Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Günter Gaus: Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen

Am 14. Mai dieses Jahres starb 74-jährig Günter Gaus. Seitdem er von seiner schweren Krankheit erfahren hatte, schrieb der Publizist und erste Bonner Missionschef in Ost-Berlin im Wettlauf mit der ihm verbleibenden Zeit an seinen Memoiren – er verlor diesen Wettlauf. Gaus’ Erinnerungen blieben unvollendet, gerade über die wohl spannendste Zeit seines Lebens – die in der DDR – verraten sie leider nichts mehr. Doch auch das nun bei Propyläen veröffentlichte Fragment, in dem Gaus die ersten 40 Jahre seines Lebens schildert, ist lesenswert – meint unsere Rezensentin Brigitte Baetz.

Von Brigitte Baetz | 20.12.2004
    Jeder Hund hat seinen Tag; dann gehört ihm zwar nicht die Welt, aber doch der Hase; er ist auf der Höhe der Zeit. Mein Tag war lang und meistens sonnig. Vor gut zehn Jahren ist er zu Ende gegangen. Ich schreibe dies, nach längerer Unterbrechung, im April 2001.

    Der Journalist und zeitweilige Diplomat Günter Gaus war wohl das, was man ein Glückskind nennen kann. Der begabte Junge aus kleinbürgerlichen Verhältnissen machte – parallel zur wirtschaftlichen und politischen Erfolgsgeschichte des Landes – in der Bundesrepublik eine steile Karriere. Erst Redakteur bei der "Badischen Zeitung", bald für kurze Zeit beim "Spiegel", dann bei der "Süddeutschen Zeitung": als erst 33-jähriger bekommt er das Angebot für das neu gegründete ZDF die Gesprächsreihe "Zur Person. Porträts in Frage und Antwort" zu gestalten - eine Reihe, die, auf wechselnden Sendern und Sendeplätzen, Fernsehgeschichte schrieb.

    In diesen Interviews war Hannah Arendt die Vollendung, denn als ich mich vorbereitet hatte auf diese deutsch-jüdische Philosophin, die gerade sehr umstritten war, weil sie ein Buch über den Eichmann-Prozess geschrieben hatte, in dem sie auch die fürchterlich groteske Komik dieser Figur beschrieb, was man ihr gerade unter den Juden sehr übel nahm, diese hoch-philosophische Frau habe ich erwartet als einen Blaustrumpf zu treffen und dann kam ich zum Vorgespräch mit ihr in München ins Hotel und fand eine Frau vor mir, die ihren Blaustrumpf wie einen Nerz getragen hat.

    Der präzise Interviewer Günter Gaus war immer auch ein präziser Beobachter, was den größten Reiz seiner Autobiographie ausmacht. Die Einsamkeit des gewesenen Bundeskanzlers Adenauer, die innere Zerrissenheit Herbert Wehners oder die Menschenverachtung Rudolf Augsteins - Günter Gaus beschreibt die Menschen, die seinen Lebensweg kreuzten und beeinflussten, kritisch, aber immer bemüht, gerecht zu bleiben. Eine entscheidende Figur war auch Helmut Kohl, der noch als Fraktionsvorsitzender der CDU in Rheinland-Pfalz mit dafür sorgte, dass Günter Gaus, der Kandidat der Sozialdemokraten, Programmdirektor beim Südwestfunk in Mainz werden konnte.

    Dafür, dass wir zwei junge Männer von erst fünfunddreißig Jahren waren, wirkte Kohls Auftreten gravitätisch. Er schien aufrichtig interessiert zu sein an meinen Lebensumständen außerhalb des ihm vertrauten Reviers zwischen Ludwigshafen und Mainz. Er forschte nach vielem. Aber niemals, so habe ich in allen späteren Gesprächen beobachtet, stellte er etwas von dem, was er gelernt, aufgenommen, angenommen hatte, über seinen Instinkt. Wenn man ihm ein wenig näher gekommen war, wurde deutlich, dass er in der Regel eher faul war. Aber er täuschte auch nicht das Gegenteil vor, darin angenehm unterschieden von vielen öffentlich Tätigen. Kohl hatte es nicht mit der Atemlosigkeit. Er fand in seiner aktiven Zeit den archimedischen Punkt in sich. Er hielt gern Hof; Höfling selbst war er nie.

    Günter Gaus schrieb seine Memoiren unter dem Einfluss einer schweren Erkrankung, die auch zu seinem Tod führte. Zu einer hektischen Bestandsaufnahme hat ihn das nicht verleitet. Mit viel Akribie und in größter Ruhe beschreibt er auch die Medienwelt der 60er Jahre, in der Gaus als Programmdirektor des SWF zum Hierarchen innerhalb der ARD aufgestiegen war, bevor er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Spiegel" werden sollte.

    Ich war zehn bis fünfzehn Jahre jünger als die anderen Direktoren, die mir freundlich entgegenkamen und wohl auch neugierig waren auf den jungen Mann mit einem anderen Erfahrungshintergrund. Sie führten gelegentlich Diskussionen, die von der Programmkritik ausgingen und sich erweiterten ins Literarische, Philosophische, Historische, eingebettet in die eigenen Biographien im nationalsozialistischen Vorkrieg und Krieg und in das Bemühen, darüber hinauszugelangen zu neuen Standpunkten. Es waren Gespräche, hinter denen das Fernsehen zurücktrat, manchmal fast vergessen wurde, was im Ergebnis vermutlich dazu beitrug, dass es damals im großen und ganzen seine Gebühren wert war.

