Meurer: Waren Sie geschockt gestern Abend?
Simonis: Geschockt nicht, aber schön war das alles nicht. Man konnte sich ja ein bisschen ausrechnen, dass es nicht leicht werden würde nach diesem Sommertheater und dass das Publikum nicht begeistert "da capo" rufen würde. Insoweit waren die Ergebnisse ein bisschen vorhersehbar, aber gewünscht und gehofft hatte ich mir schon, dass etwas Schöneres herauskommen würde.
Meurer: Lag es am Sparpaket?
Simonis: Da bin ich fest von einem Nein überzeugt, sondern es lag daran, dass sich die SPD über das Sparpaket gestritten hat. Dann sind diejenigen, die sich davon betroffen fühlen, natürlich erst recht nicht mehr bereit, freiwillig in der ersten Reihe zu stehen und zu sagen, ich übernehme einen großen Teil, hier bin ich, sondern dann sagen die, jetzt warte ich erst mal ab, bis die da vorne fertig sind, dann melde ich mich wieder. Hinzu kommt, dass unter Oskar Lafontaine noch der Eindruck erweckt wurde, dass alles bezahlbar ist, nämlich sogar Anpassung der Rente nach dem alten System. Jetzt stellt sich heraus, es geht nicht mehr angesichts der leeren Kassen.
Meurer: Die SPD hat doch damals dem zugestimmt. Das ist ja nicht alleine Oskar Lafontaine gewesen, der die Wahlversprechen gegeben hat?
Simonis: Das sind nicht die Wahlversprechen, sondern das waren die Versprechen, die im Februar noch gegeben worden sind. Da waren wir nach der Wahl, und da musste man sich ein bisschen darauf verlassen, dass auch der Finanzminister wusste, ob es geht oder nicht geht. Es hätten auch alle anderen Fachleute das sagen müssen, aber in der Zwischenzeit scheint wohl offensichtlich der Optimismus verschwunden zu sein, dass man die Wirtschaft schneller ans Laufen kriegt beziehungsweise dass wir schneller Anschluss fassen an unsere Industrienachbarn. Das hat sich wohl nicht ganz so erfüllt, wie wir uns das gewünscht haben. Wir werden jedenfalls diese entsetzlichen Zahlen, die wir geerbt haben, vier Millionen Arbeitslose, ja sogar noch mehr, 1,5 Billionen Mark Schulden, Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, Familienpolitik, die vom Bundesverfassungsgericht in der Luft zerrissen worden ist, mühsam, mühsam, mühsam zu retten haben. Da nützt es gar nichts mehr, den Leuten zu sagen, es geht viel einfacher. Es wird vielmehr eine bittere Medizin sein, die wir zu schlucken haben.
Meurer: Ist das eine Wende bei Ihnen, Frau Simonis? Machen Sie jetzt Wahlkampf? Im Februar haben Sie ja die Wahlen in Schleswig-Holstein. Reden Sie jetzt nicht mehr von Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer, sondern verfolgen Sie jetzt den Kurs Schröders, wir müssen sparen, da gibt es keine Alternative?
Simonis: Wir müssen sparen, dazu gibt es keine Alternative. Es gibt in dem Sparpaket von Schröder, das ich übrigens unterstütze - insoweit kann es gar keine Wende geben -, einen Teil, wo wir von Anfang an gesagt haben, dass wir Schwierigkeiten haben mitzumachen, nämlich dort, wo der Finanzminister Eichel Kosten, die bis jetzt im Bundesetat standen, Wohngeld, Unterhaltsvorschusskasse, einfach auf die Länder überträgt. Da haben wir immer gesagt, das ist unmöglich, dass wir alleine als Schleswig-Holstein 130 Millionen Mark zahlen müssen. Dafür wollen wir Kompensation. Wir haben immer gesagt, wir sind der Meinung, wenn Kompensation notwendig ist, um den Karren aus dem Dreck zu bekommen, dann müssen die Rentner, dann müssen die Beamten, dann müssen alle mit Heran. Dann müssen aber auch die, die Vermögen haben und wohl leben, ein Stückchen dazu beitragen, sei es durch die Vermögenssteuer, sei es durch die Erbschaftssteuer.
Meurer: Also dabei bleibt's?
Simonis: Bei mir bleibt es dabei. Die Frage ist jetzt, was im Bundesrat passiert. Da hat sich ja die Mehrheit geändert. Wenn die CDU im Bundesrat das fortsetzt, was sie 16 Jahre im Bundestag gemacht hat, dann graut mir allerdings.
Meurer: Sie haben doch keine Chance im Bundesrat für die Vermögenssteuer. Warum weiter diese Debatte?
Simonis: Da gibt es doch nur die Chance im Bundesrat und dann im Vermittlungsausschuss, dass die CDU sagt, wir schieben alles an den Bund zurück. Das würde bedeuten, es landen wieder alle Lasten beim Bund, der sowieso nicht mehr weiß, wie er aus den Augen gucken soll - das ist aber nicht die Schuld von Schröder und auch nicht von Eichel -, oder sie sagen, wir erhöhen die Steuern nicht, oder sie sagen, wir machen dies nicht und machen jenes nicht und dann warten wir mal ab was passiert. Entweder sie sind jetzt verantwortlich für das Wohlergehen des gesamten Volkes und reißen sich zusammen und gehen herunter von der opportunistischen Art zu vergessen, was sie bis vor einem halben oder dreiviertel Jahr noch gemacht haben, oder sie lassen es so laufen, dann wird es eine Katastrophe.
