Dirk Müller: Sollte Irland nun rausfliegen aus Europa, aus der Europäischen Union? Es mehren sich die Stimmen, die das so oder so ähnlich sehen. Wenn die Iren nicht wollen, dann können sie eben den Weg einer tieferen Integration nicht mitgehen. Andere wiederum warnen davor, Dublin vor die Türe zu setzen, fordern vielmehr gemeinsam die nächste veritable Krise der EU zu meistern. Tag für Tag nun hektische Diplomatie seit dem Nein in der vergangenen Woche. Morgen und übermorgen dann das Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Heute debattiert das Europäische Parlament darüber. Am Telefon ist nun der grüne Europaabgeordnete Cem Özdemir. Guten Morgen!
Cem Özdemir: Guten Morgen Herr Müller.
Müller: Herr Özdemir, "alles nicht so schlimm" könnte man sagen, denn wer es nicht schafft, sich für die EM-Endrunde zu qualifizieren, der braucht auch nicht in der EU zu sein.
Özdemir: Na ja, ich bin mir nicht sicher, ob die Iren das auch so sehen. Meine Befürchtung ist, dass die Staatschefs sich jetzt erst mal wieder aufs Wundenlecken beschränken werden. Ich halte nicht so viel davon, die Iren für ihre Entscheidung zu beschimpfen, denn wenn wir mal ehrlich sind: Wir wissen nicht, wie vergleichbare Referenten in Dänemark, in Tschechien, in Polen, aber auch in Deutschland oder Österreich beispielsweise ausgegangen wären. Man muss das ernst nehmen, was die Iren da entschieden haben. Aber die Iren müssen auch selber ihr eigenes Votum ernst nehmen. Sie wollen ganz offensichtlich nicht so weit gehen wie andere. Dann müssen wir uns eben versuchen, fair zu einigen, wie weit wir gemeinsam gehen können und wo wir eben nicht weiter gehen können. Da fällt mir beispielsweise ein, wenn ich die Debatte gegenwärtig verfolge, dass da auch jeder versucht, was anderes aus dem Nein der Iren rauszulesen. Attac liest daraus, dass man kein Europa der Großkonzerne möchte. Die Konservativen lesen daraus, dass man beispielsweise weniger Rechte für Schwule und Lesben möchte oder den Schwangerschaftsabbruch restriktiv regeln möchte wie in Irland. Also da habe ich auch so ein bisschen das Gefühl, dass jeder sich hinter dem Votum der Iren versteckt.
Müller: Was liest der grüne Politiker Cem Özdemir daraus?
Özdemir: Für mich ist beispielsweise klar, dass wir sicherlich nicht um konservative irische Wähler zu gewinnen in Deutschland die Rechte der Schwulen oder Lesben zurückschrauben werden oder den Schwangerschaftsabbruch nach irischem Vorbild regeln werden. Vielleicht ist das eben ein Punkt, wo man den irischen Wählern sagen möchte, ihr klärt das anders; wir, die Mehrheit in der Europäischen Union, klären das anders. Wenn man damit eine Zustimmung der Iren bekommt, mit Punkten dieser Art beispielsweise, dann ist es sicherlich noch mal eine Anstrengung wert. Klar ist allerdings auch, das Europa des Verwaltens, das Europa des Hinterzimmers und das Europa der Eliten ist endgültig vorbei. Was wir jetzt wieder bräuchten sind überzeugende Politiker, die mit Leidenschaft für Europa kämpfen und - da bin ich ganz bei Habermas, wie er das jetzt in der "Süddeutschen Zeitung" beschrieben hat - die auf die Marktplätze gehen und dort um die Zustimmung der Menschen werben und dafür kämpfen.
Müller: Ich habe das jetzt nicht richtig verstanden, wen Sie meinen mit den Eliten. Sind das die amtierenden Politiker? Sind das Günter Verheugen, sind das Barroso und andere im Kabinett?
Özdemir: Das sind natürlich die Eurokraten, aber es sind auch unsere nationalen Regierungen, die ja nun gerne sich hinter der Europäischen Union verstecken und versuchen, in Brüssel Dinge durchzusetzen, mit denen sie dann die nationalen Parlamente konfrontieren. Insofern muss man konstatieren, dass der Gewinn an Transparenz, der Gewinn an Kompetenz für das Europaparlament durch das Nein bedauerlicherweise auch erst mal gestoppt wurde. Also genau das, worüber sich unsere Bürger völlig zurecht ärgern, völlig zurecht empören, auch das ist jetzt leider erst mal auf Eis gelegt.
