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Günter Grass im Visier der Stasi

Er wurde fast 30 Jahre von der Stasi als Staatsfeind bekämpft: der Schriftsteller Günter Grass. "Das Beeindruckendste für mich war der ungeheuere Aufwand, den sie getrieben haben, um eine einzige Person zu überwachen", sagt der Autor Kai Schlüter, Verfasser des Buches "Günter Grass im Visier - Die Stasi-Akte".

Kai Schlüter im Gespräch mit Dirk Müller | 18.03.2010
    Dirk Müller: Wir berichten also ausführlich in den kommenden Tagen in unseren Sendungen hier im Deutschlandfunk über die Leipziger Buchmesse. Bei uns in den "Informationen am Morgen" jetzt der Auftakt.

    O-Ton Günter Grass: "Keines meiner Bücher, das ich geschrieben habe, hätte ich in diesem Staat veröffentlichen können, und so geht es meinen Kollegen auch. Was fehlt diesem Staat nach meiner Meinung? Ein Lyriker wie Enzensberger dürfte hier gar nicht den Mund aufmachen. Lassen Sie Taten sehen, geben Sie den Schriftstellern die Freiheit des Wortes, geben Sie einem Enzensberger in Ihrem Land die Freiheit, die er noch in Westdeutschland hat, obgleich diese Freiheit des Wortes gefährdet ist. Hier ist sie aber gar nicht vorhanden."

    Müller: Eine offene, unverhohlene Kritik von Günter Grass am System der DDR, wenige Monate vor dem Mauerbau, formuliert und vorgetragen auf dem DDR-Schriftstellerkongress im Frühjahr 1961 in Ostberlin.

    Ab diesem Jahr ging es dann los, die Spitzelgeschichte der Stasi und Günter Grass, ein Staatsfeind aus dem Westen, ein antisozialistischer Reaktionär, angefallen, wie es offiziell heißt, wegen Provokation. So die Lesart und die Motivation der Mielke-Behörde, den deutschen Autor der "Blechtrommel" genauer auf den Zahn zu fühlen, ihn zu beobachten, auf Schritt und Tritt zu verfolgen, wenn der Staatsfeind nun die Grenze Richtung Ostdeutschland übertrat. Das Ganze ging bis 1989 so, bis kurz vor der Wende, als ein gewisser IM Schäfer als Führungsoffizier empfahl, die Bespitzelung von Günter Grass zu beenden.

    Darüber sprechen wollen wir nun mit dem Journalisten Kai Schlüter, Autor des Buches "Günter Grass im Visier - Die Stasi-Akte". Guten Morgen!

    Kai Schlüter: Guten Morgen.

    Müller: Herr Schlüter, wusste Günter Grass von Beginn an, dass ihm die Stasi im Nacken saß?

    Schlüter: Nein. Er wusste es nicht. Er hat es immer vermutet, aber er hat die Beschattungen, die bei seinen vielen, vielen DDR-Besuchen immer da waren, niemals bemerkt. Es war nur ein Misstrauen, was er hatte, weil er das einfach ahnte, aber er konnte es selbst nie nachweisen.

    Müller: Hat Günter Grass es dann fertiggebracht, innerhalb seiner Gesprächskreise auch stasifrei zu argumentieren?

    Schlüter: Ja. Es gab Mitte der 70er-Jahre deutsch-deutsche Schriftstellertreffen, Autorentreffen in wechselnden Privatwohnungen in Ostberlin bei Schriftstellerkollegen, und dorthin sind Schriftsteller aus Westberlin gekommen und aus Ostberlin und anderen Orten der DDR.

    Sie haben sich mündlich gegenseitig eingeladen und haben immer die Wohnungen gewechselt, sodass die Stasi die Wohnungen nicht verwanzen konnte. Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis die Stasi gemerkt hat, hoppla, da treffen sich welche, und dann wusste sie auch in Zukunft, wann die Treffen waren und wo sie waren. Aber es ist der Stasi nicht über einen Zeitraum von vier Jahren gelungen, dort einzudringen.

