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Großes Angebot an Fächern
"Man trägt die Wahl mit hinein ins Studium"

Angehende Studierende seien bei der Entscheidung für einen der mehr als 3.000 Studiengänge in Deutschland überfordert, sagte Marco Schröder, Autor einer Studie zu dem Thema, im DLF. Das führe immer öfter dazu, dass sie dann erst im Studium entdeckten, dass andere Fächer besser zu ihnen passten. Schuld an der Entwicklung hätten auch die Hochschulen: Sie wollten ihre Studiengänge differenzieren und so attraktiver machen.

Marco Schröder im Gespräch mit Benedikt Schulz | 15.04.2015
    Begrüßung der Erstsemester an der Westfälische-Wilhelms-Universität in Münster. 5400 Studenten haben zum Wintersemester 2014/2015 ihr Studium aufgenommen
    Laut Studie weiß fast jeder zweite Studienanfänger nicht wirklich, was ihn in seinem Fach erwartet. (imago / Rüdiger Wölk)
    Benedikt Schulz: Immer noch finden Betriebe und Absolventen nicht zueinander. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass sich viele junge Menschen für ein Studium entscheiden. Und dann stehen die aber vor einem weiteren Problem: Was denn für eins? Nur mal ein Beispiel: Kennen Sie den Unterschied zwischen Business Computing und Business Information Systems? Sind zwei Informatikstudiengänge, die man an deutschen Hochschulen studieren kann und - das muss man dazusagen - zwei relativ zufällig ausgewählte aus über 140. Junge Menschen, die ein Studium aufnehmen wollen, können insgesamt aus mehr als 3.000 Studiengängen wählen. Und es geht hier um grundständige, also meistens um Bachelorstudiengänge. Dass junge Menschen damit gelinde gesagt überfordert sind, das kann man vermuten. Erstmals untersucht hat das jetzt Marco Schröder vom Lehrstuhl für Wirtschafts- und Berufsdidaktik an der Uni Augsburg. Und mit ihm habe ich gesprochen vor dieser Sendung, und meine erste Frage: Wissen Sie denn, was der Unterschied ist zwischen Business Computing und Business Information Systems?
    Marco Schröder: Ah, selbst ich bin bei so was überfordert. Es ist auch höchst interessant, wenn man sich das mal überlegt, man muss bloß mal Studienberatende fragen dazu. Also die, die eigentlich Experten dafür sein müssten und das wissen müssten, selbst wenn man die fragt, die sagen, wie sollen wir denn heutzutage noch wissen, was letztendlich bei diesen einzelnen über 3.000 Studiengängen letztendlich der Inhalt ist? Und selbst eingegrenzt auf die Fachexperten, selbst da wird schnell an Grenzen gestoßen. Und die Frage ist auch häufig letztendlich, ist das überhaupt noch alles die gleiche Fachrichtung? Nehmen wir so was wie Informationslogistik: Es kann natürlich irgendwo bei den Betriebswirtschaften verortet sein, aber es kann natürlich auch bei den Informationswissenschaften, aber auch bei der Informatik verortet sein. Und wie sollen da Studienwählende eigentlich überhaupt noch wissen letztendlich, was dahintersteckt?
    "Die Wahl ist nicht mehr rational abwägbar"
    Schulz: Sie haben jetzt in Ihrer Studie ja genau das untersucht, wie sich das Angebot auf die Studienplatzwahl von Anwärtern auswirkt. Wie denn?
    Schröder: Also, es zeigt sehr deutlich dabei, dass einerseits eine Überforderung natürlich passiert für die Studienwählenden. Andererseits ist auch die Wahl nicht mehr rational abwägbar. Also, das heißt, dass die gar nicht mehr begründen können, warum sie jetzt den einen Studiengang und nicht den anderen gewählt haben. Und das Nächste natürlich dabei ist auch häufig, dass die Studienwahl mit so vielen Möglichkeiten gar nicht mehr nach dem Abitur letztendlich in dieser kurzen Phase oder während des Abiturs oder kurz davor stattfinden kann. Weil es einfach zu viele Möglichkeiten gibt, dauert die Auseinandersetzung deutlich länger mit dem Ganzen. Das heißt, man trägt die Studienwahl - nicht in jedem Fall, aber in vielen Fällen - mit hinein ins Studium. Das zeigt sich bei über 40 Prozent, fast jedem Zweiten letztendlich, dass eine Unkenntnis vorhanden war über Studiengänge, die im Nachhinein, also nach dem Studienbeginn letztendlich dann noch infrage kamen, wo man auf einmal entdeckt hat, oha, da passt ja was viel besser zu mir möglicherweise als das, was ich studiere. Und das zeigt sich dann wieder in einer anderen Statistik, dass man auf einmal unsicher wird, ob die eigene Studienwahl die richtige war. Das ist immerhin bei einem von fünf, bei 20 Prozent beziehungsweise sogar über 20 Prozent.
