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Günter Grass: Gespräche
Das Vermächtnis eines politisch engagierten Schriftstellers

Pro Jahrzehnt ein epischer Roman, dazwischen Novellen, Gedichte, Theaterstücke, und immer wieder Interviews. Wortkarg war er nie, der Schriftsteller mit dem markanten Schnauzbart. Günter Grass mischte sich ein – er war der politische Intellektuelle der BRD. Dann fiel die Mauer in Berlin.

Von Yannic Han Biao Federer | 03.12.2019
Der Autor Günter Grass spricht am 20.11.2014 in München (Bayern) bei der Eröffnung der Ausstellung "Hundejahre".
Der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass starb im Alter von 87 Jahren in Lübeck (picture-alliance/ dpa / Sven Hoppe)
Zugegeben, es ist ein richtiger Brocken, ein Wälzer, kein Buch für die Manteltasche. Aber was soll man auch anderes erwarten von einem, dessen Debütroman schon über achthundert Seiten füllte. Günter Grass hat sich selten kurzgefasst, das weiß man, und der nun im Steidl-Verlag erschienene Gesprächsband dokumentiert auf knapp neunhundert Seiten, mit welcher Ausdauer und Geduld der Nobelpreisträger auf jede noch so eigenwillige Frage einzugehen vermochte. In der legendären ZDF-Interview-Reihe "Zur Person" erläuterte er Günter Gaus etwa die Hintergründe seiner Oberlippenbehaarung.
"Warum tragen Sie einen Schnurrbart, Herr Grass?"
"Das hängt bei mir wahrscheinlich damit zusammen, daß die unteren Zähne vorstehen, und dann ist das ein leichter Ausgleich im Profil. Ich habe schon mehrere Bärte probiert. Es gab auch Zeiten, in denen ich überhaupt keinen Bart getragen habe. Ich weiß nicht, ob ich bei dem jetzigen bleibe. Jedenfalls habe ich mich mittlerweile mit meinem Bart befreundet."
Es ist eine Freundschaft fürs Leben geworden; und auch andere Dinge bleiben ihm, so erfährt man, bis ins hohe Alter erhalten. In einem späten Interview der Frankfurter Rundschau lässt Grass keinen Zweifel, wie unmittelbar sich seine lyrischen Texte auf ihn als Person beziehen.
"In Ihrem jüngsten Gedichtband ‚Letzte Tänze‘ feiern Sie ihre sexuelle Potenz. Ein Gedicht trägt den Titel ‚Heftige Stöße‘. In einem anderen heißt es: ‚Komm lieg mir bei, solang mein Einundalles steht…‘"
"Darin drückt sich eine Dankbarkeit aus, daß es noch geht in meinem Alter."
"Dankbarkeit wem gegenüber?"
"Na, ihm gegenüber, daß er noch steht."
"Gelänge die Erektion nicht mehr, das wäre das Ende?"
"Das will ich nicht sagen. Ich würde es mit Bedauern feststellen, aber ich würde ganz gewiß weiterschreiben."
Scharfe Position zur Wiedervereinigung
Und er hat weitergeschrieben, unermüdlich. Dass man sich dabei gelegentlich auch wiederholt, bleibt nicht aus, und so wiederholen sich auch die Anekdoten und Geschichten, die Grass über die Jahrzehnte auf die Tonbänder seiner Inteviewpartnerinnen und Interviewpartner spricht.
Geht es etwa um seine pommersche Geburtsstadt Danzig, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs Gdánsk heißt und in Polen liegt, kommt Grass zuverlässig auf Salman Rushdie zu sprechen. Sie verbindet der Verlust, der sich als literarisch äußerst produktiv erweist. Denn während Grass in seinen Romanen und Novellen immer wieder ins verlorene Danzig zurückkehrt, angefangen mit seinem Debüt und Bestseller "Die Blechtrommel", ist es bei Rushdie das Bombay seiner Kindheit, das für ihn kaum noch etwas mit der hoch verdichteten Metropole namens Mumbai zu tun hat, das er also nur schreibend noch einholen kann, etwa in "Mitternachtskinder".
