Dienstag, 07. Mai 2024

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Guillain-Barré-Syndrom
Mediziner: Bislang kein Zusammenhang mit Corona-Impfung bewiesen

Der Coronavirus-Impfstoff von Johnson & Johnson steht laut US-Arzneimittelbehörde im Verdacht, das seltene Guillain-Barré-Syndrom auszulösen. Der Mediziner Peter Berlit warnt hingegen vor voreiligen Schlussfolgerungen. „Bislang haben wir keinen Antikörpernachweis, der uns das belegen würde“, sagte Berlit im Dlf.

Peter Berlit im Gespräch mit Arndt Reuning | 20.07.2021
Eine mit Schutzhandschuh bekleidete Hand hält ein Fläschchen mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson.
Ob Vektorimpfstoffe wie der von Johnson & Johnson tatsächlich das Guillain-Barré-Syndrom auslösen können, ist bislang noch unklar. (picture alliance/dpa | Federico Gambarini)
Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat ihren Warnhinweisen zum Corona-Impfstoff von Johnson & Johnson einen weiteren hinzugefügt: In sehr seltenen Fällen könne es zum Auftreten des Guillain-Barré-Syndroms (GBS) kommen, einer Art Nervenentzündung. Die Erkrankung trat üblicherweise rund zwei Wochen nach der Impfung auf und betraf vor allem ältere Männer – zumindest in den USA.

Guillain-Barré-Syndrom (GBS)

Bei dem Syndrom handele es sich um eine immunologisch bedingte Erkrankung des peripheren Nervensystems, erläuterte der Mediziner Peter Berlit im Deutschlandfunk. "Es kommt zur Bildung von Antikörpern gegen die Baubestandteile der Nervenmembranen, die dadurch geschädigt werden und deren Leitfähigkeit dadurch beeinträchtigt wird – und das wiederum führt zu Gefühlsstörungen und aufsteigenden Lähmungen", so Berlit. Die Lähmungen könnten im schlimmsten Fall soweit voranschreiten, dass auch die Atemmuskulatur mitbetroffen sei und eine künstliche Beatmung notwendig werden könne.

Bislang keine Belege für Zusammenhang

Berlit betonte, dass das Auftreten eines GBS nach einer Impfung nicht ausreiche, um eine kausale Verknüpfung zwischen beiden Ereignissen herzustellen. "Dass das theoretisch möglich ist, ist überhaupt keine Frage, aber bislang haben wir eben keinen Antikörpernachweis, der uns das belegen würde." Peter Berlit ist der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
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Das Interview im Wortlaut:
Arndt Reuning: Welches Krankheitsbild verbirgt sich denn hinter dem Guillain-Barré-Syndrom, oder kurz GBS?
Peter Berlit: Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine immunologisch bedingte Erkrankung des peripheren Nervensystems. Es kommt zur Bildung von Antikörpern gegen die Baubestandteile der Nervenmembranen, die dadurch geschädigt werden und deren Leitfähigkeit dadurch beeinträchtigt wird, und das wiederum führt zu Gefühlsstörungen und aufsteigenden Lähmungen, die im schlimmsten Fall so weit voranschreiten können, dass auch die Atemmuskulatur mitbetroffen ist und die Patienten beatmet werden müssen. Der typische Auslöser für ein solches GBS sind Infektionen, das heißt, dieses Krankheitsbild tritt mit einer zeitlichen Latenz von in der Regel drei bis vier Wochen nach einem durchgemachten Infekt auf. Diese Infekte können den Magen-Darm-Trakt betreffen, da sind es häufig Bakterien, vor allem Campylobacter jejuni, oder aber auch die oberen Luftwege, beispielsweise nach Infekten mit Haemophilus influenzae oder Zytomegalie-Viren.