    "Eine deutliche Vermarktlichung des Hochschulsektors"
    Schulz: Aber wie erklären Sie sich denn diese, ja, ich nenne das jetzt mal Angebotsexplosion in den grundständigen Studiengängen? Woran liegt das?
    Schröder: Ja, es zeigt sich inzwischen, dass auch eine deutliche Vermarktlichung des Hochschulsektors stattgefunden hat. Es ist schon so, dass eben an Hochschulen wie auch an Universitäten natürlich Interesse besteht, möglichst viele Studierende zu haben. Jetzt gibt es natürlich relativ viele Standorte in Deutschland, wo eben Studienangebote vorhanden sind, wo Universitäten, Hochschulen und Akademien inzwischen auch Studiengänge anbieten. Und da ist natürlich die Frage: Hm, wir bieten jetzt einen neuen Studiengang an, wie kriegen wir Studierende, wie können wir das attraktiv machen? Es hat schon so was von einem Produkt quasi und man möchte sein Produkt möglicherweise von der Nachbarstadt ein bisschen differenzieren. Man möchte seinen Studiengang differenzieren, man möchte ihn mit einem attraktiven Namen möglicherweise ausgestalten, man möchte eine attraktive Richtung schaffen. Das ist natürlich eine Begründung.
    Die andere ergibt sich natürlich durchaus historisch, dass eben, wenn Wissenschaft letztendlich auch Wissen schafft quasi, neues Wissen erzeugt, dann entstehen auch neue Fachrichtungen. Allerdings die Geschwindigkeit, die zeigt sich ja sehr, sehr deutlich eben seit dem Bologna-Prozess. Denn wenn man sich das davor anguckt, in 30 Jahren davor gab es auch einen Anstieg - und wir reden hier nur von grundständigen Studiengängen - und das waren 150 Prozent, 160 Prozent circa eben als Anstieg. Aber jetzt in diesen letzten zehn, zwölf, 15 Jahren ist ein Anstieg von über 1.400 Prozent zu verzeichnen. Also muss das mehr als nur dieser Fortschritt des Wissens, dieser Entwicklung sein, sondern muss sich auch eben möglicherweise über Marktprozesse begründen lassen. Die Frage ist natürlich, welche Folgen hat das Ganze. Nicht nur die Studienwählenden sind betroffen von dem Ganzen.
    "Die ganzen Parteien müssen mehr oder weniger zusammenarbeiten"
    Schulz: Sondern auch die Hochschulen? Inwiefern?
    Schröder: Ja, die Hochschulen natürlich müssen auch reagieren. Wenn diese Studienwahl immer schwieriger wird, braucht sie mehr Zeit, das heißt, sie muss früher anfangen. Da muss man sich überlegen, wie kriegt man möglicherweise das noch stärker in die Schulen und wie vernetzt man die Hochschulen mit den Schulen noch weiter, dass das frühzeitig stattfinden kann? Und das ist nicht nur Aufgabe der Schule, das ist Aufgabe der Hochschule. Das heißt, dass die ganzen Parteien mehr oder weniger zusammenarbeiten müssen.
    Schulz: Aber eine andere Konsequenz wäre doch vonseiten der Hochschule, dass die mal mit dem Rotstift ihr Angebot mal radikal ausdünnen, oder?
    Schröder: Ja, das wäre durchaus eine Möglichkeit, wäre auch durchaus sinnvoll, quasi eine Reform der Reform ein bisschen, dass man sagt, okay, wir versuchen, das Ganze jetzt mal wieder ein bisschen zu reduzieren. Aber die Problematik bleibt natürlich bei so einem Markt, dass man Studierende haben will. Und wenn sich etwas etabliert hat, dass man so eine Entdifferenzierung natürlich wahrscheinlich deutlich langsamer voranbringt als eine Differenzierung.
    Schulz: Sagt Marco Schröder. Er hat untersucht, welche Folgen das gewaltige Angebot an grundständigen Studiengängen für Studienanwärter und für Hochschulen hat. Ganz herzlichen Dank!
    Schröder: Gerne, bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.