    Müller: Und anschließend?

    Schlüter: Anschließend schon. Viele Kontaktpersonen von Grass sind überwacht worden und Grass eben auch bei seinen Besuchen in der DDR, und alle seine offiziellen Gesprächspartner in der DDR waren Zuträger der Stasi. Der Präsident der Akademie der Künste, der Präsident des Schriftstellerverbandes - allerdings das war Hermann Kant, bevor er Schriftstellerpräsident wurde -, seine Verleger, sie alle haben für die Stasi gearbeitet.

    Müller: Ich habe das deshalb auch gefragt, weil: Es ging ja auch in Ihrem Buch um die Essenz der Bespitzelung. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann war die Erkenntnis der Stasi, Günter Grass hat eine feindlich negative Sicht auf die DDR und auf Moskau. War das wirklich alles?

    Schlüter: Ja, das war der Kernpunkt, denn Grass hat immer wieder vorgetragen, dass er Sozialdemokrat ist. Er hat das Wort Sozialismus im Munde geführt, wie die Herrschenden in der DDR auch, hat das aber verbunden mit Demokratie, demokratischer Sozialismus, und das wurde dann von der anderen Seite als Sozialdemokratismus kritisiert.

    Und er hat immer gesagt, es gibt eine unteilbare fortbestehende deutsche Kulturnation. Man könne einen Staat politisch teilen in Teilstaaten, aber die Geschichte der deutschen Sprache, die Sprache selbst, die Literatur, die Kultur sind unteilbar. Und diese These vom Fortbestand der deutschen Nation in Form einer Kulturnation und sozialdemokratisches Gedankengut, das war für die Abgrenzungspolitik der offiziellen DDR wirklich Gift, und deshalb haben sie ihn bekämpft, nicht nur als Gegner, sondern richtig als Staatsfeind.

    Müller: Wenn wir bei Günter Grass und auch der SPD einmal bleiben: Man hat, wenn man Ihr Buch liest, das Gefühl, für die DDR und für die Funktionäre dort, wie auch für die Stasi war die Sozialdemokratie der größte Feind.

    Schlüter: Ja, den Eindruck muss man wirklich haben. Zum Beispiel bei der Gruppe 47, der Grass ja angehörte, da vermutete die Stasi, die Gruppe 47 sei eine Tarnorganisation der SPD, und in einem Dokument bedauert die Stasi, dass sie nicht beweisen kann, dass die Gruppe 47 von westlichen Geheimdiensten gesteuert und bezahlt wird.

    Also die Stasi selbst war ja ein konspiratives Netzwerk mit am Ende 90.000 hauptamtlichen Mitarbeitern, und die dachten offenbar alle in solchen Netzwerken. Sie sahen Grass als eine Galionsfigur, als einen, der vorgeschickt war, und dahinter ein konspiratives Netzwerk, das eine große ideologische Zangenbewegung gegen die DDR führte, um den Staat ideologisch zu destabilisieren, und darum sahen sie in Grass diesen gefährlichen Feind.

    Müller: Hat sich diese Sichtweise in den 70er-, 80er-Jahren möglicherweise auch einmal geändert?

    Schlüter: Es gab da Schwankungen, es gab dann Mitte der 80er-Jahre eine leichte Tauwetterperiode in der Kulturpolitik, aber die Stasi hat weiter eine harte Linie verfochten, während die SED ein bisschen weicher wurde, ein gutes Verhältnis zur Bundesrepublik wollte, weil sie eben auch Darlehen, Kredite aus dem Westen brauchten.

    Es gab sicher innerhalb der SED, der Staatspartei, unterschiedliche Strömungen, während die Stasi weiterhin eine harte Linie verfocht und sagte sogar, das Einreiseverbot, was 1980 verhängt wurde, aufrechterhalten, Grass darf gar nicht mehr kommen.