Auch seine Position zur Wiedervereinigung wiederholt Grass gebetsmühlenartig, unabhängig davon, ob die D-Mark bereits eingeführt, der Beitritt längst vollzogen ist.
"Ich kritisiere das Überstürzte. Das war keine Vereinigung, das war Anschluß, und zwar unter Mißachtung des Grundgesetzes, in dem steht, daß das deutsche Volk im Falle der Einheit eine neue Verfassung bekommen müsse, damit den siebzehn Millionen Ostdeutschen die Möglichkeit gegeben wird, sich einzubringen… Aber Sie winken ab. Das interessiert Sie gar nicht."
"Ich habe das alles schon oft von Ihnen gehört und gelesen. Ihr Standpunkt in dieser Frage ist ja zur Genüge bekannt."
"Ja gut. Sie haben sich vorbereitet. Das ist bei Journalisten sehr selten."
"Mich stört Ihre Selbstgewissheit."
"Ich würde nicht für mich in Anspruch nehmen, daß ich mir in allem sicher bin."
Möwenfedern und Gänsekiele
Ob redundant oder nicht, hier liegt der eigentliche Glutkern des Sammelbandes begraben. Denn natürlich ist es nicht uninteressant zu erfahren, dass Grass von seiner "Blechtrommel" zuerst den ersten Satz wusste. Und auch ein Blick in die Grass’sche Werkstatt ist durchaus reizvoll.
"Ich benutze in Gedichtniederschriften Instrumente, die ich auch beim Zeichnen gebrauche, zum Beispiel Möwenfedern, Gänsekiele."
Packend wird es aber vor allem dort, wo sich ein roter Faden, eine Entwicklung herauszuschälen beginnt, die nicht allein den Schriftsteller, Grafiker, Bildhauer und Maler Günter Grass im Verhältnis zum politischen Intellektuellen Grass beschreibt, sondern zugleich einen eindrücklichen Blick auf die Geschichte der Intellektuellen in der Bundesrepublik ermöglicht.
Dass Grass heute als Paradebeispiel, wenn nicht gar als idealtypischer Vertreter des politisch engagierten Schriftstellers gilt, war zu Beginn seiner Karriere keineswegs ausgemacht. Anfang der 60er Jahre war er mit der "Blechtrommel" zwar längst zu einigem Ruhm gelangt, er galt ansonsten aber als unpolitisch, wenn überhaupt als Anarchist. Erst eine Wahlkampfrede Konrad Adenauers, in der dieser seinen Widersacher, den damaligen Berliner Oberbürgermeister Willy Brandt, implizit als uneheliches Kind, Emigrant und Vaterlandsverräter diffamierte, trieb Grass auf die politische Bühne, zunächst als Redenschreiber Brandts, dann als Mitinitiator verschiedener Wahlkampfinitiativen zur Unterstützung der SPD.
