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Gröning-Prozess
Vier Jahre Haft für den "Buchhalter von Auschwitz"

Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen - das Landgericht Lüneburg hat den früheren SS-Mann Oskar Gröning zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht ging damit über das von der Anklage geforderte Strafmaß hinaus. Die Frage ist nun, ob der 94-Jährige haftfähig ist.

15.07.2015
    Oskar Gröning vor dem Lüneburger Landgericht (1. Juli 2015)
    Oskar Gröning vor dem Lüneburger Landgericht (1. Juli 2015) (dpa / picture-alliance / Ronny Hartmann)
    Die vierte große Strafkammer befand Gröning am Mittwoch für schuldig. Er muss die Kosten des Verfahrens und die Auslagen für die Nebenklage tragen. Offen blieb zunächst, ob der gesundheitlich angeschlagene Gröning die Haft tatsächlich antreten muss. Gröning hatte im Prozess seine Beteiligung und moralische Mitschuld am Holocaust eingeräumt. Der später auch "Buchhalter von Auschwitz" genannte Gröning hatte gestanden, Geld von Verschleppten gezählt und zur SS nach Berlin weitergeleitet zu haben. Er sagte aus, zwei- bis dreimal vertretungsweise Dienst an der Rampe getan zu haben, um dort Gepäck zu bewachen.
    Vertreter der als Nebenkläger an den Prozess teilnehmenden Holocaust-Überlebenden begrüßten das Urteil. Anwalt Thomas Walther sprach von einer "wunderbaren" Entscheidung, die "Teil der deutschen Rechtsgeschichte" werden könne. Auch der beim Urteil anwesende Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum äußerte sich erfreut. "Ich will keine Rache. Aber ich finde es gerecht, dass er verurteilt wurde".
    Auch der Zentralrat der Juden begrüßte das Urteil. Ihr Präsident Josef Schuster nannte es "sehr wichtig". "Damit wurde ein NS-Täter zur Rechenschaft gezogen. Für unseren Umgang mit der deutschen Vergangenheit hat damit der Prozess einen wichtigen Beitrag geleistet." Für die Opfer und ihre Angehörigen habe die Verurteilung eine hohe Bedeutung.
    Mehr als eine halbe Million Juden wurden bei "Ungarn-Aktion" ermordet
    Die Staatsanwaltschaft hatte dreieinhalb Jahre Haft gefordert, von denen 22 Monate als verbüßt angesehen werden sollten, weil eine Verurteilung schon vor Jahrzehnten möglich gewesen wäre. Erste Ermittlungen hatte es 1977 gegeben, Gröning wurde bereits 1978 als Beschuldigter vernommen. Anwälte der über 70 Nebenkläger hielten das von der Staatsanwaltschaft verlangte Strafmaß für zu gering. Die Verteidiger hatten dagegen auf Freispruch plädiert. Weder durch seine Anwesenheit an der Bahnrampe von Auschwitz-Birkenau noch durch das Zählen der Devisen habe Gröning "einen Beitrag geleistet, der offensiv den Holocaust gefördert hat", sagte Anwalt Hans Holtermann. Für den Fall eines Schuldspruchs forderte die Verteidigung, Gröning dennoch nicht ins Gefängnis zu schicken.
    Gröning soll im Frühjahr 1944 Spuren der Massentötung an ungarischen Juden verwischt haben, indem er half, an der Bahnrampe in Auschwitz Gepäck der dorthin verschleppten Menschen wegzuschaffen.
    Dadurch sollten sie darüber getäuscht werden, was sie in Auschwitz erwartete. Der "Ungarn-Aktion" der deutschen Nationalsozialisten fiel im Zweiten Weltkrieg weit mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung in Ungarn zum Opfer. Von insgesamt 795.000 Juden kamen 502.000 ums Leben. Allein zwischen dem 16. Mai und dem 11. Juli 1944 wurden rund 425.000 Menschen aus Ungarn nach Auschwitz deportiert. Mindestens 300.000 von ihnen wurden in den Gaskammern getötet.
    Zwei weitere SS-Männer vor Gericht
    Gröning ist wohl einer der letzten, die sich wegen ihrer Beteiligung am Massenmord an den Juden einer juristischen Aufarbeitung stellen müssen. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg teilte mit, dass die Staatsanwaltschaft Dortmund einen 93-Jährigen aus dem nordrhein-westfälischen Lage wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Auschwitz angeklagt hat.
    Vor dem Landgericht Neubrandenburg soll sich nach dem Willen der Staatsanwaltschaft Schwerin zudem demnächst ein 94-jähriger Mann verantworten. Er soll als SS-Sanitäter im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau tätig gewesen sein, wie die Ermittlungsbehörde in ihrer Anklage schreibt. Ihm wird deshalb Beihilfe zum Mord in 3.681 Fällen vorgeworfen. Das Gericht lässt derzeit die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten überprüfen. Darüber hinaus seien sieben Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Auschwitz-Aufseher noch nicht abgeschlossen, sagte der Ludwigsburger Staatsanwalt Thomas Will. 23 Verfahren seien wegen Todes der Beschuldigten oder Verhandlungsunfähigkeit eingestellt worden.
    (nch/tj)