Montag, 06. Mai 2024

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Grosser: Innenminister Sarkozy ist sehr angeschlagen

Der Politikwissenschaftler und Publizist Alfred Grosser glaubt, dass Frankreichs Innenminister Sarkozy einen Fehler begangen hat, indem er die Police de Proximité - also Polizisten, die in den Problemvierteln bekannt waren - abgeschafft hat. Die französische Regierung habe aus den Vorfällen noch nicht gelernt, denn bislang habe niemand verständliche Worte für die Probleme der Jugendlichen geäußert, betonte Grosser.

08.11.2005
    Heckmann: In Paris sind wir jetzt telefonisch verbunden mit dem Politikwissenschaftler und Publizisten Alfred Grosser, guten Morgen.

    Grosser: Guten Morgen.

    Heckmann: Weshalb bekommt die französische Regierung die Unruhen nicht in den Griff, wie erklären Sie sich das?

    Grosser: Zuerst mal war die Ankündigung, ein Franzose sei gestorben. Die Jugendlichen sind auch Franzosen, das ist ein großer Unterschied mit einem jungen Türken bei Ihnen und gerade weil sie Franzosen sind, fühlen sie sich noch mehr frustriert als alle anderen. Wenn zum Beispiel Schule und Krankenhäuser in Brand gesteckt werden, so um zu zeigen, wir profitieren noch nicht einmal von den Grundeinrichtungen der Gesellschaft, wenn wir die Schule bestehen, führt das zu nichts.

    Heckmann: Was entlädt sich da insgesamt, was ist das Signal, das die Randalierer aussenden, was sind ihre Ziele?

    Grosser: Keine Ziele. Sie wollen sich bemerkbar machen, ihren Frust kundgeben und sie sprechen Französisch, sie wissen, dass sie Franzosen sind, sie wissen aber, dass sie nie hierhin kommen und wenn sie zum Beispiel ausgebildet sind und ihr Curriculum an hundert Firmen schicken, so bekommen sie zwei Antworten und keine von diesen beiden Antworten zeigt, dass man ihnen einen Arbeitsplatz gibt.

    Heckmann: Das heißt, keine Perspektiven für diese Jugendlichen?

    Grosser: Keine Perspektive, das Gefühl ist Eingesperrtsein und dann wird letztlich der Frust los in Gewalt, auch Gewalt gegen die Mädchen, Gewalt gegen die alten Leute und ja, man weiß nicht, was mit seinem Leben anfangen wird, also tut man irgendwas.

    Heckmann: Was bedeutet das, was das Integrationskonzept der französischen Regierung angeht, ist das komplett gescheitert?

    Grosser: Nein, es ist nur an den Orten gescheitert, wo es eine gewisse Einsperrung, Absperrung gibt, eine gewisse Gettoisierung und das gilt an eine Reihe von Vierteln und dann dehnt sich das Ganze auf ganz Frankreich auf als Nachahmungseffekt. Vor einigen Jahren wurde mal mit einer Radfahrkette geschlagen, das war ganz vereinzelt, dann wurde es am Fernsehen viel gezeigt und überall wurde mit Radfahrketten geschlagen. Die Ansteckungsgefahr ist groß, die Medien können vielleicht nicht anders, aber die Medien stellen auch keine grundsätzlichen Fragen.

    Heckmann: Welche Fragen wären das, die da zu stellen wären?

    Grosser: Zum Beispiel was ist getan worden; und zum Beispiel unser Premierminister hat jetzt eingestanden, es war ein Eingeständnis gestern abend, dass die Vereine (ich bin mit den meisten von denen in ständiger Verbindung), die Vereine, wo sich wirklich Menschen aufopfern, um zusammenzuarbeiten und da zu sein und mitzuwirken, die bekommen langsam alle ihre Mittel gestrichen und sollen trotzdem weiter machen, natürlich alle gratis und auf die Dauer werden dann die Viertel noch mehr verlassen.

    Heckmann: Sind denn die Maßnahmen, die De Villepin angekündigt hat, sind das aus Ihrer Sicht sinnvolle Maßnahmen, die auch greifen können?

    Grosser: Es ist manches sinnvoll, aber es braucht Zeit, damit sie überhaupt angenommen werden, damit sie eingesetzt werden können, wenn sich Leute finden, zum Beispiel hat die sozialistische Regierung hat Plätze für Jugendliche geschaffen um in diesen Vierteln zu helfen, die sind abgeschafft worden und man braucht dringend Leute, die dabei sind.

    Heckmann: Innenminister Sarkozy hat gemeint, der Kurs der französischen Regierung, der verfolgt wurde in den letzten drei Jahren sei richtig gewesen und die Krawalle seien die Folge des Versuchs, die rechtlosen Zonen, die es gebe, nicht mehr zu dulden. Das heißt im Prinzip eigentlich doch eine Umkehr der Abfolge oder sehen Sie das anders?

