Silke Hahne: Am Sonntag haben die Griechen voraussichtlich die Wahl. Ja oder Nein können sie zur Sparpolitik der Geldgeber sagen, wenn auch zu einem Vorschlag, der eigentlich keine Gültigkeit mehr besitzt und die Wahl damit eher zu einem Symbol für ein Ja oder Nein zum Euro werden lässt. So argumentieren vor allem die Ja-Befürworter. Die Nein-Sager führen vor allem eines an: die Armut, das marode Gesundheitssystem und die soziale Not, der sie jeden Tag begegnen.
Mitgehört hat Christoph Butterwegge, Armutsforscher an der Universität Köln. Guten Tag.
Christoph Butterwegge: Guten Tag, Frau Hahne.
Hahne: Herr Butterwegge, haben die Geldgeber die Konsequenzen der Sparpolitik für den Staat und die Menschen möglicherweise unterschätzt?
Depression und Suizide haben zugenommen
Butterwegge: Ja. Es wird sicherlich bei den Politikern welche geben, die sich gar nicht vorstellen können, dass die Dritte Welt jetzt vor der eigenen Haustür hier in Europa, nämlich in Griechenland sich einnistet. Andere, glaube ich allerdings auch, die nehmen die Verelendung großer Teile der griechischen Bevölkerung bewusst in Kauf, weil sie der Auffassung sind, dass die Griechen über ihre Verhältnisse gelebt haben und man jetzt den Geldhahn zudrehen muss. Im Übrigen glaube ich auch, dass viele der Verantwortlichen wenig Sensibilität für dieses Problem wachsender Not und großer sozialer Ungleichheit haben. Das sieht man auch bei uns in Deutschland. Wer mal in den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD guckt, der stellt dann fest, dass da auf 185 Seiten das Wort Kinderarmut gar nicht vorkommt, und das zeigt auch, dass man für dieses Problem eigentlich wenig Verständnis hat.
Hahne: Um beim Beispiel Griechenland zu bleiben. Laut offizieller EU-Statistik kann sich jeder fünfte Grieche grundlegende Dinge des täglichen Lebens nicht mehr leisten. Das ist ja dann eine kollektive Armut, die sich durch breite Teile der Gesellschaft zieht. Was macht denn so ein Phänomen mit Gesellschaften, vielleicht auch Volkswirtschaften?
Butterwegge: Ja das führt natürlich in der Folge zu Perspektivlosigkeit. Wenn aus armen Kindern arme Jugendliche und dann junge Menschen werden, die selber womöglich wieder arme Kinder bekommen, dann fällt eine Gesellschaft auch auseinander, denn auf der anderen Seite gibt es natürlich auch in Griechenland Reiche und Wohlhabende und ich denke, es wird sozialer Unfriede geschaffen. Nicht nur individuelle Folgen sind da, dass man in Apathie fällt, in Resignation - die Depressionen und die Suizide haben in Griechenland stark zugenommen -, sondern umgekehrt gibt es natürlich auch als Folge die Möglichkeit, dass statt Passivität eher der Mut der Verzweiflung zu Tage tritt und auch aggressive Entwicklungen stattfinden. Soziale Verwerfungen machen jedenfalls eine Gesellschaft am Ende ganz sicherlich nicht zukunftsfähiger.
Hahne: Das heißt, ich höre daraus, Sie wünschen sich auch ein Nein als Ausgang für das Referendum?
"Rückkehr zur Drachme ist keine Perspektive"
Butterwegge: Ja, ich würde mir schon wünschen, dass Europa Solidarität zeigt statt Austerität zu diktieren. Man kann ja gar nicht von Sparpolitik mehr reden, sondern was den Griechen zur Auflage gemacht wird, das sind ja Kürzungen im Rentenbereich. Von den Renten leben häufig ganze Großfamilien und das heißt, man zerstört da wirklich das soziale Netz der Familien, die in Griechenland übrigens auch eine ganz besonders große Rolle spielt. Das ist vielleicht auch ein wichtiger Schutzfaktor für die Kinder, dass sie eine Familie haben nicht nur als soziales Auffangnetz, sondern auch als moralische Stütze. Aber wenn man jetzt denen die materielle Grundlage entzieht, den Familien, dann bedeutet das natürlich für Kinder auch absolutes Elend und Not.
Hahne: Jetzt argumentieren natürlich viele, dass ein Nein trotzdem das Land in eine noch tiefere Krise stürzen würde. Damit ist dann ja eigentlich auch keinem geholfen.
Butterwegge: Ich teile diese Einschätzung dann, wenn daraus der Grexit würde. Eine Rückkehr zur Drachme wäre keine Perspektive für Griechenland, so wie ich das einschätze. Aber das Nein mehrheitlich jetzt am Sonntag würde ja das nicht unbedingt zur Konsequenz haben, sondern ich glaube, die große Mehrheit der Griechen möchten in Europa und auch im Euro bleiben, und das heißt, es müsste neu verhandelt werden nach dem Nein und die Europäische Union insbesondere müsste sich bewegen, natürlich auch der IWF und die Europäische Zentralbank, und alle Institutionen müssten bessere Konditionen an Geldzusagen binden und das hieße für mich nicht nur Kürzungen, sondern Investitionen in Griechenland ermöglichen und damit dem Land eine Perspektive geben.
Hahne: Gehört zu diesen Konditionen für Sie auch ein Schuldenschnitt?
Butterwegge: Das ist sicher nötig, weil Griechenland diese Schulden auf Dauer nicht bedienen kann, und deswegen wird man nicht daran herumkommen, auch einen Schuldenschnitt zu machen. Aber natürlich müsste auch die Rückzahlung von Schulden daran gebunden werden, dass die griechische Wirtschaft wieder wächst. Das könnte man ja so vereinbaren, dass gewissermaßen ein Schuldenmoratorium zunächst einmal dafür sorgt, dass den Griechen nicht der Hals zugeschnürt wird, sondern dass sie dann die Schulden zurückzahlen, wenn sie dazu wieder aufgrund einer besseren wirtschaftlichen Situation in der Lage sind.
"Eine Aufbruchsstimmung muss erzeugt werden"
Hahne: Im Falle der IWF-Kredite könnte das ja zu der absurden Situation führen, dass Entwicklungsländer, die ja auch in den Fonds einzahlen, am Ende für die Schulden eines entwickelten Landes aufkommen. Ist das nicht auch ein bisschen absurd?
Butterwegge: Ich halte wenig davon, jetzt die Armen gegeneinander auszuspielen. Im Grunde ist Griechenland ja jetzt schon das Armenhaus Europas, wenn man sieht, welche Entwicklungen sich da abspielen. Und es wäre so wichtig, eine Aufschwungstimmung und Aufbruchstimmung in Griechenland zu erzeugen. Das tut man aber natürlich nicht, indem man die Armut vermehrt, sondern das täte man, indem man dem Land Hoffnung gibt, und Hoffnung heißt in diesem Fall auch Unterstützung in finanzieller Hinsicht.
Hahne: … sagt Christoph Butterwegge, Armutsforscher an der Universität Köln. Herr Butterwegge, danke für das Gespräch.
Butterwegge: Bitte schön.
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