Es sind herrliche Olivenfelder, grüne Hügel und die Felsen des nahen Parnass-Gebirges. Friedlich wirkt die Landschaft rund um den Ort Distomo in Mittelgriechenland. Eine idyllische Heimat war dieser Ort auch für die etwa 1800 Menschen, die im Juni 1944 in und um Distomo lebten. Doch am 10. Juni 1944 änderte sich das auf grausame Weise. Deutsche SS-Soldaten zogen mit bestialischer Gewalt durch das Dorf und ermordeten Männer, Frauen und auch viele Kinder in dem Dorf. Es war ein barbarischer Blutrausch, den bis heute niemand erklären kann.
"Sie haben sie alle aus dem Haus getrieben und mit einem Maschinengewehr getötet. Das Gehirn meiner Mutter war auf der Straße verspritzt. Meine Großmutter hat sie gefunden".
Eleni Sfoundouris hat diesen 10. Juni in Distomo als 12-Jährige nur mit sehr viel Glück überlebt. Sie blieb unentdeckt, als die SS-Soldaten die Türen der Häuser eintraten. Deutsche Soldaten massakrierten selbst Babys, schnitten Frauen die Brüste ab - viele der Gewaltakte sind in Vernehmungsprotokollen dokumentiert. Sie komplett zu lesen, ist nur schwer zu ertragen.
218 Menschen wurden am 10. Juni in Distomo auf brutalste Weise ermordet in nur wenigen Stunden. Die Überlebenden blieben mit ihren getöteten Angehörigen alleine. Die deutschen Soldaten haben Distomo noch vor der Dämmerung wieder verlassen.
"Alles, was meine Welt war, war verschwunden"
Auch der damals 4-jährige Argyris Sfoundouris hat überlebt - ihn hat vermutlich ein Angehöriger der geheimen deutschen Feldpolizei, die die SS-Kämpfer begleitete, in einen Winkel des Ortes geschickt, in den keiner der Mörder kommen sollte. Als die SS-Soldaten wieder aus Distomo abzogen, hat der 4-Jährige wie viele andere Angehörige der getöteten Opfer, lange gebraucht, um zu verstehen, was überhaupt passiert war:
"Die Eltern waren weg, das Haus war weg. Alles, was meine Welt war, war eigentlich verschwunden. Und obwohl die Großeltern sehr lieb waren und drei ältere Schwestern und noch eine Tante. Die haben sich alle um mich gekümmert. Und trotzdem, es vergehen Jahre. Vielleicht bis kurz bevor ich in die Schweiz kam. Der Wille zum Leben war nicht besonders groß".
Warum hat die Wehrmacht in Distomo aber auch in vielen anderen Dörfern Griechenlands solche mit Worten kaum fassbaren Massaker begangen? Und warum, fragt Amalia Papaioanni in Distomo, waren die Gewaltakte in ihrem Dorf an mehreren Angehörigen ihrer Familie so sadistisch ausgerichtet?
"Ich frage mich immer wieder, warum das so bestialisch war. Das kann ich mir nicht erklären. Man kann jemanden hinrichten, schnell. Das passiert oft im Krieg. Aber hier in Distomo wurden Menschen ausgeweidet, niedergemetzelt und auf widerwärtigste Weise abgeschlachtet. Das kann bis heute keiner Verstehen - warum?"
Vergeltungsaktion für Partisanenangriff
Mehrere Jahrzehnte lange geforscht darüber hat der deutsche Historiker Karl Heinz Roth von der Stiftung für Sozialgeschichte in Bremen:
"Es kam zu einer Eskalation, weil die Deutschen glaubten, wegen der Schwäche ihrer Truppen, den entstehenden Widerstand physisch ausrotten zu können. Es kam zu schrecklichen Geiselnahmen und Geisel-Erschießungen. 50 bis 100 Griechen wurden für einen verwundeten deutschen Soldaten ums Leben gebracht. Es gab dann auch nach 1943 Massaker in den Dörfern. Es ist eine unglaubliche Dimension der Gewalt, die kann man nicht ungeschehen machen".
