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Gulag
Eindrückliches Tagebuch eines Lageraufsehers

"Sibirien, Sibirien" ist das Tagebuch des ehemaligen Lagerkommandanten Iwán Cistjakov aus den Jahren 1935/36 - also kurz vor der Hochphase der Stalin'schen Massen-Repressionen. Der Zufallsfund erlaubt tiefe Einblicke in das Gulag-System.

Von Robert Baag | 02.02.2015
    Das Tagebuch des Ivan Cistjakov hat mit der traditionellen Lager-Literatur über die Zeiten des Hoch-Stalinismus in der Tradition von Aleksandr Solzhenitsyns "Archipelag GULAG" eigentlich nur die Unwirtlichkeit der Orte sowie das dort versammelte Personal gemein.
    Cistjakovs Eintragungen setzen schon ein in der ersten Hälfte der 30er-Jahre in der UdSSR und somit einige Zeit vor dem "Hexensabbat", wie später der österreichische Gulag-Häftling Alexander Weissberg-Cybulski die Stalin'schen Massen-Repressionen zwischen 1936 und 1940 bezeichnen wird. Vor allem jedoch: Cistjakov ist kein Häftling. Er gehört zur Kaste der Lageraufseher:
    "Von den Tätern der Stalin'schen Verbrechen, hochrangigen Beamten des NKVD, den Organisatoren der Repressionen, von Untersuchungsrichtern, Lager-Kommandanten, Lagerpersonal gibt es kaum schriftliche Aufzeichnungen", hebt die Herausgeberin Irina Scherbakowa den zeitgeschichtlichen Wert dieses ursprünglich aus zwei Heften bestehen Zufallfundes hervor.
    Entfernte Verwandte von Ivan Petrovitsch Cistjakov, eines Zugführers einer NKVD-Lager-Wachmannschaft, haben sie in einem Nachlass entdeckt und dann der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial" überlassen, wo die Historikerin Scherbakowa seit Langem als Stalinismus-Expertin aktiv ist. Ein Glücksfall seien diese Aufzeichnungen, freut sie sich. Denn: Die Angehörigen des Repressionsapparates seien sich aus eigener Berufserfahrung immer bewusst gewesen:
    "Es ist gefährlich für sie, Tagebuch zu führen, (...)bei jeder Verhaftung wurden die Wohnungen durchsucht und Dokumente beschlagnahmt. Nicht nur Memoiren oder Tagebücher(...), sogar einfache Einträge im Kalender konnten während der Untersuchung zu einem schwerwiegenden Indiz werden; man verbrannte Briefe und vernichtete Tagebücher."
    Nach Recherchen von "Memorial" ist Cistjakov 1937 tatsächlich auf der anderen Seite des Stacheldrahtes gelandet. Aus dem sogenannten "VOchr"-Offizier - das Kürzel steht für "Vooruzhonnaja Ochrana" / "Bewaffnete Lager-Schutzmannschaft" - wird nun selbst ein Gulag-Häftling. Sein Tagebuch allerdings bleibt unentdeckt. Weshalb er verurteilt wird, ist unklar. Ein politischer Hintergrund scheint zu fehlen, denn seine Haft dauerte nur kurz: Schon 1941, gleich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, fällt der knapp 40-Jährige als Rotarmist bei den Kämpfen nahe der westrussischen Stadt Tula. - In den 30er-Jahren wurde Cistjakov zu den Truppen des NKVD, des Innenministeriums, eingezogen. Er verkörpert keineswegs den Stereotyp des tumben Menschenschinders in Uniform. Ebenso wenig ist er ein fanatischer Kommunist. Doch ein Gegner Stalins ist er natürlich auch nicht. - Wohl eher widerwillig, so Scherbakowa, arbeitet er im BAMLag, einem riesigen Lagerkomplex, der sich zwischen den sibirischen Städten Tschita und Ussurijsk über 2000 Kilometer hinzieht. Zehntausende Arbeitssklaven des NKVD bauen hier an der Baikal-Amur-Eisenbahn-Magistrale, beaufsichtigt von Männern wie Cistjakov:
    "Er ist kein Tschekist, er ist ein Fremder, er ist unfreiwillig hier, hin und wieder erwacht seine Reflexionsfähigkeit. Er erinnert sich."
    "Wie vielen Leuten habe ich die Frist verlängert. Du bemühst dich, ruhig zu sein, aber manchmal verlierst du die Nerven. Und dann gibst du jemandem Arrest."
    Und an einem Tag notiert er missmutig:
    "Uns bringt die Nacht Unruhe, Ausbrüche, Morde."
    Dann eine kurze Gedichtzeile, ein Erinnerungssplitter vielleicht aus langvergangener Schulzeit:
    "Herbstnacht, rette mich, sei Schutz dem Gefangenen, Teure. Auch heute sind zwei geflohen. Verhör, Verfolgung, Berichte, Stab, 3. politische Abteilung; statt Erholung bringt die Nacht Aufregung und Albtraum."
    Er schwärmt von der grandiosen Natur in Sibirisch-Fernost, von seinen Jagdausflügen. Meist allein durchstreift er die Wälder in der Lagerumgebung. Doch das sind lediglich Momentaufnahmen aus seiner spärlichen Freizeit. Bald überwiegen die negativen Eindrücke. Für den Hauptstädter, den Moskauer Cistjakov, im Zivilleben wahrscheinlich Techniker oder Ingenieur, sind die Methoden inakzeptabel, mit denen der Eisenbahn-Bau vorangetrieben wird:
    "Diese Kombination aus Chaos, absoluter Gleichgültigkeit und Erbarmungslosigkeit gegenüber den Menschen, denen man auch das Notwendigste verweigert. (...) Vielleicht ist sein Tagebuch gerade deshalb eines der glaubwürdigsten Zeugnisse für die Untauglichkeit des Stalin'schen Zwangsarbeitersystems. Einmalig daran ist, dass der Autor die Vorgänge Tag für Tag und aus dem Inneren des Systems heraus beschreibt."
    Eines von vielen Beispielen, die Cistjakov erwähnt: Trotz klirrendem Frost von gut minus 50 Grad Celsius gibt es im ganzen Lager kein Brennholz. Und deshalb:
    "Sie verbrennen die Bahn-Schwellen, bringen ganze Fuhren davon. Hier ein paar, da ein paar, aber im Ganzen gesehen verheizen sie Tausende, verheizen so viele. Es ist schrecklich daran zu denken. Die Leitung will oder kann nicht darüber nachdenken, dass man Brennholz braucht, dass die Schwellen was kosten und viel teurer kommen. Sicher geht es allen wie mir, sie haben keine Lust an der BAM zu dienen. Deshalb achten sie auch auf nichts. Die hohen Dienstgrade, die Parteimitglieder, die alten Tschekisten machen und arbeiten aufs Geratewohl, sie winken ab. (...) Die ganze Disziplin beruht auf dem Revolutionstribunal, auf der Angst."
    Passagen wie diese seien all jenen empfohlen, die heute schon wieder von den angeblich "herausragenden Manager-Qualitäten Stalins" schwadronieren. Cistjakovs Tagebuch macht aus einer bislang ungewöhnlichen Perspektive deutlich: Die Lager waren eben in erster Linie Institutionen der Repression. Fundamente eines Unterdrückungssystems, das zugleich auch die Täter verformt hat - und am Ende dann weite Teile der sowjetischen Gesellschaft. Das sarkastische Fazit des jungen Historikers Vadim Solotarjov aus dem ukrainischen Charkiv bringt es auf den Punkt:
    "Wie sagte ein geflügeltes Wort zu jener Zeit? - Die eine Hälfte des Landes sitzt hinter Stacheldraht. Die andere Hälfte bewacht sie."
    Die dadurch bedingte Konditionierung wirkt weiter. Sie spukt immer noch im Unterbewusstsein vieler Menschen in Russland - inzwischen schon in der vierten Generation seit jener Zeit. Cistjakovs Tagebuch hilft, diese Mentalitäten aufzuspüren und sie nachzuzeichnen, um sie später vielleicht einmal zu überwinden. Bislang nämlich ist in Russland eine adäquate, ehrliche, vor allem staatlich erwünschte Aufarbeitung des gesamten Stalin-Komplexes nicht auszumachen. Ganz im Gegenteil. Das jetzt der Öffentlichkeit zugängliche, von Regine Kühn präzise und im Ton der Zeit ins Deutsche übersetzte Tagebuch des Ivan Cistjakov samt dem sachkundigen, ausführlichen Anhang bietet faszinierenden Lesestoff zum Alltag wie zur Denkweise des Gulag-Wachpersonals. Es füllt eine bislang tiefe Lücke in der langen Reihe der Gulag-Literatur und ergänzt sie mit neuen Einsichten.
    Ivan Cistjakov: "Sibirien, Sibirien. Tagebuch eines Lageraufsehers." Matthes & Seitz, herausgegeben von Irina Scherbakova, aus dem Russischen von Regine Kühn, 288 Seiten, 24,90 Euro, ISBN: 978-3-88221-092-7.