Müller: Ist die Kommission entrückt und elitär?
Özdemir: Man kann sich sicherlich beispielsweise die Frage stellen, ob künftig noch jede Kleinigkeit in Europa geregelt werden muss. Ich will Ihnen mal ein konkretes Beispiel geben von dieser Woche. Wir haben ja jetzt gerade eine Sitzungswoche in Straßburg. Ich bin ja gerade in Straßburg. Muss beispielsweise die Frage, ob der kommunale Fuhrpark, wie der ausgestattet sein soll, tatsächlich bei uns in Brüssel und Straßburg geregelt werden, oder muss nicht die Kommune vor Ort die Auseinandersetzung führen und dann natürlich auch gewinnen, dass eine entsprechende ökologische Anschaffungspolitik gilt.
Müller: Sie meinen Dienstfahrzeuge in Städten und Gemeinden?
Özdemir: Genau! Das ist jetzt nur ein Beispiel, das mir von dieser aktuellen Woche einfällt, wo ich mich bei der Abstimmung gefragt habe, müssen wir das tatsächlich hier abstimmen, oder kann das nicht vor Ort gemacht werden. Es ist nur ein kleines Beispiel dafür, wo man sich vielleicht künftig noch mal neu justieren sollte, welche Fragen in Brüssel zu klären sind, welche Fragen vor Ort besser geklärt werden sollen. Aber das ist keine Rechtfertigung für die Krise, in der wir gegenwärtig sind. Was wir jetzt tatsächlich brauchen ist eine europäische Vision. Da würde ich mir auch mit Blick auf die Wahlen 2009 wünschen, dass die anderen Parteien vielleicht auch dem Beispiel der Grünen folgen und als gemeinsame europäische Partei antreten mit allen Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, und mit europäischen Wahlkämpfen in eine Europawahl gehen und die Wahlen nicht missbrauchen für einen Schönheitswettbewerb über Herrn Chirac, über Frau Merkel oder über wen auch immer.
Müller: Ist das ein bisschen - ich muss die Frage noch mal wiederholen, Herr Özdemir - elitäre Selbsterhaltung, was da in Brüssel passiert?
Özdemir: Ich habe ein bisschen was dagegen, dass man die Verantwortung vor allem bei Brüssel ablädt. Man darf nicht vergessen, dass der Rat im Kern nach wie vor das Sagen hat und die Regierungen es sind, die uns die Vorgaben machen. Insofern können die Regierungen sich jetzt nicht quasi zurücklehnen und so tun, als ob sie mit dem Scheitern, das wir in Irland erlebt haben, nichts zu tun hätten. Die Regierungen sind jetzt auch in der Pflicht. Sie müssen sich ebenfalls überlegen, was dieses Nein in Irland für sie bedeutet.
Müller: Vor allem Berlin und Paris?
Özdemir: Ich habe ein bisschen was dagegen, wenn wir Europa jetzt wieder definieren als das alte Europa, das von Paris und Berlin gesteuert wird, weil das auch übersieht, dass wir 1989 eine Zeitenwende hatten und dass Europa heute eben auch ein osteuropäisches Europa ist. Ein Europa, das beispielsweise Polen ausgrenzt, das die osteuropäischen Staaten, übrigens auch die kleinen Staaten ausgrenzt, das wird zum Scheitern verurteilt sein.
Müller: Jürgen Habermas - Sie haben ihn eben schon gestern aus der "Süddeutschen Zeitung" zitiert - hat auch gesagt, wir brauchen eine europäische Volksabstimmung, weil Europa laut seiner Analyse grundsätzlich zur Disposition steht, zumindest wie das künftige Europa gestaltet werden soll. Könnte sich, Herr Özdemir, Europa beziehungsweise die EU tatsächlich dem Bürger stellen und würde dabei gewinnen?