Springer war der Widersacher
Adenauer indes war nicht der einzige Geburtshelfer jenes politischen Intellektuellen. Ein anderer hieß: Axel Springer. Grass nämlich trieb die Sorge um, seine Interventionen könnten ins Feuilleton abgeschoben werden und so ihre Wirkung verfehlen. 2006, in einem Streitgespräch mit Springer-Chef Mathias Döpfner, erzählt er:
"Auf einem Flug nach Amerika saß ich mit einem Springer-Journalisten zusammen und sprach mit ihm über meine Sorge. Der sagte nur: ‚Sie sollten vielleicht an Springer, der ist auch ein eitler Mensch, Sie sollten ihm persönlich einen Brief schreiben, vielleicht reagiert er darauf.‘ Da habe ich ihm aus Amerika einen handgeschriebenen Brief geschickt, und als ich zurückkam, lag eine Einladung vor. Ich flog nach Hamburg; er saß ganz oben im Verlag, hatte Richtung Osten eine große Fensterfront. Wenn er sprach, zeigte er aus dem Fenster. […] Ich erzählte ihm: ‚Ich habe vor, für die Sozialdemokraten Wahlkampf zu machen; ich weiß, Sie sind dagegen, Sie können das auch gern verreißen, aber bitte nicht im Feuilleton, im politischen Teil.‘
Grass hatte Erfolg. Seinen ersten öffentlichen Wahlkampfauftritt hatte er in Hamburg, die Springer-Zeitung "Die Welt" berichtete – und zwar im Politikteil. Von da an, so ist es auch im knapp sechs Jahrzehnte überspannenden Gesprächsband nachzulesen, ist Grass immer in zwei Hinsichten befragt worden, einmal als Künstler und Schriftsteller, und einmal als politische Stimme. Das Gewissen der Nation will er dabei nicht sein, die durchaus polemisch gemeinte Titulierung weist er von sich. Und doch begreift er seine Rolle als Mahner, der, so sagt er, "moralischen Druck auszuüben" habe, "mit Hilfe von Argumenten".
Viel Politik, wenig Literatur?
So äußert er sich zur Radikalisierung der Außerparlamentarischen Opposition, weist auf die mangelnde Toleranz hin, die sich in der politischen Utopie Rudi Dutschkes verbirgt, kritisiert aber gleichermaßen die Große Koalition, ihren Kanzler, das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger, er warnt vor dem Erstarken der NPD; und stellt am Ende doch fest:
"Aber warum so viel über Politik und so wenig über Literatur?"
"Literatur interessiert ja zur Zeit nicht sehr. Sonderbar."
"Ja, das ist sonderbar – dieser Haß auf alle Literatur, der in letzter Zeit besonders bei manchen Literaten um sich greift."
Indem Grass, Böll und andere sich immer wieder, in mehr oder weniger kritischer Distanz, vermittelnd zwischen politisches Establishment und Studentenbewegung stellen, geraten sie selbst in die Schusslinie. Doch erst der Fall der Mauer entzieht Grass und den Übrigen endgültig die Geschäftsgrundlage.
Dekomposition eines Rollenmodells
Während Grass noch mahnt, nach Auschwitz verbiete sich ein deutscher Einheitsstaat, und während Christa Wolf noch an die Ostdeutschen appelliert, die Chance auf einen neuen, diesmal tatsächlich demokratischen Sozialismus nicht aus der Hand zu geben, hat die Geschichte längst eine gänzlich andere Dynamik angenommen. Nicht ohne Häme hält Rudolf Augstein Grass nun vor:
"Sie sind der Mann gewesen, der als erster großer deutscher Literat in die Politik eingestiegen ist. Was haben Sie uns geraten? Realismus."
"Aber das schließt doch den moralischen Maßstab nicht aus!"
"Nein, habe ich ihn ausgeschlossen? Nur, was Sie jetzt machen, ist etwas anderes. Der Zug ist abgefahren, Sie sitzen nicht mit drin. Und Sie haben nicht gemerkt, daß es Dinge gibt, die man philosophisch eben nicht lösen kann, die sozusagen das einfache Volk löst."
Am Ende traf der deutsch-deutsche Literaturstreit nicht nur Christa Wolf und die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der ehemaligen DDR. Er unterminierte auch jene Instanz des engagierten Autors, die Günter Grass über Jahrzehnte wie kein anderer verkörperte. Am vorliegenden Gesprächsband lässt sich auf eindrückliche Weise sowohl Genese als auch Dekomposition dieses Rollenmodells verfolgen. Ein spannendes Stück Literaturgeschichte.
Günter Grass: "Gespräche 1958-2015"
Ausgewählt und mit einem Nachwort von Timm Niklas Pietsch
Steidl Verlag, Göttingen. 895 Seiten, 38 Euro.