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Grundschule
"Ohne Wissen sind Kinder vulnerabel für Vorurteile"

Laut einer Studie kann ein Großteil der Grundschüler kaum etwas mit den Begriffen "Jude" oder "Roma" anfangen. Oft hätten sie nur ein bisschen Wissen darüber und suchten Antworten, sagte Maya Götz vom Institut für Jugend- und Bildungsfernsehen im Dlf. Das mache sie anfällig für extremistische Deutungen.

Maya Götzt im Gespräch mit Regina Brinkmann | 06.11.2018
    Schüler einer dritten Klasse einer Grundschule in Prenzlau in Brandenburg sitzen vor einer Tafel.
    Schüler einer dritten Klasse einer Grundschule in Prenzlau in Brandenburg (picture alliance / Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/ZB)
    Regina Brinkmann: Kennst du den Begriff "Jude" oder "Roma"? Ein Großteil der Grundschüler muss bei dieser Frage passen und hat laut einer repräsentativen Studie keine Ahnung, was die Begriffe bedeuten. Die Forscher haben 840 Kinder im Alter zwischen sechs und 13 Jahren befragt und wollten von ihnen erfahren, was sie über diese Begriffe wissen und was sie damit assoziieren. Gerade mal die Hälfte hat das Wort "Jude" überhaupt schon mal gehört. Das ist ein Ergebnis. Über weitere rede ich mit Maya Götz vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen. Guten Tag!
    Maya Götz: Schönen guten Tag!
    Brinkmann: Frau Götz, wenn Kinder das Wort "Jude" überhaupt schon mal gehört haben, was wissen sie dann darüber?
    Götz: Wenn sie es gehört haben, dann verorten Sie es am häufigsten im Bereich von Religion, also es ist eine andere Religion. Einige sagen, die leben zum Beispiel in Israel, also die leben in einem bestimmten Staat. Das sind so etwa acht Prozent. Und ganz selten wird der Kontext Verfolgung erwähnt.
    Brinkmann: Also nur jeder fünfte Grundschüler im Alter von acht bis neun ist sicher, dass Juden verfolgt wurden. Ist das überhaupt schon ein Thema oder eine Vorgabe in den Lehrplänen der Grundschulen?
    Götz: Das Thema "Andere Religionen" ja. In den Lehrplänen steht meistens drin, andere Religionen wie Islam oder Judentum. Und es scheint so zu sein, dass dann eher das Thema Islam behandelt wird als Judentum, weil die meisten eben darüber kaum etwas oder eben gar nichts wissen.
    Brinkmann: Auch zum Begriff "Roma" haben Sie Kinder befragt. Welche Aussagen kamen denn da?
    Götz: Das war wirklich der unbekannteste Begriff. Selbst bei den 12- bis 13-Jährigen, das heißt, die sind dann schon in der siebten, achten Klasse, kann im Prinzip nur jede fünfte Jugendliche das begründen und erklären, was da hinter diesem Begriff steht. Das heißt, die meisten kennen überhaupt den ganzen Begriff gar nicht.
    Vorurteile der Grundschulzeit bleiben
    Brinkmann: Und wie haben Sie danach gefragt?
    Götz: Die Begriffe haben wir direkt abgefragt. Wir haben aber auch bestimmte Vorurteile, so Ideen, die vielleicht im Kopf sind. Oder wir haben auch zum Beispiel den Begriff "Zigeuner" abgefragt. Und da zeigte sich dann, das wissen ein bisschen mehr Kinder als den Begriff "Roma". Und wenn, sind da wirklich zum Teil auch richtig harte antiziganistische Vorurteile bei den Kindern im Kopf.
    Brinkmann: Ihre Ergebnisse, sind die ein Indiz für schlechte Didaktik in der Grundschule?
    Götz: Ich glaube, es ist eher eine Form von Nichtthematisieren, nicht die Chancen zu nutzen, die gerade in diesem Alter da sind. Grundschulalter ist wirklich die sensible Phase. Man kann nachweisen, dass die Vorurteile, die die Kinder am Ende der Grundschulzeit haben, relativ konstant bleiben. Das heißt, Grundschulzeit ist wirklich die Zeit, wo sie eigentlich noch sehr offen sind, wo sie ganz viel auch wissen wollen. Und wenn man dort zum Beispiel interkulturelle Begegnungen ermöglicht, wenn man einfach Wissen entsprechend vermittelt, dann sind sie dafür offen, und dann sind die Vorurteile auch deutlich weniger.