    Die Beschreibung einer ARD jenseits des Quotendruck und ohne private Konkurrenz erscheint heute wie die Beschreibung einer untergegangenen Welt. Und Gaus fragt sich, wie lange die Erinnerung an Menschen, Namen, Begebenheiten für die Nachgeborenen noch von Interesse sein wird. Selbst eine Figur wie Rudolf Augstein, der in seiner autokratischen und monomanischen Art heute kaum noch vorstellbar ist, ist für die Heutigen im wahrsten Sinne des Wortes ein Mann des vergangenen Jahrhunderts. Diese Erkenntnis mindert nicht Gaus Freude an der Erwähnung berühmter Namen. Er war nicht ohne Eitelkeit, wie er selbst immer wieder eingesteht. Das Vergnügen daran, sich in einflussreichen Kreisen bewegt zu haben, ja auch selber Einfluss ausgeübt zu haben, scheint zwischen den Zeilen immer wieder durch. Und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb betont er, dass er seine Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen, der Vater war Obsthändler, nicht vergessen hat.

    Gesetzlich vorgeschrieben war von Mitte der dreißiger Jahre an eine Mittagspause in den Ladenöffnungszeiten. Meine Eltern hatten einen langen Arbeitstag: Kurz nach fünf Uhr morgens aufstehen; ein Frühstück für den schlafenden Jungen vorbereiten; Mittagsbrote für ihn dick mit Butter bestreichen und einpacken; um sechs Uhr mit dem Opel P4 nebst Anhänger zum Einkaufen auf dem Großmarkt sein: wenn man zu spät kommt, sind die Qualitätssorten schon ausverkauft; Kisten und Körbe schleppen und auspacken; von acht bis achtzehn Uhr das Geschäft ohne Hilfskraft offen halten; zur Spargelzeit und zur Erdbeerernte noch zu altvertrauten Bauern und Großgärtnern über Land fahren, um "günstiger und frischer" einzukaufen als auf dem reglementierten Großmarkt. Eine gemeinsame Mittagspause hatten sich meine Eltern nicht gegönnt wegen der Konkurrenz eines größeren Lebensmittelgeschäfts, "Kolonialwarengeschäfts", das auch Obst und Gemüse anbot und Verkäuferinnen beschäftigte, die sich ablösen konnten.

    Der Zeit vor Ende des Zweiten Weltkrieges widmet Gaus fast 100 Seiten, also nahezu ein Drittel seines Buches, das leider - krankheitsbedingt - schon 1972 abbricht. Das mag für manchen Leser ein Ungleichgewicht bedeuten, doch war es Günter Gaus wohl wichtig, seine Familiengeschichte zu beschreiben. Denn diese Geschichte erklärt auch seine politische Einstellung in den Jahren, die Gaus nicht mehr bearbeiten konnte. Sie zeigt, warum er den Eliten der neuen, vereinigten Bundesrepublik vorwarf, sich der so genannten kleinen Leute, seien sie Ost- oder Westdeutsche, nicht mehr anzunehmen und vielleicht auch, warum er sich in der DDR, diesem Land der "kleinen Leute", durchaus wohl gefühlt hat. Eines seiner wichtigsten Kulturerlebnisse nach dem Krieg, so schreibt er, war der Besuch des Stückes "Unsere Kleine Stadt" von Thornton Wilder:

    Es war nach diesem schrecklichen Kriegspathos, es war so ungeheuer zivil, es war so sehr der einzelne, schwache, hinfällige Mensch steht im Mittelpunkt des Universums. Es ist die Menschlichkeit, die im Kleinen, im Einzelwesen sich darstellt, nicht nur darstellt, die es ist und die mich, glaube ich, auf all meine Jahre hin gefeit hat gegen Pathos.

    Es ist schade, dass Günter Gaus seine Jahre als Ständiger Vertreter in Ost-Berlin nicht mehr beschreiben konnte, was hätte man alles erfahren können: Über die DDR-Führung, über Willy Brandt und den engen Freund Egon Bahr und über die Schwierigkeiten, vom beobachtenden Journalisten zur gestaltenden Figur geworden zu sein. Günter Gaus mit seiner ausgeprägten Fähigkeit zu Selbstreflexion und zur Personenbeschreibung hätte auch diese Zeit wieder lebendig gemacht. Doch weisen seine Erinnerungen darüber hinaus. Gaus, der mit der deutschen Vereinigung fremdelte, hatte Bedenken, dass mit dem Ende der alten Bundesrepublik auch das Ende einer rationalen, sich selbst beschränkenden Politik gekommen sein könnte.

    An einem Sommerabend im Jahr 1990 also, die staatliche Vereinigung war nahe, sagte der Reiterfreund: "Das Volk hat es immer gewusst." Er war Prokurist in der Versicherungsbranche. Meine Frage nach seinem Platz im Volk verstand er nicht. Er wiederholte nur: "Das Volk hat es immer gewusst." Da war es wieder, nach fast einem halben Jahrhundert: das Mystische, das Dunkle jenseits der Vernunft. Aus dem Munde eines Versicherungskaufmanns raunte es, das Unwiderlegbare. Der "Bocksgesang" des Botho Strauß, des Ernst Jünger seiner Zeit, knüpfte wenige Jahre später hier an. Unsere historische Pause war zu Ende. Mein Tag, lang und meistens sonnig, war vergangen.

    Brigitte Baetz über: Günter Gaus. Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen. Veröffentlicht bei Propyläen Berlin, der Band umfasst 379 Seiten zum Preis von 25 Euro.