    Grosser: Er ist voller Widersprüche. Einerseits glaubt er, in so genannten Vierteln nur an die Kraft und es stimmt auch, dass die Polizei in manche Viertel gar nicht mehr reingeht, gar nicht mehr reinkommt, die Feuerwehrleute gehen nicht mehr hin, weil sie mit Steinen beworfen werden und andererseits ist derselbe Sarkozy, der besser noch als Ihre Innenminister erfolgreich versucht hat, dass es einen französischen Islam gibt, wo die Vertreter der Verbände, auch der harten Verbände, sagen, wir sind Franzosen muslimischen Glaubens und da wirkt er hervorragend. Also es ist ein toller Widerspruch in seiner Einstellung.

    Heckmann: Und für wie angeschlagen halten Sie ihn?

    Grosser: Sehr angeschlagen und man kann beinahe sagen (also, es ist ein bisschen übertrieben und man soll nie prophezeien), dass er seine Stelle als Hauptkandidat zur Nachfolge von Chirac verloren hat. Er könnte aber sagen, Chirac hat vor 15 Jahren bereits versprochen, dass sich das alles ändern wird und hat nichts getan, das zu ändern.

    Heckmann: Welche Rolle spielt denn der Machtkampf zwischen Chirac und de Villepin auf der einen und Sarkozy auf der anderen Seite? Kocht da jeder sein eigenes Süppchen und hat das Konsequenzen für diesen Konflikt?

    Grosser: Ja, man versucht jetzt, Einstimmigkeit und Einheit zu zeigen, aber in den ganzen letzten Wochen war das die Priorität und das war sehr skandalös, dass die Priorität nicht war 'wie regieren wir', sondern 'wie verhindere ich am besten den Rivalen'.

    Heckmann: Was müsste jetzt passieren, um schnell zu einer Verbesserung der Situation zu kommen?

    Grosser: Das weiß ich auch nicht und ich glaube, man müsste etwas anders sprechen. Ja, natürlich muss es Ordnung geben, muss es Ruhe geben, muss es Bürgersinn geben, aber ein paar menschlichere Worte an dieses Viertel seien sehr angebracht, vor allen Dingen, wenn natürlich die Gefahr besteht, dass vom Ganzen Jean Marie Le Pen profitiert, dass es eine Anti-Araber-Stimmung gibt in Frankreich, dass die Ängste sich verbreiten und das ist eine andere Gefahr auf der anderen Seite.

    Heckmann: Sehen Sie dafür schon Anzeichen?

    Grosser: Das schon in verschiedenen Städten. Man beginnt Bürger aufzufordern, doch wenigstens zusammenzukommen, um mit Feuerlöschern durch die Straßen zu gehen und mit Telefonen, damit gleich angezeigt werden kann, wer da versucht, Feuer anzustecken. An sich ist es gar nichts Schlechtes, aber es soll dabei keine Miliz entstehen.

    Heckmann: Und es gibt auch die Diskussion darüber, ob solchen Jugendlichen nicht möglicherweise die Staatsbürgerschaft entzogen wird.

    Grosser: Nein, das glaube ich wird niemand tun und niemand vorschlagen.

    Heckmann: Aus dem rechten Bereich jedenfalls gibt es diese Forderung.

    Grosser: Ja, die Forderung von der extremen Rechten ist ja auch, die Armee einschreiten zu lassen. Es stimmt allerdings, dass die Polizeikräfte sehr müde werden und eines, was Sarkozy total negativ getan hat, als Vaillant Innenminister war ist, die Police de Proximité abzuschaffen, die Polizisten, die wirklich sich auch zu Hause fühlen in diesen Vororten, die persönlich bekannt werden. Heute ist die Polizei vor allen Dingen die, die mit einem Helm unsichtbar sind, jedenfalls das Gesicht ist unsichtbar und es gibt auch vieles unerfreuliches Benehmen der Polizei den jungen Leuten gegenüber, überhaupt denen gegenüber, die nicht, sagen wir mal, gutbürgerlich sind.

    Heckmann: Glauben Sie, dass die französische Regierung gelernt hat aus den Vorfällen?

    Grosser: Ich zweifle.

    Heckmann: Weshalb?

    Grosser: Weil die Worte noch nicht gekommen sind, die man hätte erwarten können. Und diese Worte des Verständnisses - es gibt solche Worte, aber sie klingen nicht so als seien sie empfunden.

    Heckmann: Das heißt, auch eine Entschuldigung von Sarkozy wäre angezeigt?

    Grosser: Ja, das wird er aber nicht tun.