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Geist oder Leben
Guillermo Martínez: „Roderers Eröffnung“

Zwei hochintelligente junge Männer begegnen sich bei einem Schachduell in einem argentinischen Dorf. Während der eine das Leben als angehender Mathematiker meistert, verstrickt sich der andere in einem philosophischen Denksystem. Eine literarische Versuchsanordnung mit aktuellen Bezügen.

Von Bettina Baltschev | 22.12.2021
Der Schriftsteller Guillermo Martínez und das Cover zu seinem Buch "Roderers Eröffnung"
Guillermo Martínez: "Roderers Eröffnung" (Alejandra Lopez)
Er hat besonders schöne Hände, dieser Gustavo Roderer. Während eines ersten gemeinsamen Schachspiels in einem argentinischen Dorfkrug fallen sie dem Erzähler gleich ins Auge. Dabei sollte er sich besser auf die Spielzüge seines Gegners konzentrieren. Denn seine Annahme, den Neuankömmling leicht besiegen zu können, erweist sich als Trugschluss. Gustavo Roderer spielt eine komplexe Partie, der der Erzähler kaum gewachsen ist.
„Seine Züge wirken planlos, konfus, bisweilen besetzte er irgendein entlegenes Feld oder bewegte eine scheinbar unwichtige Figur, so dass ich meine Pläne bis zu einem gewissen Punkt weiterverfolgen konnte. Doch nach kurzer Zeit merkte ich unweigerlich, dass Roderers Position sich unterdessen durch irgendeinen seiner Züge leicht verändert hatte, beinah unmerklich, aber ausreichend, um meine Kalkulationen zu Nichte zu machen. Und traf dies im Grunde nicht auch auf unsere ganze spätere Beziehung zu? Dieses Duell, bei dem ich der einzige Kämpfende war und nichts als Fehlschläge landete.“

Von gewöhnlicher und genialer Intelligenz

Es sind zwei hochintelligente junge Männer, die sich in Guillermo Martínez‘ Roman „Roderers Eröffnung“ miteinander messen. Der namenlose Erzähler ist umgänglich, selbstsicher und im Gymnasium Jahrgangsbester. Dass er einmal Schriftsteller werden will, steht lange fest. Gustavo Roderer dagegen ist ein Einzelgänger, um seiner äußerlichen Schönheit willen zwar beliebt bei den Mädchen, aber kaum interessiert an seiner Umwelt. Statt dem Unterricht zu folgen liest er unentwegt Texte über Philosophie, Geschichte und Wissenschaft. Nur einmal, als der Biologielehrer über zwei Arten der Intelligenz doziert, wird seine Aufmerksamkeit geweckt. Denn der meint, man müsse unterscheiden zwischen der gewöhnlichen Intelligenz, die alles Wissen wahllos in sich aufsauge und der Intelligenz des Genies, die die vorgesehenen Bahnen verlasse und nicht selten in Wahnsinn oder Selbstmord ende.
Dass der Erzähler sich mit gewöhnlicher Intelligenz zufriedengeben muss, wird ihm klar, als er Gustavo Roderer einmal besucht. Mit seiner Mutter haust er in einer heruntergekommenen Villa voller Bücher. Zwischen denen entspinnt sich ein Gespräch über einen Roman mit faustischen Zügen, der beide offenbar sehr beeindruckt hat. Gustavo Roderer treibt vor allem um, dass der Protagonist, ein gewisser Lindström, sich vierundzwanzig Jahre Lebenszeit erkauft, um ein Kunstwerk zu vollenden. Seinem Besucher erklärt Roderer:
„‘Ein wirklich Auserwählter wäre niemals auf solch einen Handel eingegangen.‘ Er hob seine Stimme. ‚Und hätte der Teufel sich ihm gezeigt, wäre er in seinem wahren Gewande dem Feuer entstiegen und hätte ihm diese vierundzwanzig Jahre angeboten, dann hätte Lindström gesagt: Nein, nein, ich will sie nicht!‘“
Wie sehr Gustavo Roderer hier auch über sich selber spricht, erweist sich dem Erzähler erst nach und nach. Zunächst revidiert er seinen Plan, Philosophie zu studieren, weil Roderer ihn davon überzeugt, dass die Mathematik die sinnvollere Wahl sei. Man könne sich auf naturwissenschaftliche Fakten schließlich eher verlassen als auf philosophische Denksysteme. Ein überraschender Rat, denn Roderer bricht die Schule ab, um sich ausgerechnet der Formulierung solch eines allumfassenden Denksystems zu widmen. Der Erzähler geht derweil zum Studium nach Buenos Aires, wo der Gedanke an Roderer ihn nicht loslässt.
„In jedem freien Moment, wenn ich die Bücher zuklappte und ins Kino ging oder mit den anderen nach dem Essen noch lange im Speisesaal um den Tisch saß, befiel mich der unerträglich klare Gedanke, dass tausenddreihundert Kilometer entfernt Roderer über seinem Schreibtisch gebeugt war und während all der Minuten, in denen ich nichts tat, immer weiterdachte.“