    Müller: Wir reden ja, Herr Schlüter, bei Günter Grass und der Stasi über ein Kapitel, was fast 30 Jahre lang gedauert hat, also von 1961 bis 1989. Das sind 28 Jahre. Und wir haben eben die Frage besprochen, wusste er darüber Bescheid, dass er bespitzelt und verfolgt wurde. Hat er denn seine Haltung immer konsequent durchziehen können?

    Schlüter: Ja. Jedenfalls ist das der Befund aus den Akten. Grass hat geradlinig von 1961 an - wir haben das ja eben in dem historischen O-Ton gehört - seine Position durchgehalten. Er hat nicht gewackelt, nach rechts nicht und nach links nicht, hat seine Position durchgehalten und er hat die DDR immer kritisiert. Er hat dort die Einhaltung der Bürgerrechte eingefordert, Reisefreiheit, Niederlassungsfreiheit, Meinungsfreiheit und so weiter, und da hat er wirklich nicht gewackelt. Das muss man einfach anerkennen.

    Müller: Günter Grass war ja nicht nur von der Stasi bespitzelt worden; viele haben ja auch zumindest gemutmaßt, er könnte eine Gefahr sein für andere DDR-Oppositionelle oder Schriftstellerkollegen. An einer Stelle in Ihrem Buch sagt Günter Grass, "dass ich Schriftstellerkollegen in die Opposition getrieben hätte, das sind reine Erfindungen". Kann er da sicher sein?

    Schlüter: Also er hat es nicht provoziert. Er hat also nicht versucht, sich Leute rauszupicken, die ideologisch zu indoktrinieren und sie in den Westen zu locken. Das war ja die Unterstellung der Stasi.

    Aber ihm war schon klar, dass es für manche DDR-Kollegen gefährlich werden könnte, wenn sie ihn treffen, und er hat dann gesagt, das müssen die aber entscheiden, sie wissen, was passiert, sie müssen damit rechnen, dass sie und ich überwacht werden, die Entscheidung kann ich ihnen, den Kollegen und Kolleginnen aus der DDR, nicht abnehmen.

    Müller: 2200 Aktenseiten haben Sie gelesen und ausgewertet, um dieses Buch auch zusammenzustellen. Welche Seite war die spannendste?

    Schlüter: Oh, das ist schwer zu sagen. Wenn man dann plötzlich so ein Aktenblatt vor sich hat, wo eine handschriftliche Notiz drauf ist von Stasi-Minister Erich Mielke, dann läuft es mir jedenfalls dann schon kalt den Rücken runter. Das Beeindruckendste für mich war eigentlich der ungeheuere Aufwand über, wie Sie ja gesagt haben, fast 30 Jahre, dieser Aufwand, den die getrieben haben, um eine einzige Person, einen Schriftsteller zu überwachen. Das war schon gruselig, es war schrecklich und manchmal dann auch ein bisschen komisch.

    Müller: Sie hatten ja auch, Herr Schlüter, Gelegenheit, mit Günter Grass über Ihre Erkenntnisse zu sprechen, was ihn betrifft in seiner Zeit beziehungsweise bei seinen Reisen in der DDR. Haben Sie ihm noch etwas Überraschendes zu bieten?

    Schlüter: Grass selbst war überrascht, dass sein Verleger Hans Marquardt vom Verlag Reclam Leipzig - da ist ja 1984 "Das Treffen in Telgte" erschienen, die erste Grass-Veröffentlichung in der DDR -, dass der noch bis ins Rentenalter, bis 1989 alles, was er von Grass hörte, an die Stasi weitergetragen hat. Da war Grass überrascht und auch enttäuscht.

    Müller: Bei uns im Deutschlandfunk der Journalist Kai Schlüter, Autor des Buches "Günter Grass im Visier - Die Stasi-Akte".