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Griechische Polizei ist "Feindbild" für viele Jugendliche

Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt, eine fast schon traditionelle Gegnerschaft zwischen Jugendlichen und der Polizei und eine Politik des Zusehens: der Journalist Harry Papachristou fürchtet um sein Land. Wenn es wieder zu einem Zwischenfall wie dem gewaltsamen Tod eines 15-jährigen Demonstranten käme, könnte die Situation erneut eskalieren.

Harry Papachristou im Gespräch mit Stefan Heinlein |
    Stefan Heinlein: Die Nacht in Griechenland blieb weitgehend ruhig, doch mit dem Beginn der Aufräumarbeiten hat auch die Suche nach den tieferen Ursachen für die Krawalle begonnen. Die Erklärungen reichen von der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher bis hin zur korrupten Cliquenwirtschaft der griechischen Gesellschaft. Doch nicht nur junge Menschen gehen auf die Straße, um teilweise gewaltsam ihrem Ärger Luft zu machen; auch die Gewerkschaften demonstrieren mit einem landesweiten Streik gegen die Reformen der konservativen Regierung. – In Athen begrüße ich jetzt den griechischen Journalisten Harry Papachristou. Guten Morgen!

    Harry Papachristou: Guten Morgen.

    Heinlein: Herr Papachristou, die Lage in Athen hat sich offenbar zunächst beruhigt. Dennoch: Brodelt es unter der Oberfläche weiter?

    Papachristou: Das kann man wohl sagen. Man kann auch sagen, dass sich die Lage beruhigt hat, aber ruhig nur im Vergleich zu dem absoluten Chaos, das am Wochenende geherrscht hat. Das heißt, gestern Nacht hat es wieder eingeschlossene Jugendliche im Polytechnikum, in der Technischen Universität gegeben.

    Heinlein: Was sind denn die Gründe, dass diese Gewalt, diese massive Gewalt zum Teil der jungen Menschen anhält? Es sind ja nicht nur Chaoten und Anarchisten, sondern auch viele Jugendliche aus ganz normalen Familien, die auf die Straße gehen.

    Papachristou: Das ist eben die neue Tatsache. Dass es eine gewalttätige Szene von Militanten in Athen und in Thessaloniki gegeben hat, das war ja schon bewusst, und solche Ausschreitungen hat es auch in kleinerem Maße schon gegeben. Das Neue ist aber, dass diese Szene, sagen wir mal, auch neue Sympathisanten und Anhänger unter Jugendlichen in anderen, in kleineren Städten hat und das scheint auch zu einem Teil der Jugendkultur zu werden. Sie haben die Gründe am Anfang angesprochen. Das sind die sozialen Gründe, die es gibt, dass die Jugendarbeitslosigkeit noch sehr hoch bleibt in Griechenland, dass die jungen Leute, die Arbeit finden, nicht die gleichen Rechte haben wie ältere Arbeitstätige mit 40 oder 50 Jahren, dass viele Leute nur für einen sehr geringen Lohn arbeiten müssen, ohne irgendwelche sozialen Rechte zu haben. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass solche gewalttätigen Ausbrüche ein bekanntes Phänomen in der griechischen Jugendkultur sind. Man erlebt das seit 30 Jahren in Fußballstadien, man erlebt es während politischer Demonstrationen, man erlebt das auch bei Forderungen diverser Berufsgruppen. Ein Teil der Erklärung liegt auch darin, dass der Rechtsstaat nicht entschieden genug gegen diese Phänomene einschreiten will oder kann.

    Heinlein: Ist es bei den griechischen Jugendlichen einfach schick, ist es einfach hip, ist es angesagt, gewalttätig zu sein?

    Papachristou: Das stimmt zum Teil leider auch. Das Problem ist, dass eine ganze Generation, ich will jetzt nicht übertreiben, nicht eine ganze Generation, aber trotzdem ein beträchtlicher Teil der Jugend mit den Polizei- und Sicherheitskräften als Feindbild aufwächst. Das Problem auf Seiten der Polizei ist, dass viele Polizisten nicht gut genug ausgebildet sind, um damit umgehen zu können, und manche lassen sich eben auf eine Vendetta ein wie zum Beispiel dieser Polizist, der anscheinend von seiner Waffe Gebrauch gemacht hat, ohne in Notwehr gewesen zu sein, was dann auch zum Totschlag des Jugendlichen geführt hat, womit das alles eigentlich begann. Also es ist ein fauler Kreis der Gewalt.

    Heinlein: Hat die Regierung aber auch versäumt, den Jugendlichen ausreichende Perspektiven zu geben, und ist sie bereit, dies zu ändern?

    Papachristou: In den Worten ist sie bereit, das zu ändern, aber es scheint überhaupt keine Kommunikation da zu sein. Auf der anderen Seite ist es eine Frage, welche Politik führt denn zu einer Verbesserung der Situation der Jugend. Ist es eine Politik der Wirtschaftsreformen, auch der liberalen Wirtschaftsreformen, die zu mehr Jobs führt? Das war die Antwort, die Karamanlis versucht zu geben. Auf der anderen Seite würde vielleicht auch eine andere Politik von mehr Ausgaben und mehr Sozialausgaben zu einem Ergebnis führen. Das kann auch sein, aber Karamanlis will das nicht machen, weil das Budget-Defizit bereits schon ziemlich hoch ist in Griechenland.

    Heinlein: Ist die Regierung Karamanlis gefährdet durch diese Proteste?

    Papachristou: Ich denke ja. Der Regierung ist es auch vor dieser Krise nicht gut gegangen. Sie hat eine sehr knappe Mehrheit von zwei Sitzen, die jetzt auf einen Sitz geschrumpft ist. Sie war in Bedrängnis wegen einer Reihe von Skandalen, auch wegen der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftskrise, und da kamen diese Ereignisse noch dazu. Man kann also wirklich nicht ausschließen, dass es irgendwie politische Entwicklungen gibt.

    Heinlein: Was ist Ihre Prognose für die nächsten Tage? Werden die gewaltsamen Proteste weitergehen?

    Papachristou: Das kann wirklich niemand sagen, weil wir sprechen von einem Kreis einer Gruppe von Jugendlichen, die einfach nicht vorhersehbar sind. Man kann aber mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie sich in den vergangenen zwei, drei Tagen gehörig ausgetobt haben. Die Situation ist aber wirklich sehr, sehr fragil. Wenn es zu einem weiteren Zwischenfall kommt zwischen einem Polizisten und einem Demonstranten, kann es wieder anfangen.

    Heinlein: Das hört sich so an, Sie machen sich tiefe Sorgen um Ihr Land?

    Papachristou: Mehr als je zuvor.

    Heinlein: Aus Athen der griechische Journalist Harry Papachristou. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Athen.

    Papachristou: Auf Wiederhören.