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Grünen-Politikerin: Die Kritik an Merkels Politik in Europa wächst

Die Grünen-Europapolitikerin Heide Rühle hat die Bundesregierung aufgefordert, sich in der EU besser abzusprechen. Vor allem Großbritannien und Frankreich seien unzufrieden über die "Bremserrolle" der Deutschen, sagte Rühle. Die grüne Wirtschaftsexpertin wertete das für kommenden Montag geplante britisch-französische Spitzentreffen in London ohne Teilnahme der Bundeskanzlerin als Beweis dafür, dass die Kritik an Angela Merkels Politik wächst.

Heide Rühle im Gespräch mit Christian Schütte |
    Christian Schütte: Wie reagiert die EU auf die Konjunkturkrise? Mitte kommender Woche wollen sich die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen auf eine gemeinsame Linie verständigen, auf ein EU-Konjunkturpaket. Doch die Differenzen treten inzwischen offen zu Tage. Beispiel: der britische Premier Brown hat für Montag zu einem Krisentreffen nach London eingeladen. Dabei sind Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und EU-Kommissionschef Barroso. Angela Merkel dagegen, oft als erfolgreiche Krisenmanagerin gefeiert, bleibt außen vor. In Berichten hieß es sogar, sie haben von dem Treffen erst aus den Medien erfahren. Mitgehört hat die Europaparlamentarierin Heide Rühle, Grünen-Politikerin in Brüssel und dort Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung. Guten Tag, Frau Rühle.

    Heide Rühle: Guten Tag.

    Schütte: Fassen wir noch einmal zusammen. Brown, Sarkozy, Barroso treffen sich in London zu einem Krisengespräch; die Kanzlerin ist nicht eingeladen. Deutschland als wichtiges europäisches Wirtschaftsland bleibt außen vor. Kann man das anders nennen als einen diplomatischen Affront?

    Rühle: Es ist eindeutig so, dass die Kritik an Merkels Politik wächst in Europa und vor allem Frankreich und Großbritannien sehr unzufrieden sind über die Bremserrolle, die die deutsche Regierung spielt. Wenn man sich die bisherigen Vorschläge der deutschen Regierung anschaut, dann ist es auch in erster Linie eine Hilfe für einzelne Branchen, einzelne Unternehmen, aber nicht ein wirkliches Konjunkturpaket. Da haben die anderen Regierungen zunehmend den Eindruck, dass Deutschland in erster Linie bremst und konkurrierend eingreift, aber nicht wirklich gemeinsam versucht, die Krise zu stemmen.

    Schütte: Was bedeutet dies? Traut man Deutschland nicht mehr zu, ein verlässlicher Partner in der Krise zu sein?

    Rühle: Man erwartet ja schon, dass Deutschland als Lokomotive - und das sind wir ja; wir sind ja die stärkste wirtschaftliche Kraft in Europa - das wir auch solidarischer agieren, dass wir nicht in erster Linie an unsere eigenen Branchen denken, sondern generell uns überlegen, wie kann man die Kaufkraft in Europa stärken. Da liegt relativ wenig vor von Merkel.

    Schütte: Frankreich arbeitet, Deutschland denkt nach - so hat es ja Sarkozy formuliert. Deutschland wird nun dafür bestraft. Ist denn Besonnenheit in der EU gar nicht mehr gefragt?

    Rühle: Wir steuern auf eine ganz große Rezession zu. Wir sind im Augenblick in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, und da muss man sich wirklich gemeinsam überlegen, was man macht. Es geht ja gar nicht darum, dass man vorschnell agiert, aber es geht darum, dass man sich koordiniert besser abspricht und dass man versucht, gemeinsam was vorzulegen. Ich meine, Deutschland ist schon vorgeprescht damals mit der Garantie für alle Anlagen. Auch da haben sich Großbritannien und Frankreich gewundert, warum die deutsche Kanzlerin nicht zuerst mal mit ihnen Kontakt aufgenommen hat und gemeinsam vorgegangen ist.

    Schütte: Frau Rühle, Sie haben eben das französische Paket gelobt.

    Rühle: Ja.

    Schütte: Das hat in der Tat mehr Volumen. In der Substanz aber fallen die Unterschiede im Vergleich zu dem, was Deutschland vorschlägt, in den Maßnahmen gar nicht so groß aus. Nur weiß sich Nicolas Sarkozy offenbar mit seinen Plänen besser in Szene zu setzen.

    Rühle: Er setzt sich immer gut in Szene. Aber die deutsche Regierung könnte ja sehr viel mehr machen. Beispielsweise geht es ja gar nicht um das Thema Steuersenkungen. Also die Vorschläge der EU-Kommission gehen auch in die Richtung, generell Kaufkraft erhöhen, und das könnte beispielsweise auch sein, dass man die Sozialversicherungsbeiträge gezielt senkt oder dass man sehr viel mehr investiert in Infrastruktur, dass man wirklich im Umweltschutz mehr macht. Also was eigentlich von Deutschland erwartet wird, sind gemeinsame Anstrengungen, jetzt insgesamt die Kaufkraft zu stärken, wenn man so will: einen neuen "New Deal" für Europa.

    Schütte: Welche Weichen werden denn in London gestellt bei dem Treffen für den EU-Gipfel?

    Rühle: Die Aussagen von Frau Merkel waren ja eindeutig - und auch von ihrem Pressesprecher -, dass es auf Einstimmigkeit ankommt und dass ein Land letztlich blockieren kann und ein Veto aussprechen kann. Deshalb geht es jetzt auf diesem Vorbereitungstreffen, wenn man so will: Vorgipfel, geht es darum, wie kann man gemeinsam Einfluss ausüben, dass Deutschland mitzieht und dass es sich besser koordiniert in seinen Vorhaben mit den anderen.

    Schütte: Wie kann man gemeinsam Einfluss ausüben?

    Rühle: Frankreich und Großbritannien sind ja nach Deutschland die beiden größten europäischen Staaten. Wenn die beiden sich einig sind, dann können sie schon versuchen, Deutschland stärker einzubinden.

    Schütte: Inwiefern?

    Rühle: Mehr Druck ausüben und versuchen, durch Zuckerbrot und Peitsche sozusagen Deutschland zu bewegen, zu agieren. Ich fand die Aussage von Frau Merkel auch nicht sehr hilfreich zu sagen, wir überlegen bestimmte Maßnahmen erst nach der Wahl. Ich meine, wenn, dann muss man jetzt reagieren. Wenn man in einem halben Jahr reagiert, ist es zu spät.

    Schütte: Was erwarten Sie sich dann von dem Gipfeltreffen Mitte kommender Woche selbst? Wie wird das ablaufen? Wie können dort Differenzen beigelegt werden?

    Rühle: Man muss sich natürlich im Konsens verständigen. Es muss einstimmig sein, das ist richtig, und deshalb geht es darum, dass man versucht auszuloten, was wäre die gemeinsame tragfähige Basis. Beispielsweise: Wäre es etwa denkbar, in bestimmten Bereichen gemeinsam eine Mehrwertsteuersenkung anzudenken? Oder ist es denkbar, dass Deutschland im Bereich der Sozialversicherungsbeiträge einen Beitrag leistet? Es geht letztendlich um die Frage, wie kann man gemeinsame Beiträge leisten, aber ohne dass man die Konkurrenz zwischen den Staaten in der Krise noch zusätzlich anheizt. Denn das ist halt das Gefährliche, und das sollten wir aus den 30er Jahren lernen, dass wir so etwas nie mehr tun. Hilfe für einzelne Branchen und für einzelne Unternehmen ist in einer Krise eher Gift.