Antje Allroggen: Moskau und Athen befinden sich aus westlicher geopolitischer Sicht heraus – bewusst provokativ gesprochen – eher in Randlagen, mehr als 2.200 km Luftlinie voneinander entfernt. Dennoch ist in den vergangenen Tagen viel von gemeinsamen geistigen Wurzeln die Rede. Der russische Präsident Wladimir Putin begrüßte seinen griechischen Amtskollegen Alexis Tsipras gestern mit den Worten in Moskau, er sei froh, dass dieses Treffen unmittelbar vor dem orthodoxen Osterfest stattfinde.
"Unser gemeinsamer Feiertag", sagte er wörtlich. Gehen diese einleitenden Worte weiter als ein normaler Smalltalk? Das habe ich Martin Schulze Wessel gefragt, Professor für Osteuropäische Geschichte an der LMU München.
Martin Schulze Wessel: Ja, das ist entschieden sehr viel mehr als ein Smalltalk. Zum einen muss man feststellen, dass es für die Rede eines gemeinsamen Erbes durchaus eine reale Grundlage gibt. Europa ist ja nicht einfach nur der Westen, sondern Europa hat eine römische, aber eben auch eine byzantinische Tradition, und diese Tradition des Byzantinischen Reiches verbindet Griechen und Russen in der Tat miteinander. Das wird jetzt sehr instrumentell eingesetzt, aber es gibt eine kulturelle Grundlage, mit dem so eine Politisierung spielen kann.
"Es gibt keine Traditionen, die aus sich heraus wirken"
Allroggen: Wenn wir zunächst bei der Religion bleiben, bei einigen Unterschieden gibt es hier eben auch Verbindendes: Die orthodoxe Christianisierung Russlands im 10. Jahrhundert ging vom griechisch geprägten Byzanz aus, die Schriften der Slawenapostel aus der Thessaloniki bildeten die Grundlage dafür. Aber trägt diese Verbindung wirklich bis heute und ist sie auch wechselseitig ergiebig?
Schulze Wessel: Das ist eine gute Frage. In der Tat sind alle Traditionen, die politisch bemüht werden, immer Traditionen, die man aktivieren muss, es gibt keine Traditionen, die aus sich heraus wirken würden. Sowohl Griechenland als auch Russland sind ja nicht durch und durch christianisierte Länder, sondern sie haben auch starke säkulare Traditionen. Deswegen muss man vorsichtig sein, aber es ist kein Zufall, dass Tsipras schon im Vorfeld seines Besuches ein Interview der russischen Agentur Tass gab, in der er als säkular geprägter, eigentlich antiklerikal geprägter Politiker auf die Gemeinsamkeit der Religion hinwies. Das löst doch Schwingungen aus bei größeren Teilen der russischen und auch der griechischen Bevölkerung.
"Relgion spielt in Russland eine besondere identitätsbildende Rolle"
Allroggen: Spielt da der Nationalismus vielleicht auch eine Rolle? In Russland definiert er sich ja in großen Teilen durch den Glauben, also dass Gott Russland eine besondere Mission in der Welt gegeben habe und Moskau das dritte Rom sei. Auch in Griechenland gibt es ja zahlreiche historische Vertiefungen zwischen Religion und nationaler Identität. Wie ähnlich sind sich beide orthodoxe Kirchen in ihrem Verhältnis zu modernen? Nehmen sie deutlichen politischen Einfluss?
Schulze Wessel: In beiden Ländern ist es so, wie es grundsätzlich auch in anderen Ländern ist, dass Religion eine wichtige Ressource für Nationalismus ist. Alle europäischen Nationalismen haben sich im 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert auf religiöse Versatzstücke gegründet.
Das hat sicherlich in Russland auch aktuell eine ganz besondere Bedeutung. Religion spielt nach dem Zerfall der Sowjetunion für Identitätsbildung in Russland eine ganz vorherrschende, ganz dominierende Rolle, und sicherlich hat das auch etwas zu tun mit der organisatorischen Verfasstheit der orthodoxen Kirche. Und hier kann man dann eine Parallele zwischen Griechenland und Russland ziehen, die den Nationalstaaten oder den staatlichen Rahmen folgen – im Unterschied beispielsweise zur römischen Kirche, die übernationaler organisiert ist. Aber aus diesen organisatorischen Unterschieden kann man nicht allzu viel ableiten.
Allroggen: Wenn Putin heute seinem griechischen Kollegen ein Gemälde übergibt, das im Zweiten Weltkrieg von deutschen Besatzern gestohlen wurde und vor Kurzem von einem russischen Sammler zurückgekauft wurde, und noch dazu eine Ikone, noch dazu des heiligen Nikolaus, nun aus Russland nach Griechenland zurückkehren soll, was lesen Sie aus diesen Gesten? Da geht es ja nicht nur um das Beschwören der russisch-griechischen Freundschaft, sondern auch um die Rolle des Westens, ganz konkret Deutschlands, oder?
Schulze Wessel: Ja, sicherlich. Religion und Antifaschismus, das sind die beiden Ressourcen, auf die sich der Versuch, eine Nähe zwischen Griechenland und Russland zu konstruieren, vor allen Dingen stützt. Und für einen Politiker wie Tsipras, der selbst nicht religiös ist, ist es selbstverständlich sehr viel leichter und wirkungsvoller, sich auf den antifaschistischen Kampf im Zweiten Weltkrieg zu beziehen, auf die gewaltigen Opfer, die Griechenland wie Russland im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen NS-Deutschland erleiden mussten. Das ist die wichtigste Grundlage der Übereinstimmungen zwischen Russland und Griechenland.
Allroggen: Und da hat man doch vor Kurzem noch gedacht, der Begriff Antifaschismus habe den Fall des Eisernen Vorhangs nicht wirklich überlebt. Der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel über neue und alte griechisch-russische Wahlverwandtschaften.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.