Auch in Distomo war der Anlass für den blutigen 10. Juni 1944 ein Partisanenangriff. Die sogenannte Vergeltungsaktion traf vor allem Zivilisten. Hundertfache Kriegsverbrechen, die auch in der Wehrmacht hätten juristisch verfolgt werden müssen. In wenigen Fällen wurde ermittelt, in den meisten Fällen kamen die Täter, deutsche Kriegsverbrecher, ohne Bestrafung davon - oder sie starben später selbst im Krieg.
Das Leiden vererbt sich
Die Hinterbliebenen, wie Argyris Sfoundouris, der als 4-jähriger das Massaker überlebte, haben ihr ganzes Leben lang versucht, das Erlebte zu verarbeiten:
"Ich habe vor allem Bilder - ganz starke Bilder, die sich da eingraviert haben in meiner Seele. Auch akustische Erinnerungen - also von Maschinengewehren, das war natürlich sehr eindrücklich. Das hatte ich vorher nicht gehört - und vor allem nicht so massenhaft".
Die Bewohner Distomos, die im Juni 1944 Verwandte durch das SS-Massaker verloren haben, leiden bis heute. Sie leiden unter der Gewalt, mit der diese Wehrmachtsverbrechen in nur wenigen Stunden zigfaches Leben in Distomo zerstört oder auf Jahrzehnte verletzt haben.
Amalia Papaioanni, die Archäologin aus Distomo, forscht im Museumsverein des Ortes und versucht, ein wenig mehr Klarheit über das Massaker in ihrem Heimatort zu bekommen. Sie betreut Besuchergruppen, zwischen Gedenktafeln und Schwarz-Weiß-Fotos. Auch sie leidet immer noch - 75 Jahre nach dem Verbrechen. Zum Zeitpunkt des Massakers war sie noch lange nicht geboren. Das Leiden vererbt sich, sagt sie:
"Als wir kleine Kinder waren, erzählten uns die Omas, was beim Massaker passiert war. Ich hatte in meinen Alpträumen nie Angst vor der Dunkelheit oder vor bösen Hexen, nein - ich fürchtete mich vor den Deutschen. Ich habe sie vor mir gesehen, ich hörte die Stiefel, dass sie hochkommen im Haus. Und meine Mama und keine Familie mehr und dann wurde ich wach."
Um die Entschädigungen wird noch gerungen
Amalia Papioanni führt Schulklassen durch das kleine Museum in Distomo, ab und zu auch deutsche Touristen. Auch Bewohner, einige griechische Politiker und auch deutsche Unterstützer vom Arbeitskreis Distomo werden sich in diesem Jahr in den Tagen um den 10. Juni hier treffen, um ihre Forderungen einmal mehr offen vorzutragen: Sie wollen, dass gerade die Familien in diesem Märtyrerort umfassend entschädigt werden.
In der langjährigen Auseinandersetzung um fehlende Reparationszahlungen Deutschlands an Griechenland spielt der Ort Distomo eine wichtige Rolle. Die deutsche Bundesregierung bleibt weiter auf ihrem Standpunkt, juristisch sei die Frage längst geklärt. Allerlei Juristen, Historiker und Publizisten aber halten weiter dagegen - etwa Eberhard Rondholz. Er schreibt als Publizist seit Jahrzehnten über die Verbrechen deutscher Wehrmachtssoldaten in Griechenland:
"Vor allem juristisch ist nichts erledigt. Es verjährt nichts. Und die Forderungen bleiben formell bestehen. Und wenn diese Forderungen vor ein internationales Gericht kommen, Forderungen von Staaten, dann gibt es auch das Prinzip der Staatenimmunität nicht mehr, was bisher gewirkt hat. Und dann wird es für die Bundesrepublik nicht mehr ganz so einfach sein, zu sagen - es sei alles erledigt".