Özdemir: Na ja, Jürgen Habermas hat das richtige Beispiel angesprochen - übrigens eine alte grüne Forderung. Wir haben ja in Irland gesehen: Bei den nationalen Referenden wird über alles abgestimmt, nur nicht über den Gegenstand, um den es eigentlich gehen soll, nämlich den Vertrag - zugegebenermaßen nicht gerade ein sehr einfach zu lesender Vertrag, der eben rauskommt, wenn Regierungen sich einigen auf europäischer Ebene. Es würde viel mehr Sinn machen, ein europaweites Referendum über ein europäisches Thema zu machen. Das wird nicht einfach durchzusetzen sein, aber wenn wir heute die Debatte darüber führen, die Diskussion führen, dann bekommen wir hoffentlich in einigen Jahren ein europaweites Referendum. Europäische Themen muss man europaweit abstimmen. Nationale Themen muss man national abstimmen. Beides zu vermischen gibt irische Ergebnisse.
Müller: Sie haben auch eben gesagt, wir sollten nicht den Stab brechen über die Iren. Wir wüssten nicht, wie es anderswo ausgehen würde. Wir wissen, wie es in den Niederlanden, wie es in Frankreich ausgegangen ist. Wissen Sie es wirklich nicht, wie es in anderen Ländern ausgehen würde?
Özdemir: Eines weiß ich: Wenn man mit den Leuten spricht, dann gibt es Zustimmung dafür - und zwar von den europaskeptischen bis zu den proeuropäischen Ländern -, dass wir eine gemeinsame europäische Politik brauchen im Kampf gegen den Klimawandel. Wenn man mit den Leuten spricht gibt es Zustimmung dafür, dass wir gemeinsam uns für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung einsetzen, die beispielsweise den Skandal des Hungers bekämpft. Wenn man mit den Menschen spricht - und zwar von Ost bis West, von Nord bis Süd innerhalb der Europäischen Union - gibt es Zustimmung für die Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen in der Welt, übrigens auch innerhalb der Europäischen Union. An den Themen merkt man, dass es ein europäisches Bewusstsein und ein Interesse für europäische gemeinsame Außenpolitik beispielsweise gibt. Offensichtlich hat die politische Klasse - und da dürfen wir uns selber nicht dabei ausschließen - es nicht geschafft, dieses in Politik zu gießen.
Müller: Nun sind Sie, Herr Özdemir, im Moment ja Europaabgeordneter. Sie wollen, um auf die Innenpolitik einzugehen, Parteichef der Grünen werden. Volker Ratzmann, Ihr Parteikollege in Berlin, will das auch. Warum sind Sie besser?
Özdemir: Ich kandidiere nicht gegen Volker Ratzmann. Volker Ratzmann ist ein ausgezeichneter Kandidat und es ist gut und es spricht für die Grünen, dass es zwei Bewerber gibt, die beide in der Partei verankert sind und Ansehen genießen. Ich möchte für das stehen, was ich einbringen kann. Ich möchte keine Koalitionsdiskussion führen zur Unzeit. Ich bin Grün-Grüner. Ich bin kein Schwarz-Grüner, auch kein Rot-Rot-Grüner. Bei mir steht das Grün vor und hinter dem Spiegelstrich. Das ist vielleicht etwas, wofür ich stehe und wofür ich in der Partei mich einsetzen möchte, gemeinsam mit Claudia Roth, wenn wir gewählt werden sollten. Und ich möchte mir vor allem auf die Punkte konzentrieren, gerade weil wir in Hamburg eine schwarz-grüne Koalition haben, in Bremen eine rot-grüne Koalition haben und in Hamburg schier eine rot-rot-grüne Koalition bekommen hätten, dass die Leute wissen: Wofür stehen die Grünen, was ist das spezifisch Grüne. Für mich müssen das im Kern drei Punkte sein. Ich hätte zwei gesagt letzte Woche; jetzt sind es drei. Das ist die Ökologie, das Thema Klimawandel und die Bekämpfung des Klimawandels. Die Gerechtigkeitsdebatte, wie kriegen wir eine inklusive Gesellschaft hin, eine Chancengleichheit auch für Migrantenkinder, auch für Arbeiterkinder gewährleistet. Und natürlich jetzt das Thema Europa. Ich möchte, dass die Grünen als die Europapartei in Deutschland in das Wahljahr 2009 gehen.
Müller: Und das unterscheidet Sie von Ihrem Mitbewerber?
