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Andreas H. Drescher: "Schaumschwimmerin"
Großmutter erzählt aus einem Jahrhundert Leben

Als ihr Mann nach jahrzehntelanger Ehe stirbt, löst das bei Michaels Großmutter keine Tränen aus, sondern Erinnerungen, die bis in die frühen Kinderjahre reichen. Andreas H. Drescher notiert in seinem Roman "Schaumschwimmerin" in eigenwilliger Sprache ein Jahrhundert Leben in einem saarländischen Dorf.

Von Bettina Baltschev | 02.12.2021
Andreas H. Drescher und sein Roman "Schaumschwimmerin"
Andreas H. Drescher und sein Roman "Schaumschwimmerin" (Foto: Martin Hoffmann, Buchcover: Edition Abel)
Albert und Greta Grün haben keine gute Ehe geführt. Aber sie haben durchgehalten, über Jahrzehnte. Doch nun ist Albert nach langer zäher Krankheit gestorben. Und in Greta, die so klein und leicht ist, dass sie auf Schaum schwimmen könnte, scheint sich etwas zu lösen. Als sie am Morgen nach Alberts Tod neben ihrem Enkel Michael aufwacht, sind da keine Tränen, aber sehr viele Erinnerungen. Hier setzt der Roman „Schaumschwimmerin“ von Andreas H. Drescher ein.
„‘Bei mir war heute Nacht auf einmal mein ganzes Leben wieder da. Ich weiß gar nicht, ob mehr im Traum oder im Wachsein. Alles: das mit deinem Großvater – und das andere auch. Wo ist das bloß alles hergekommen?‘ Ich bin sicher, sie hat die ganze Nacht auf mich als Zuhörer gewartet. Also schweige ich, damit sie beginnen kann."

Ein Jahrhundert Leben

Es dauert nicht lange und die Großmutter gerät ins Erzählen. Zunächst von ihrem Mann, der im Zweiten Weltkrieg an die Ostfront musste. Doch bald schon sind es Geschichten, die weiter zurückreichen, zu den frühesten Erinnerungen. Anfang des 20. Jahrhunderts geboren, wächst Greta in ländlicher Umgebung auf. Schon als kleines Kind hilft sie ganz selbstverständlich bei der Ernte, beobachtet das Schlachten eines Schweines und ist bei allen wichtigen Familienereignissen dabei. Als sie den Tod der eigenen Großeltern hautnah miterleben muss, verschmelzen kindliche Fantasie und Wahrnehmung zu einer Angst vor bösen Geistern, die sie zeitlebens nie mehr ganz verlässt. Während sie ihrem sensiblen Enkel davon erzählt, erklärt sich ihm das stille Einverständnis, das ihn mit ihr verbindet, über zwei Generationen hinweg.
„Möglicherweise war ihre eigene Angst eben dadurch gemildert, dass sie mir meine zu lindern half. Ein Bergen ins Geborgensein, ein Geborgensein im Bergen, das ich im eigenen Umgang mit Kindern oft erlebt habe. Jedenfalls war Großmutters Gegenwart stärker als alles, was mich ängstigen wollte. Vielleicht, weil sie noch aus der eigenen Kindheit her wusste, nach welchen Regeln sich das Wechselspiel von Beängstigung und Zuhause-Sein vollzieht.“
Es sind nur wenige Kommentare, die Michael den Erzählungen seiner Großmutter hinzufügt, auch von seinem eigenen Leben erfährt man kaum etwas. Stattdessen gibt er die Geschichten der Großmutter im Wortlaut wieder, lässt sie in ihrer eigenen, etwas altertümlichen Sprache sprechen. So tauchen schöne Wörter auf, die man heute kaum noch liest: Kommissbrot, Raufbold und Wetterschacht. Spricht Michael selbst, so wirkt sein kunstvolles Erzählen dagegen ein wenig bemüht. Schade auch, dass neben Enkel und Großmutter die Frau, die die beiden miteinander verbindet, unscheinbar bleibt. Klara, Gretas Tochter und Michaels Mutter. Sie kommt und geht, und die große Zuneigung ihres Sohnes zur Großmutter scheint sie nicht teilen zu können. Womöglich hat sie mit den Eltern anderes erlebt, anderes erlitten.

Wer spricht?

Einen Hinweis darauf liefert der zweite Teil des Buches. Hier erzählt der Enkel die traumatische Fluchtgeschichte von Greta und ihrer Schwester nach, die die Mutter 1945 als Kleinkind miterleben musste. Da stellt sich der Leserin doch die Frage, wie diese Traumata sich wohl in der Zwischengeneration ausgewirkt haben mögen. Doch Michael konzentriert sich ganz auf die Großmutter und bestätigt damit die Erfahrung, dass es der Enkelgeneration oft leichter fällt, nach Krieg und Leid zu fragen.
„Das Bild, das mich überkam und das aus Erzähltem, Erinnertem und Vorgestelltem bestand, war so klar, dass es mir zum ersten Mal bewusst machte, wie sehr ich mir in diesen Augenblicken selbst zum allwissenden Erzähler werde, der Großmutter noch als Greta sieht, deren Gedanken er wahrnimmt, als hätte er sie selbst gedacht. Oft geht es mir so.“
Es ist offensichtlich, dass Andreas H. Drescher seiner Großmutter ein literarisches Denkmal setzen will, so wie er mit dem Vorgängerroman „Kohlenhund“ bereits seinem Großvater eines gesetzt hat. Als zweiter Teil seines dreiteiligen Velten-Grün-Zyklus gedacht, erzählt „Schaumschwimmerin“ ausführlich und mit viel Empathie von den Nebenschauplätzen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert, die auch vor einem saarländischen Dorf nicht Halt macht. Doch hätte dem Buch etwas kritischer Abstand nicht geschadet. Auch wenn Großmutter Greta schön erzählt und am Ende doch noch Tränen fließen; ein bisschen weniger Pathos und ein deutlicherer Spannungsbogen hätten diesem Roman durchaus gutgetan.
Andreas H. Drescher: „Schaumschwimmerin“, Roman
Edition Abel, Saarlouis.
212 Seiten, 19,90 Euro.