Freitag, 19. April 2024

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Grete Weil: "Tramhalte Beethovenstraat"
Widerstand, nicht nur heldenhaft

Grete Weil (1906-1999) wollte Zeugnis ablegen. Das tat sie mit ihrem bekanntesten Roman "Tramhalte Beethovenstraat", der nun neu aufgelegt worden ist. Er gibt Einblicke in jüdische Schicksale und in das Milieu des Widerstands im Amsterdam der 1940er-Jahre. Der Roman zeugt auch von der großen Humanität der Autorin.

Von Paul Stoop | 22.03.2021
Collage- Hintergrund: Stockimage Amsterdam / Vordergrund: Buchcover "Tramhalte Beethovenstraat von Grete Weil mit Portrait der Autorin
Die Schriftstellerin Grete Weil emigrierte 1935 in die Niederlande, von wo aus sie über den Widerstand in Amsterdam schrieb und ihre eigenen Flucht- und Verlusterfahrungen verarbeitete. (Verlag Das kulturelle Gedächtnis )
Der junge deutsche Schriftsteller Andreas gilt nach der Veröffentlichung zweier Gedichtbände und einer Novelle als vielversprechendes Talent. 1942 verdankt er es den Beziehungen seiner Familie, dem Kriegseinsatz zu entkommen. Dafür verpflichtet er sich, als Zeitungskorrespondent aus dem besetzten Holland zu berichten.

Nächtlicher Zeuge

Andreas bezieht ein Zimmer in der vornehmen Beethovenstraat nahe dem Amsterdamer Stadtzentrum, ein Deutscher in Zivil als Untermieter zunächst skeptischer Holländer. Eigentlich will er die Korrespondentenarbeit nebenbei erledigen und sich seinem Roman über einen Kunstfälscher widmen. Aber schon bald wird er in das Drama der Deportationen hineingezogen. Jede Nacht beobachtet er von seinem Fenster aus, wie Hunderte Menschen in Straßenbahnen gezwungen werden. Es ist der Beginn ihres so genannten Weges "nach Osten":
"Halblaute scharfe Kommandos: 'Schnell, schnell, schneller. Wagen eins, eins a, zwei, zwei a, drei.' Die Jungen mit den Armbinden schleppten Koffer, Rucksäcke, führten alte Leute. Sie drängelten in die Wagen, in fürchterlicher Eile, Hühner, die gackernd zum Futternapf rennen, stießen sich gegenseitig mit Ellbogen fort, voll Angst, nicht mitzukommen, stolperten die Trittbretter hinauf, ein Mann fiel zu Boden, die anderen stiegen über ihn hinweg, konnten es nicht erwarten, drinnen zu sein. Immer wieder schlugen Hunde an, von ihren Führern durch einen leichten Schlag mit der Leine dazu angehalten."
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Damit der Holocaust nicht vergessen wird, empfiehlt der Psychotherapeut Peter Pogany-Wnendt sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Der Holocaust zeige, wie eine Welt ohne Menschlichkeit und Liebe aussehe.
Andreas ist schockiert und beteiligt sich am Widerstand. Er übernimmt Aufgaben, die er als Deutscher unauffällig erledigen kann. Vor allem aber gewährt er dem 17-jährigen jüdischen Jungen Daniel, der den Schergen bei einem der nächtlichen Straßenbahntransporte entwischt ist, Unterschlupf.
"Daniel stand mitten im Zimmer, Arme und Hände flach an den Leib gepresst, den Kopf ein wenig zur Seite gelegt, als sei er zu schwer, um ihn aufrecht zu halten. So sahen Erhängte aus; solche, die es hinter sich haben und friedlich im Winde pendeln."
Die Sorge um seinen Schützling bestimmt schon bald Andreas’ Alltag. Als Daniel von einem nächtlichen Kuriergang nicht zurückkehrt, ist allen Beteiligten klar, dass die Besatzer ihn erwischt haben müssen. Auch Miep, eine der Organisatorinnen des Widerstandsnetzwerks, fliegt auf.

Eine Emigrantin in Amsterdam

Grete Weil, 1906 geboren, verarbeitete in "Tramhalte Beethovenstraat" ihre eigenen Erfahrungen: die großbürgerliche bayerische Herkunft, das Emigrantenleben der 30er-Jahre, als sie in der Beethovenstraat ein Fotostudio betrieb, die Deportation und Ermordung ihres Mannes Edgar Weil und ihre Arbeit für den Amsterdamer Judenrat, der ihr das Überleben sicherte, bevor sie selbst untertauchen musste.
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Genaue Kenntnisse der niederländischen Situation und die psychologisch präzisen Beobachtungen zeichnen den spät anerkannten Roman aus. Der nächtlich vollzogene Judenmord wird nur ansatzweise direkt geschildert, das Grauen entfaltet sich im Handeln der Personen, die es wahrnehmen und erleiden. Auch der Widerstand hat nichts Eindeutiges, Heroisches. Andreas handelt vor allem aus dem Drang, mit dem Einsatz für seinen Schützling seinem eigenen Leben einen Sinn zu geben.
Die Tatsache, dass er Daniel nicht retten konnte, belastet Andreas nach dem Krieg. Er hat eine Cousine von Daniel geheiratet und lebt in München. Seine eigene Familie blendet, wie große Teile der bundesdeutschen Gesellschaft um 1960, die Nazi-Verbrechen aus. Ihn dagegen hält die Vergangenheit gefangen. Er ist emotional blockiert, kann weder lieben noch schreiben.

Widerstand als Lebenssinn

Von einer spontanen Fahrt nach Amsterdam erhofft er sich eine Befreiung. Das erneute Durchleben der Besatzungsjahre aber verstärkt nur die paradox wirkende Sehnsucht nach dieser Zeit, die ihm einen Lebenssinn gegeben hat:
"Er sehnte sich nach der Zeit seiner Angst, nach verdunkelten Straßen, dem Schießen der Flak, seinem Zimmer, nach Hunger, Illegalität, Empörung, nach dem großen Schmerz."
Auch ein Besuch der Gedenkstätte Mauthausen bietet Andreas keine Linderung, kein Mehr an Verstehen. Er empfindet in Mauthausen, wo Daniel ermordet worden ist, nur Leere:
"Niemand, der es sich anschaute, würde auch nur das Geringste von dem Vergangenen erfahren. Niemand würde eine Antwort bekommen, wie es möglich gewesen war. Die Gemordeten hatten das Geheimnis und das ihrer Mörder mit sich genommen."

Die Kraft der Psyche

Wie frühe niederländische Nachkriegsromane, etwa von Wilhelm Frederik Hermans, entfaltet "Tramhalte Beethovenstraat" seine Kraft weniger durch die Schilderung der Ereignisse selbst als durch den Blick auf die Psyche der Beteiligten, die sich der Ungeheuerlichkeit der Situation ausgesetzt sehen. Nichtjüdische deutsche Überlebende wie Andreas, die die Verbrechen nicht verdrängen konnten, mussten mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit und des Scheiterns leben.
Schuld hat Grete Weil als jüdische Überlebende Zeit ihres Lebens übrigens auch selbst empfunden, wie sie in ihrer Autobiografie berichtet hat. Es ist ein großes Verdienst des Verlags, ihren Roman, der 1963 zu früh erschien, wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Grete Weil: "Tramhalte Beethovenstraat"
Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin. 192 Seiten, 22 Euro.