    Wahrscheinlich sind in bestimmten Bereichen, ist mehr Sensibilität – das Thema Islam oder Muslime, Muslima –, da wird wahrscheinlich eine ganze Menge getan, weil da sehen die Ergebnisse ganz gut aus. Im Bereich aber gerade Juden, Jüdinnen und eben Roma, Sinti, da sehen die einfach richtig schlecht aus.
    Brinkmann: Warum sind diese Ergebnisse aus Ihrer Sicht brisant?
    Götz: Es verdeutlicht, wenn die Kinder kein Wissen haben und nur den Begriff kennen, dann sind sie vulnerabel für Vorurteile, für extremistische Deutungen. Gerade zum Beispiel im Bereich, wenn wir von Juden, Judentum reden, dann haben sie schon etwas davon gehört. Wir haben parallel auch abgefragt Wissen zum Zweiten Weltkrieg und zur Verfolgung, und da wird deutlich: Die haben so ein bisschen Wissen. Sie wissen, da ist irgendwas passiert, da sind auch Menschen irgendwie gestorben. Wie der Zweite Weltkrieg ausgegangen ist, wissen sie allerdings nicht oder meistens nicht.
    Das heißt, sie haben so ein bisschen Wissen und suchen nach Antworten. Und wenn jetzt von der falschen Seite oder von einer extremistischen Seite Deutungen hinzugegeben werden, dann werden sie diese memorieren. Und richtig fundiert im Geschichtsunterricht haben sie es dann aber erst mit 14, 15, das heißt, sehr viel später, eben erst je nach Schulsystem in der neunten oder zehnten Klasse. Das heißt, hier geht es wirklich darum, zu sehen, wo sind die sensiblen Bereiche und wo brauchen Kinder ganz dringend Wissen, um einfach ein Leben in Deutschland und Minderheiten in Deutschland und natürlich auch so etwas wie Geschichte, Grundarbeit oder politische Grundbildung im Bereich von Geschichte und Zweiter Weltkrieg.
    "Es gibt spannende Ansätze"
    Brinkmann: Aber das muss natürlich auch altersgemäß sein.
    Götz: Auf jeden Fall. Das ist natürlich gerade beim Thema Zweiter Weltkrieg und Holocaust ganz entscheidend, dort eben auch Jugendschutzrichtlinien einzuhalten und Ähnliches. Aber gerade da lohnt sich die Arbeit. Und es gibt spannende Ansätze dafür, das Thema im Grundschulbereich einzubringen. Und es gibt eben auch jetzt mittlerweile verschiedene Kindersendungen, die ganz gezielt für diese Altersgruppe gestaltet sind und wo wirklich die Chancen zu nutzen sind, für diese Altersgruppe Wissen zur Verfügung zu stellen.
    Brinkmann: Und dieses Wissen beziehungsweise dieses Medienangebot, wie wird das denn von den Grundschulen genutzt?
    Götz: Da sind unter anderem in Zusammenarbeit mit uns entstandene Sendungen, die natürlich jetzt erst gerade neu entstanden sind, wo sich aber zeigt, da ist eine ganz große Offenheit auch bei Grundschulen. Zum Beispiel eine Sendung "Der Krieg und ich", eine Sendung über den Zweiten Weltkrieg und Holocaust für Acht- bis Zwölfjährige, wo Grundschulen sehr offen sind, dieses einzubeziehen, weil dieses schwere Thema reinzubringen, zu verstehen, was passierte da im Nationalsozialismus? Was war die Hitler-Jugend? Warum war sie vielleicht auch so anziehend?
    Das hat ja auch aktuelle Bezüge dann. Warum ist Rechtsradikalismus vielleicht auch etwas, was so attraktiv ist, und wo kann das einfach hinführen? Und dies in gut gemachten Geschichten zu erzählen, wo Kinder wirklich auch was mit rausnehmen, das ist etwas, was wir dringend brauchen in unserer Gesellschaft, gerade in der aktuellen Situation.
    Brinkmann: Sagt Maya Götz vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Götz!
    Götz: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.