Özdemir: Das haben Sie jetzt gesagt. Ich bin mir sicher, dass der Kollege Ratzmann vieles von dem, was ich sage, auch unterstreichen würde. Natürlich haben wir einen unterschiedlichen Stil, eine unterschiedliche Vita und auch die wird natürlich am Ende zur Abstimmung gestellt.
Müller: Der grüne Europaabgeordnete Cem Özdemir war das bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch!
Cem Özdemir: Guten Morgen Herr Müller.
Müller: Herr Özdemir, "alles nicht so schlimm" könnte man sagen, denn wer es nicht schafft, sich für die EM-Endrunde zu qualifizieren, der braucht auch nicht in der EU zu sein.
Özdemir: Na ja, ich bin mir nicht sicher, ob die Iren das auch so sehen. Meine Befürchtung ist, dass die Staatschefs sich jetzt erst mal wieder aufs Wundenlecken beschränken werden. Ich halte nicht so viel davon, die Iren für ihre Entscheidung zu beschimpfen, denn wenn wir mal ehrlich sind: Wir wissen nicht, wie vergleichbare Referenten in Dänemark, in Tschechien, in Polen, aber auch in Deutschland oder Österreich beispielsweise ausgegangen wären. Man muss das ernst nehmen, was die Iren da entschieden haben. Aber die Iren müssen auch selber ihr eigenes Votum ernst nehmen. Sie wollen ganz offensichtlich nicht so weit gehen wie andere. Dann müssen wir uns eben versuchen, fair zu einigen, wie weit wir gemeinsam gehen können und wo wir eben nicht weiter gehen können. Da fällt mir beispielsweise ein, wenn ich die Debatte gegenwärtig verfolge, dass da auch jeder versucht, was anderes aus dem Nein der Iren rauszulesen. Attac liest daraus, dass man kein Europa der Großkonzerne möchte. Die Konservativen lesen daraus, dass man beispielsweise weniger Rechte für Schwule und Lesben möchte oder den Schwangerschaftsabbruch restriktiv regeln möchte wie in Irland. Also da habe ich auch so ein bisschen das Gefühl, dass jeder sich hinter dem Votum der Iren versteckt.
Müller: Was liest der grüne Politiker Cem Özdemir daraus?
Özdemir: Für mich ist beispielsweise klar, dass wir sicherlich nicht um konservative irische Wähler zu gewinnen in Deutschland die Rechte der Schwulen oder Lesben zurückschrauben werden oder den Schwangerschaftsabbruch nach irischem Vorbild regeln werden. Vielleicht ist das eben ein Punkt, wo man den irischen Wählern sagen möchte, ihr klärt das anders; wir, die Mehrheit in der Europäischen Union, klären das anders. Wenn man damit eine Zustimmung der Iren bekommt, mit Punkten dieser Art beispielsweise, dann ist es sicherlich noch mal eine Anstrengung wert. Klar ist allerdings auch, das Europa des Verwaltens, das Europa des Hinterzimmers und das Europa der Eliten ist endgültig vorbei. Was wir jetzt wieder bräuchten sind überzeugende Politiker, die mit Leidenschaft für Europa kämpfen und - da bin ich ganz bei Habermas, wie er das jetzt in der "Süddeutschen Zeitung" beschrieben hat - die auf die Marktplätze gehen und dort um die Zustimmung der Menschen werben und dafür kämpfen.
Müller: Ich habe das jetzt nicht richtig verstanden, wen Sie meinen mit den Eliten. Sind das die amtierenden Politiker? Sind das Günter Verheugen, sind das Barroso und andere im Kabinett?
Özdemir: Das sind natürlich die Eurokraten, aber es sind auch unsere nationalen Regierungen, die ja nun gerne sich hinter der Europäischen Union verstecken und versuchen, in Brüssel Dinge durchzusetzen, mit denen sie dann die nationalen Parlamente konfrontieren. Insofern muss man konstatieren, dass der Gewinn an Transparenz, der Gewinn an Kompetenz für das Europaparlament durch das Nein bedauerlicherweise auch erst mal gestoppt wurde. Also genau das, worüber sich unsere Bürger völlig zurecht ärgern, völlig zurecht empören, auch das ist jetzt leider erst mal auf Eis gelegt.
Müller: Ist die Kommission entrückt und elitär?
