat die Auseinandersetzung mit China inzwischen auch auf die Wirtschaft verlagert oder ausgeweitet. In den vergangenen Tagen wurden über 100 weitere chinesische Smartphone-Apps verboten. TikTok und andere populäre chinesische Social Media- und Gaming-Anwendungen sind in Indien bereits seit einiger Zeit gesperrt. Eine weitere Eskalation kann sich Indien jedoch kaum leisten. Nach Einschätzung von Experten ist die Volksrepublik China dem Rivalen Indien auf militärischem Gebiet und auch wirtschaftlich deutlich überlegen.
Medienberichten zufolge wendet China jährlich über 260 Milliarden US-Dollar für sein Militär auf, Indien nur rund 70 Milliarden. Auch bei den Atomwaffen steht China weit vorne. Wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI in seinem jüngsten Bericht feststellte, verfügt China schätzungsweise über 320 nukleare Sprengköpfe, Indien über etwa 150.