Eine literarische Versuchsanordnung

Auf wenig mehr als einhundert Seiten behandelt Guillermo Martínez bedeutende Fragestellungen: Wie nähern wir uns der Wirklichkeit gedanklich an? Welchem Pfad sollen wir folgen, dem der Geistes- oder dem der Naturwissenschaften? Und kann man sie überhaupt voneinander trennen? In langen Dialogen diskutieren der Erzähler und Roderer miteinander und dessen titelgebende Eröffnung bezieht sich dabei nicht nur auf das Schachspiel, sondern auch auf das von ihm entwickelte universelle Theoriegebäude. Das alles ist sehr elegant formuliert, allerdings bleiben die Figuren etwas blutleer und verharren in den ihnen zugewiesenen Funktionen als intellektuelle Gegenspieler. Die menschliche Tragik Gustavo Roderers, der mit seinem Genie an der Wirklichkeit scheitert, wird nur angedeutet. So, wenn er dem Erzähler in einem Brief erklärt, womit er hadert.
„Was noch vor mir liegt, das letzte Problem, ist vielleicht das schwierigste: dem alten menschlichen Verstand diese neue Wissenschaft beizubringen. Bist du dir im Klaren über die teuflische Schwierigkeit, die darin liegt? Es ist nicht dasselbe, gesund zu sein und einen Kranken heilen zu können. Wie soll man dem Verstand begreifbar machen, was er niemals begreifen können wird? Wie kann es mir gelingen, mich verständlich zu machen? Bis dahin werde ich schutzlos sein. Wünsche mir Glück; ich trage eine Fackel des bestgehüteten Feuers und ich begebe mich damit in Regionen, die dem menschlichen Denken stets verschlossen waren.“
Mit seiner literarischen Versuchsanordnung trifft Guillermo Martínez‘ Debütroman aus dem Jahr 1992 gerade in Zeiten von vermeintlich alternativen Fakten einen Nerv. Auch wenn es der Autor bei einer knappen und nüchternen Skizze belässt, verfehlt sie ihre Wirkung nicht. Denn sie erinnert seine Leser schmerzlich an die Begrenztheit des menschlichen, des eigenen Vorstellungsvermögens. Am Ende, Gustavo Roderer ist mittlerweile sterbenskrank, bittet er den Erzähler, er möge seine Erkenntnisse für ihn niederschreiben. Doch der lehnt ab. Seine Mutter wartet mit dem Abendessen. Das Genie wird vom Leben Schachmatt gesetzt. 
Guillermo Martínez: „Roderers Eröffnung“
Aus dem argentinischen Spanisch von Angelica Ammar
Eichborn Verlag, Köln. 111 Seiten, 14 Euro.