Özdemir: Man kann sich sicherlich beispielsweise die Frage stellen, ob künftig noch jede Kleinigkeit in Europa geregelt werden muss. Ich will Ihnen mal ein konkretes Beispiel geben von dieser Woche. Wir haben ja jetzt gerade eine Sitzungswoche in Straßburg. Ich bin ja gerade in Straßburg. Muss beispielsweise die Frage, ob der kommunale Fuhrpark, wie der ausgestattet sein soll, tatsächlich bei uns in Brüssel und Straßburg geregelt werden, oder muss nicht die Kommune vor Ort die Auseinandersetzung führen und dann natürlich auch gewinnen, dass eine entsprechende ökologische Anschaffungspolitik gilt.
Müller: Sie meinen Dienstfahrzeuge in Städten und Gemeinden?
Özdemir: Genau! Das ist jetzt nur ein Beispiel, das mir von dieser aktuellen Woche einfällt, wo ich mich bei der Abstimmung gefragt habe, müssen wir das tatsächlich hier abstimmen, oder kann das nicht vor Ort gemacht werden. Es ist nur ein kleines Beispiel dafür, wo man sich vielleicht künftig noch mal neu justieren sollte, welche Fragen in Brüssel zu klären sind, welche Fragen vor Ort besser geklärt werden sollen. Aber das ist keine Rechtfertigung für die Krise, in der wir gegenwärtig sind. Was wir jetzt tatsächlich brauchen ist eine europäische Vision. Da würde ich mir auch mit Blick auf die Wahlen 2009 wünschen, dass die anderen Parteien vielleicht auch dem Beispiel der Grünen folgen und als gemeinsame europäische Partei antreten mit allen Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, und mit europäischen Wahlkämpfen in eine Europawahl gehen und die Wahlen nicht missbrauchen für einen Schönheitswettbewerb über Herrn Chirac, über Frau Merkel oder über wen auch immer.
Müller: Ist das ein bisschen - ich muss die Frage noch mal wiederholen, Herr Özdemir - elitäre Selbsterhaltung, was da in Brüssel passiert?
Özdemir: Ich habe ein bisschen was dagegen, dass man die Verantwortung vor allem bei Brüssel ablädt. Man darf nicht vergessen, dass der Rat im Kern nach wie vor das Sagen hat und die Regierungen es sind, die uns die Vorgaben machen. Insofern können die Regierungen sich jetzt nicht quasi zurücklehnen und so tun, als ob sie mit dem Scheitern, das wir in Irland erlebt haben, nichts zu tun hätten. Die Regierungen sind jetzt auch in der Pflicht. Sie müssen sich ebenfalls überlegen, was dieses Nein in Irland für sie bedeutet.
Müller: Vor allem Berlin und Paris?
Özdemir: Ich habe ein bisschen was dagegen, wenn wir Europa jetzt wieder definieren als das alte Europa, das von Paris und Berlin gesteuert wird, weil das auch übersieht, dass wir 1989 eine Zeitenwende hatten und dass Europa heute eben auch ein osteuropäisches Europa ist. Ein Europa, das beispielsweise Polen ausgrenzt, das die osteuropäischen Staaten, übrigens auch die kleinen Staaten ausgrenzt, das wird zum Scheitern verurteilt sein.
Müller: Jürgen Habermas - Sie haben ihn eben schon gestern aus der "Süddeutschen Zeitung" zitiert - hat auch gesagt, wir brauchen eine europäische Volksabstimmung, weil Europa laut seiner Analyse grundsätzlich zur Disposition steht, zumindest wie das künftige Europa gestaltet werden soll. Könnte sich, Herr Özdemir, Europa beziehungsweise die EU tatsächlich dem Bürger stellen und würde dabei gewinnen?
Özdemir: Na ja, Jürgen Habermas hat das richtige Beispiel angesprochen - übrigens eine alte grüne Forderung. Wir haben ja in Irland gesehen: Bei den nationalen Referenden wird über alles abgestimmt, nur nicht über den Gegenstand, um den es eigentlich gehen soll, nämlich den Vertrag - zugegebenermaßen nicht gerade ein sehr einfach zu lesender Vertrag, der eben rauskommt, wenn Regierungen sich einigen auf europäischer Ebene. Es würde viel mehr Sinn machen, ein europaweites Referendum über ein europäisches Thema zu machen. Das wird nicht einfach durchzusetzen sein, aber wenn wir heute die Debatte darüber führen, die Diskussion führen, dann bekommen wir hoffentlich in einigen Jahren ein europaweites Referendum. Europäische Themen muss man europaweit abstimmen. Nationale Themen muss man national abstimmen. Beides zu vermischen gibt irische Ergebnisse.