Keine vorschnellen Schlüsse ziehen

Reuning: Das ist die Art und Weise, wie GBS üblicherweise ausgelöst wird. Mehrere US-Zeitungen haben aber nun berichtet, dass in den USA rund 100 GBS-Fälle aufgetreten seien im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung des Vakzins von Johnson & Johnson. Wie bewerten Sie denn diese Beobachtungen?
Berlit: Zunächst einmal muss man sagen, dass das Auftreten eines GBS in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung nicht gleichgesetzt werden darf mit einer kausalen Verknüpfung. Das heißt, man kann nicht daraus schlussfolgern, dass, auch wenn das natürlich sehr suggestiv ist, wenn zwei Wochen nach einer Impfung ein GBS auftritt, tatsächlich die Impfung dafür verantwortlich ist. Wir kennen diese Diskussion um die Auslösung von Guillain-Barré-Syndromen nach Impfungen schon lange, und es gibt auch tatsächlich Hinweise darauf, dass bei ganz bestimmten Erregern auch ein solcher Zusammenhang wahrscheinlich ist. Ob das auch bei der Covid-19-Impfung so ist, ist bislang, muss man ganz klar sagen, nicht geklärt.
Es gibt auch Beschreibungen eben nicht nur nach Johnson & Johnson, sondern auch nach den anderen Impfstoffen ist es beschrieben. Vor allem auch nach dem anderen Vektorimpfstoff von AstraZeneca gibt es Fallberichte sowohl aus England als auch aus Indien beispielsweise, aber wie gesagt, die kausale Verknüpfung, die ist nicht so einfach herzustellen. Um eine kausale Verknüpfung tatsächlich annehmen zu können, würden wir uns aus neurologisch-wissenschaftlicher Sicht wünschen, dass auch spezifische Antikörper nachweisbar sind, die sozusagen darauf hinweisen, dass dieser Zusammenhang besteht. Diese Antikörper, die man sonst bei den Guillain-Barré-Syndrom nach Infekten nachweisen kann, sind sogenannte Gangliosid-Antikörper. Je nachdem, welcher Erreger dem GBS zugrunde liegt – beispielsweise bei Campylobacter jejuni sind es GM1-Gangliosid-Antikörper, nach einer Zytomegalie-Infektion sind es GM2-Gangliosid-Antikörper, das heißt, da lässt sich tatsächlich ein Bezug herstellen. Einen solchen Bezug haben wir aber bislang bei vorausgehenden Impfungen nicht.
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Reuning: Wir haben gesehen, dass auch bei anderen Impfkomplikationen – ich denke da an die Sinusvenenthrombosen – offenbar auch Autoantikörper eine wichtige Rolle spielen. Liegt denn Ihrer Meinung nach zumindest ein ursächlicher Zusammenhang nahe?
Berlit: Bei den thrombotischen Ereignissen, die ja sehr, sehr selten sind, kann man das, denke ich, bejahen, weil es ist tatsächlich ein neuartiger Mechanismus, der im Zusammenhang mit den Vektorimpfstoffen erstbeschrieben ist und wo tatsächlich diese speziellen PF4-Antikörper in dieser Form nur in diesem Setting auch tatsächlich beobachtet wurden. Beim Guillain-Barré-Syndrom ist immer die Sache so ein bisschen – da muss man vielleicht jetzt auch noch mal einen anderen Aspekt betrachten. Das Guillain-Barré-Syndrom ist ja nicht wirklich so selten, also in Deutschland treten Guillain-Barré-Syndrome etwa 1,7-mal pro 100.000 Einwohner und Jahr auf. Das heißt, wenn man sich jetzt das umrechnet auf die Einwohnerzahlen in Deutschland, da sind wir so bei 83 Millionen, können wir jährlich mit einer Zahl von etwa 1.500 Guillain-Barré-Syndromen rechnen.
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Wenn man jetzt überlegt, dass ja zurzeit eine hohe Durchimpfung angestrebt wird – nehmen wir also mal an, 50 Prozent der Bevölkerung werden tatsächlich geimpft, das ist ja so die Zielgröße, die wir im Moment haben –, dann würde man rein statistisch in dieser Population etwa 380 bis 400 Guillain-Barré-Syndrome sehen können, auch ohne dass ein Zusammenhang besteht. Deswegen muss man einfach sehr, sehr vorsichtig sein mit der Annahme, dass das Ganze kausal verknüpft ist. Dass das theoretisch möglich ist, ist überhaupt keine Frage, aber bislang haben wir eben keinen Antikörpernachweis, der uns das belegen würde.

Zwei unterschiedliche Arten der Behandlung

Reuning: Welche Möglichkeiten gibt es denn, ein GBS zu behandeln?
Berlit: Das Guillain-Barré-Syndrom wird im Prinzip mit zwei Verfahren behandelt: entweder mit intravenösen Immunglobulinen, die als Infusion gegeben werden, und die gegeben werden unter der Vorstellung, dass die auslösenden Antikörper durch diese Infusionstherapie blockiert werden. Die Alternative ist eine bestimmte Form der Blutwäsche, entweder die Plasmapherese oder die Immunadsorption, wo die schädigenden Antikörper per Blutwäsche eliminiert werden aus dem Blut des betroffenen Patienten.
Reuning: Und sind die Symptome dadurch dann reversibel, oder bleiben eventuell Schäden zurück?
Berlit: Bei der Mehrzahl aller Patienten gelingt es dadurch, das Ganze vollständig auszuheilen. So etwa bei 10, 15 Prozent bleiben Symptome zurück, die dann der neurologischen Rehabilitationstherapie bedürfen und wo es tatsächlich einige Monate dauern kann, bis die Restsymptome abklingen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.