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Großbritannien nach dem Mord an Jo Cox
"Ähnlich wie die Stimmung, als Prinzessin Diana starb"

Der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees fordert, das "Brexit"-Referendum um mindestens sechs Monate zu verschieben. Der Mord an der Abgeordneten Jo Cox sei ein tiefer nationaler Schock. "In einer solchen Stimmung kann man keine vernünftige Entscheidung treffen", sagte Glees im DLF.

Anthony Glees im Gespräch mit Mario Dobovisek | 17.06.2016
    Nach dem Mord an Jo Cox legen Menschen Blumen am Parliament Square in London ab.
    Großbritannien trauert: Nach dem Mord an Jo Cox legen Menschen Blumen am Parliament Square in London ab. (AFP)
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Anthony Glees, Politikwissenschaftler an der Universität im britischen Buckingham. Guten Morgen, Herr Glees!
    Anthony Glees: Guten Morgen.
    Dobovisek: Wer war Jo Cox? Für welche politischen Ideen stand sie?
    Glees: Sie war eine ziemlich junge Politikerin. Sie interessierte sich sehr für die internationale Welt. Sie hat mit Flüchtlingen gearbeitet, sie war sehr beliebt. Sie war auch engagiert für das Verbleiben des Vereinigten Königreiches in der Europäischen Union und sie hatte eine glänzende Karriere vor sich. Da waren alle im Parlament einig. Also eine ausgezeichnete junge Frau, Mutter und eine Internationalistin. Derjenige, der mutmaßliche Täter, wenn man das so richtig sagen soll, ist gehört worden, dass er schrie, "Großbritannien zuerst", "Britain First!". Und das bedeutet, dass Jo Cox getötet wurde - auch wenn der Mann, der das tat, verrückt war - aus politischen Gründen. Deswegen sind wir in Großbritannien heute Morgen in tiefstem Schock.
    "Aufpeitschen der Meinungen"
    Dobovisek: Das ist alles noch nicht ganz belegbar durch die Polizei. Das sind, wie Sie zurecht sagen, Herr Glees, Zeugenaussagen, die so auch noch nicht bestätigt worden sind. Aber Sie sehen einen klaren Zusammenhang zwischen dem Tod von Frau Cox und der, sagen wir, emotional geführten Debatte um den Brexit?
    Glees: Genau. Die Debatte ist so geführt worden, dass unser Land dadurch zerspalten worden ist. Wir sind durch das Referendum in der Tat voneinander auseinandergerissen worden. Und wenn man überlegt, das ist ja, was ein Referendum ist: Großbritannien ist die Mutter von der parlamentarischen Demokratie, nicht von Referenden. Wir wollten eigentlich eine Demokratie haben, wo die Parlamentarier entscheiden. Ein Volksentscheid über alle Sachen ist immer problematisch. Aber eine Sache, die so kompliziert ist wie das Verbleiben nach 40 Jahren in der Europäischen Union, wie ist das durch die gewöhnlichen Wähler richtig zu entscheiden? Und dann das Aufpeitschen der Meinungen, besonders die, die Großbritannien aus der Europäischen Union nehmen wollen. Die haben mit reinen Emotionen, und ich habe das wie viele andere schon seit einiger Zeit gesagt: Das sind Emotionen, die hier gebraucht worden sind, keine richtigen feste Argumente. Die Leute, die rausfliegen wollen, haben keine klare Vorlage, wie Großbritannien aussehen würde. Die haben nur auf Emotionen gespielt und was für Briten nach ihrer Meinung das Beste sein wird.
    "Camerons Vermächtnis ist diese Zerrissenheit"
    Dobovisek: Wann, Herr Glees, würden Sie sagen, entglitt den politisch Verantwortlichen die Kontrolle darüber?
    Glees: Wer hat die Kontrolle? Letzten Endes David Cameron. Ich glaube nicht für eine Sekunde, dass David Cameron diese Bitterkeit vorhergesehen hat. Aber sein Vermächtnis ist diese Zerrissenheit. Es hat eine große Schlacht in unserer politischen Kultur gemacht. Und wenn ich das meinen deutschen Freunden sagen darf: Die Entscheidung der deutschen Bundesregierung im letzten Herbst, über eine Million Leute in Deutschland einfach hereinzunehmen, ohne das gesetzmäßig zu tun, hat dann auch der Angst in Großbritannien vor einer Migrantenflut irgendwie Wind in den Segeln eingeblasen.
    Dobovisek: Was bedeutet das jetzt konkret für das Referendum? Sollte es verschoben oder abgesagt werden?
    Glees: Ich finde und ich habe das gesagt, es soll mindestens für sechs Monate jetzt verschoben werden. Die Stimmung heute Morgen in Großbritannien ist ähnlich wie die Stimmung, als Prinzessin Diana starb. Das ist ein tiefer nationaler Schock. In einer solchen Stimmung kann man keine vernünftige Entscheidung machen. Das muss doch jedem klar sein. Und überhaupt: Diese Frage kann man nicht durch ein Referendum entscheiden, es sei denn durch große Erziehung und sehr viel Arbeit. Vielleicht könnte der Durchschnittswähler sich dann wirklich richtig entscheiden. Aber wir müssen jetzt zurück zu einer Politik der Vernunft kommen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.