Müller: Sie haben auch eben gesagt, wir sollten nicht den Stab brechen über die Iren. Wir wüssten nicht, wie es anderswo ausgehen würde. Wir wissen, wie es in den Niederlanden, wie es in Frankreich ausgegangen ist. Wissen Sie es wirklich nicht, wie es in anderen Ländern ausgehen würde?
Özdemir: Eines weiß ich: Wenn man mit den Leuten spricht, dann gibt es Zustimmung dafür - und zwar von den europaskeptischen bis zu den proeuropäischen Ländern -, dass wir eine gemeinsame europäische Politik brauchen im Kampf gegen den Klimawandel. Wenn man mit den Leuten spricht gibt es Zustimmung dafür, dass wir gemeinsam uns für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung einsetzen, die beispielsweise den Skandal des Hungers bekämpft. Wenn man mit den Menschen spricht - und zwar von Ost bis West, von Nord bis Süd innerhalb der Europäischen Union - gibt es Zustimmung für die Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen in der Welt, übrigens auch innerhalb der Europäischen Union. An den Themen merkt man, dass es ein europäisches Bewusstsein und ein Interesse für europäische gemeinsame Außenpolitik beispielsweise gibt. Offensichtlich hat die politische Klasse - und da dürfen wir uns selber nicht dabei ausschließen - es nicht geschafft, dieses in Politik zu gießen.
Müller: Nun sind Sie, Herr Özdemir, im Moment ja Europaabgeordneter. Sie wollen, um auf die Innenpolitik einzugehen, Parteichef der Grünen werden. Volker Ratzmann, Ihr Parteikollege in Berlin, will das auch. Warum sind Sie besser?
Özdemir: Ich kandidiere nicht gegen Volker Ratzmann. Volker Ratzmann ist ein ausgezeichneter Kandidat und es ist gut und es spricht für die Grünen, dass es zwei Bewerber gibt, die beide in der Partei verankert sind und Ansehen genießen. Ich möchte für das stehen, was ich einbringen kann. Ich möchte keine Koalitionsdiskussion führen zur Unzeit. Ich bin Grün-Grüner. Ich bin kein Schwarz-Grüner, auch kein Rot-Rot-Grüner. Bei mir steht das Grün vor und hinter dem Spiegelstrich. Das ist vielleicht etwas, wofür ich stehe und wofür ich in der Partei mich einsetzen möchte, gemeinsam mit Claudia Roth, wenn wir gewählt werden sollten. Und ich möchte mir vor allem auf die Punkte konzentrieren, gerade weil wir in Hamburg eine schwarz-grüne Koalition haben, in Bremen eine rot-grüne Koalition haben und in Hamburg schier eine rot-rot-grüne Koalition bekommen hätten, dass die Leute wissen: Wofür stehen die Grünen, was ist das spezifisch Grüne. Für mich müssen das im Kern drei Punkte sein. Ich hätte zwei gesagt letzte Woche; jetzt sind es drei. Das ist die Ökologie, das Thema Klimawandel und die Bekämpfung des Klimawandels. Die Gerechtigkeitsdebatte, wie kriegen wir eine inklusive Gesellschaft hin, eine Chancengleichheit auch für Migrantenkinder, auch für Arbeiterkinder gewährleistet. Und natürlich jetzt das Thema Europa. Ich möchte, dass die Grünen als die Europapartei in Deutschland in das Wahljahr 2009 gehen.
Müller: Und das unterscheidet Sie von Ihrem Mitbewerber?
Özdemir: Das haben Sie jetzt gesagt. Ich bin mir sicher, dass der Kollege Ratzmann vieles von dem, was ich sage, auch unterstreichen würde. Natürlich haben wir einen unterschiedlichen Stil, eine unterschiedliche Vita und auch die wird natürlich am Ende zur Abstimmung gestellt.
Müller: Der grüne Europaabgeordnete Cem Özdemir war das bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch!