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Häufung von Fällen
Frankreich forscht nach Ursachen für Fehlbildungen bei Kindern

In einer kleinen Region Frankreichs häufen sich Fehlbildungen bei Kindern. Woran das liegt, ist unklar - es könnte auch ein statistischer Zufall sein. Erste Analysen deuten darauf hin, dass es höchstens ein regionales Problem sein dürfte. Vergleichsstudien sollen jetzt Klarheit bringen.

Von Volkart Wildermuth | 30.11.2018
    Ultraschallaufnahme eines fünf Monate alten Fötus
    In einer kleinen Region Frankreichs kamen besonders viele Kinder mit Fehlbildungen zur Welt (picture-alliance / dpa / Chad Ehlers)
    25 Kinder in einer relativ kleinen Region an der Atlantikküste Frankreichs sind zwischen 2000 und 2014 mit einem verkürzten Arm geboren worden. Ohne Hand, ohne Unterarm oder ganz ohne Arm. Aber ist das tatsächlich eine ungewöhnliche Häufung von Fehlbildungen? Anruf am Universitätsklinikum Mainz, bei Awi Wiesel.
    "Hier spricht Awi Wiesel, Geburtenregister Mainzer Modell."
    Rheinhessen ist eine von nur zwei Regionen in Deutschland, in denen Fehlbildungen systematisch erfasst werden. Hier beobachten die Ärzte jedes Jahr in Durchschnitt zwei Kinder, die mit einem verkürzten Arm geboren werden. Allerdings schwanken die Zahlen stark.
    "Das kann auch sehr schnell so aussehen, dass mal ein Jahr keins geboren wird und im darauffolgenden Jahr sechs, sieben."
    Viele verschiedene Ursachen
    Fehlbildungen generell, und auch konkret verkürzte Arme treten also immer wieder auf. Als ich nach den Ursachen frage, zählt Awi Wiesel gleich eine ganze Liste auf: Gendefekte, Infektionen, bestimmte Giftstoffe und Arzneimittel, sogar mechanische Einwirkungen. Gelegentlich bilden sich nämlich in der Fruchtblase Bänder, die die kleinen Gliedmaßen abschnüren können.
    "Es verbleiben immer noch 50 Prozent, wo die Ursachen letztendlich nicht bekannt sind. Dann muss man letztendlich sagen: das passiert letztendlich. Wir wissen nicht genau warum."
    Früher hätte man vielleicht gesagt: Schicksal. Doch damit will sich heute kaum jemand zufrieden geben. Deshalb hat sich, als die Fälle aus Frankreich bekannt wurden, auch das europäische Netzwerk zu Fehlbildungen EUROCAT die Berichte zu Gliedmaßen noch einmal gezielt angesehen. In einer E-Mail heißt es:
    "Wir konnten keine zeitlichen Häufungen von Reduktionsdefekten der oberen Extremitäten in der Zeit von 2001 bis 2015 beobachten."
    Kein europaweiter Trend also. Damit ist klar: Ursache ist wohl kein überall verwendetes Pestizid oder ein breit verschriebenes Medikament, wie bei der Contergan Katastrophe in den 1950igern. Wenn es tatsächlich ein Problem gibt, dann wohl nur kleinräumig an der französischen Atlantikküste.
    "Und von den Fällen, von der Zahl betrachtet her, kann man selbst anhand der französisch genannten Vergleichszahlen nicht sagen, dass es uns besonders erschrecken würde. Wir würden daraufhin jetzt noch nicht in Panik verfallen Ich denke, die Kollegen dort auch nicht."
    Naheliegende Gründe für Häufungen
    Awi Wiesel will das Leid der Eltern und Kinder nicht kleinreden. Er weist nur darauf hin, dass eine Häufung in einem Gebiet nicht unbedingt auf Problemen zum Beispiel mit Pestiziden hindeuten muss. Das kann man auch in Sachsen-Anhalt sehen. Hier arbeitet das zweite deutsche Fehlbildungsmonitoring. 2016 wiesen in Magdeburg rund sieben Prozent der Geburten schwere Fehlbildungen auf, in Wittenberg nur etwa ein Prozent. Ein dramatischer Unterschied. Die wahrscheinlichste Erklärung lautet aber: Wenn sich bei einem Fetus Probleme abzeichnen, geht die Mutter zur Entbindung eher in ein spezialisiertes Krankenhaus und das findet sich eben in der Großstadt und nicht auf dem Land.
    Um herauszufinden, was am Atlantik vor sich geht, werden die Behörden in Frankreich in einem ersten Schritt die Fälle in den Departments Ain, Morbihan und Loire-Atlantique mit ähnlichen Regionen vergleichen. Das ist bis Januar 2019 zu schaffen. Vorher bleibt alles Gerede über Pestizide reine Spekulation. Erst wenn klar ist, hier passiert tatsächlich etwas Ungewöhnliches, beginnt die Suche nach den Ursachen. Die wird dann deutlich aufwändiger, meint Avi Wiesel. Gliedmaßen werden im ersten Drittel der Schwangerschaft angelegt.
    "Und dann befragt man die Umgebung und die Eltern: was ist in dieser Zeit passiert, haben sie besondere Dinge gegessen, Sport gemacht, sind sie geflogen, haben sie sozusagen mit bestimmten Materialien gearbeitet? Das ist natürlich umso schwerer, umso weiter ist in der Vergangenheit liegt. Aber man muss versuchen, den gemeinsamen Faktor letztendlich zu finden, falls wirklich eine solche Häufung sich zeigt."
    Schnelle Antworten können wir in jedem Fall nicht erwarten lautet die Prognose des Experten. Contergan hat zu tausenden von Missbildungen geführt, da gelang es nach einiger Zeit, die Ursache zu finden. Bei 25 Fällen sind solche Analysen viel schwerer, auch wenn der Wunsch nach eindeutigen Aussagen nur allzu verständlich ist.