Meurer: Ist andererseits die SPD-Linke schuld an diesem Wahldesaster von gestern Abend?
Simonis: Nein, weder die Linke noch die Rechte. Was nicht gut war war die Diskussion, und da haben alle kräftig mitgemacht. Diskussion bedeutet immer, dass zwei mitmachen. Wer angefangen hat ist dann hinterher auch uninteressant. Wenn jedenfalls aus einem Haus die Scherben fliegen fragt keiner, wer hat zuerst den Teller geschmissen.
Meurer: Eine Lehre: Braucht die SPD eine straffere Führung?
Simonis: Ich habe mir immer vorgestellt, der Kanzler haut auf den Tisch, alle sagen, ja, Herr Bundeskanzler, laufen heraus und rennen los. Die Zeiten sind vorbei. Die Menschen wollen heute diskutieren, sie wollen ihre Meinung anbringen, sie wollen gefragt werden. Sie wollen hören, wie ist die Richtung, wo die, die uns regieren, hingehen, finden wir das gut, ja oder nein.
Meurer: Die Wähler wollen doch eine Linie sehen?
Simonis: Sie wollen eine Linie sehen, aber sie wollen keine Machtwörter, die auf den Tisch prasseln und dann geht man hinaus und sagt, war ganz nett, jetzt machen wir so weiter, wo wir vorher aufgehört haben.
Meurer: Auf dieses Machtwort hat der Kanzler und SPD-Chef ja auch verzichtet. Statt dessen hat er ja gestern im Präsidium sein Personaltableau vorgeschlagen, und was man weiß: es gibt einen Generalsekretär, überhaupt kein Zweifel, dass das Franz Müntefering wird. Ist das jetzt eine Führungsstruktur, die ausdrücklich auch Ihre Billigung findet und ohne die es nicht gehen kann?
Simonis: Es ist jedenfalls eine Führungsstruktur, die einer modernen Partei etwas mehr ansteht. Denn die Rolle des alten Geschäftsführers, der sozusagen dafür sorgt, dass die Telefonanschlüsse da sind und dass am Wahlabend die Plakate ordentlich verteilt worden sind, die passt nicht mehr in einen kommunikativen neuen Industriestaat, in dem man sich auf ganz anderen Wegen unterhalten kann. Wir werden einen wie immer Sie ihn nennen wollen, Generalsekretär oder jemanden brauchen, der auch mal politische Antworten sagen kann. Insoweit ist die Struktur in Ordnung. Wir werden jetzt sehen, wie die Aufgaben neu verteilt werden. Es gibt ja eine Doppelfunktion. Da werden Aufgaben neu verteilt werden und neu zugeschnitten werden müssen.
Meurer: Ist Ottmar Schreiner überfordert gewesen mit seinem Amt in diesen Zeiten?
Simonis: Nein, aber wissen Sie, in schweren Zeiten nach 16 Jahren Stillstand etwas wieder in die Gänge zu bringen und zu suchen, ob alle Menschen mitmachen, das ist ein Stück Herkules-Arbeit, um die ich keinen beneidet habe.
Meurer: Wir haben viel über das Saarland geredet. Einen Blick sollten wir, Frau Simonis, auf die neuen Bundesländer richten. 15 Prozent Minus in Brandenburg. In den neuen Ländern gibt es nächste Wochen noch Wahlen in Thüringen, dann in Sachsen und rechnen wir auch Berlin noch mit dazu. Hat die SPD im Osten so viel Boden verloren?
Simonis: Wir haben im Osten das Phänomen, dass es dort kaum eine Wählerbindung gibt. Woher auch? Die hatten ja 40 Jahre lang wählen müssen, ob sie wollten oder nicht, und jetzt üben sie mal, wie das ist, wenn sie nicht so wählen wie sie müssen. Das muss man leider Gottes akzeptieren. Im Saarland kommt diese Schnuckeligkeit dazu, dass die Grünen einen Fraktionsvorsitzenden gehabt haben, der Autos verschoben hat. Man kann in jedem Wahlergebnis noch etwas finden, was nur dieses Wahlergebnis besonders erklärt. Das nützt nichts. Wir gucken jetzt nach vorne. Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und müssen sehen, dass wir für die nächste Wahl, egal wo sie stattfindet, das beste daraus machen. Ob wir jetzt gewinnen oder verlieren, es kommt darauf an, dass wir so gut wie möglich abschneiden. Das bedeutet, wir müssen ein Programm verkaufen. Das müssen wir geschlossen verkaufen, weil jedes%chen was wir gewinnen ist ein Stein nach oben. Jedes%chen was wir verlieren ist ein Stückchen auf dem Weg nach unten.
Meurer: Die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis.
Link: Heide Simonis zum Richtungsstreit in der SPD