Heuer: Wann haben Sie selbst die Wehrmachtsausstellung zuerst gesehen?
Hahn: Ich habe die Wehrmachtsausstellung gesehen als sie hier gestartet ist, 1995. Im Unterschiede, Ihr Korrespondent hat es ja vorhin schon gesagt, war da der Schwerpunkt sehr viel mehr auf den Fotos. Und Sie haben meinen Roman angesprochen, damals schoss mir schon die Idee durch den Kopf, was wäre wenn, was wäre wenn ich hier als Tochter glaubte, meinen Vater auf einen dieser Fotos erkennen zu können? Ich habe den Gedanken dann zurückgestellt, weil ich an dem anderen Roman, "Dem verborgenen Wort", arbeitete und merkte aber dann, als ich dieses Buch abgeschlossen hatte, "Das verborgene Wort", dass mich diese Frage nicht losließ. Ich musste noch einmal wirklich zurück auf diese Frage, was wäre, wenn eine Tochter ihren Vater da erkennen würde? Und habe dann dieses Buch angefangen zu schreiben, bezeichnenderweise zunächst aus der Perspektive der Tochter. Hatte mein Urteil fertig, der Vater war schuldig gesprochen von vornherein und während ich dann schrieb merkte ich, dass ich damit nicht weiterkam, weil ich den Vater in dieser Situation eigentlich gar nicht verstand.
Heuer: Frau Hahn, diese Frage, - was wäre wenn -, ist das der Grund, weshalb die Wehrmachtsausstellung so viele Besucher angezogen hat?
Hahn: Ja, das kann schon sein und ich glaube auch und das merke ich ja auch bei meinen Lesungen, dass in sehr vielen Familien dieses Gesprächsbedürfnis der nachfolgenden, der Töchter- und Söhne-Generation mit ihren Vätern bestanden hat, dass die Väter ausgewichen sind. Dass aber auch meine Generation entweder ausgewichen ist in das gleiche Schweigen wie die Väter oder dass zu rechthaberisch von Anfang an gefragt worden ist, sodass gar keine Chance mehr blieb zu einem echten Gespräch. Ich denke, meine Generation hat auch erst einmal älter werden müssen, sie hat sich auch am Leben so etwas, wie man sagt, die Hörner abstoßen müssen, um mehr Verständnis zu haben für die Vätergeneration. Nicht für die Verbrecher in der Generation, dafür kann man kein Verständnis haben, aber für einen Menschen, wie meinen Mussbach, den ich da in dem Buch habe, der mit 18 an die Ostfront geschickt worden ist. So ist es ja sehr vielen ergangen, die einfach keine andere Wahl hatten als in diesen verbrecherischen Krieg zu stolpern. Sind das wirklich Täter? Ich bin da sehr vorsichtig geworden mit diesem Begriff. Und das ist eigentlich etwas, was ich mit meinem Buch erreichen wollte, auf jeden Fall die Erinnerung wach halten an Verbrechen, aber sich auch immer wieder die Frage zu stellen, und ich habe da ja immer wieder Parallelen auch in die Gegenwart, was hätte ich denn getan, ich, Achtzehnjährige an dieser Front?
Heuer: Ab wann ist eigentlich einer ein Täter?
Hahn: Passen Sie auf, ich habe in meinem Roman eine kleine Szene entwickelt, da schießt der Vater nicht auf einen Russen der da vorbeikommt. Im nächsten Moment reißt der Russe das Gewehr hoch und erschießt einen Kameraden. Es ist jetzt nicht in der Schlacht sondern es ist auch Kriegszustand. Ab wann ist einer ein Täter? Wissen Sie, das Buch ist mir auch unter der Hand zu einem ganz vehementen Antikriegsbuch geworden, Krieg an sich ist schon ein solcher Irrsinn. Machen Sie sich das klar, eine Regierung sagt, jetzt ist Krieg. Dann ist das, was im zivilen Leben die höchste Kriminalität ist, nämlich Mord, auf einmal einen Orden wert. Das ist doch der Irrsinn, da fängt der Irrsinn schon an und da kann jede Haager Kriegsordnung und so weiter und so fort, das fällt dann im Grunde genommen auch schon unter den Begriff des Wahnsinns. Wenn dieser Wahnsinn erst mal losgebrochen ist. Nein, und trotzdem gibt es, Sie haben gefragt, wann ist jemand ein Täter? Wenn er auf Zivilisten schießt, wenn er auf Menschen schießt, die als Opfer auserkoren werden von vornherein. Sicher, da würde ich auch eine klare Grenze ziehen zu dem einfachen Soldaten.
Heuer: Sie haben auch in der Reaktion auf Ihren Roman viele Geschichten erzählt bekommen. Was passiert, wenn dieses "was wäre wenn" eintritt, wenn also jemand auf einem solchen Foto zum Beispiel in der Wehrmachtsausstellung tatsächlich seinen eigenen Vater oder Großvater erkennt?
Hahn: Ich habe von einer Psychologin einen sehr aufschlussreichen Brief bekommen und die hat mir geschrieben, sie habe zeitweilig beim Lesen den Eindruck gehabt, als habe ich in ihrer Praxis gesessen in den letzten Jahren und zugehört. Sehr viele Menschen verspüren jetzt das Bedürfnis, jetzt im hohen Alter, wo man eigentlich glaubt, es müsste doch vorbei sein, das Bedürfnis zu reden. Sie stoßen im Familienkreis oft auch auf Ablehnung, man möchte das auch gar nicht hören. Und ich habe sogar gehört, die Dame schrieb mir sogar, wenn Menschen damit in den Beichtstuhl gehen und das endlich einmal gestehen wollen, dass das zu viel ist, und dass die Absolution schon erfolgt bevor die Geschichte überhaupt erzählt worden ist.
Heuer: Das betrifft jetzt die Elterngeneration oder Großelterngeneration. Welche Chance haben denn diejenigen Nachkommen, die mit ihren Vätern oder Großvätern nicht sprechen können, denn es handelt sich ja um Zeitzeugen, die uns allmählich wegsterben?
Hahn: Ich denke und das wäre meine Haltung, mit großem Verständnis diese Generation noch zum Sprechen zu bringen, das Miteinanderreden und ich glaube ja an die Kraft des Wortes, ein Kritiker hat einmal geschrieben ich sei eine Theologin des Wortes, das mag sein, ich glaube wirklich, wenn Menschen verständnisvoll miteinander reden, sich öffnen in der Rede, ist das das Schönste und Beste, was Menschen einander mitteilen können. Und so sollten diese beiden Generationen auch miteinander umgehen und die Wehrmachtsausstellung ist zwar jetzt zu Ende, aber das Gespräch ist sicherlich nicht zu Ende und das beweißt ja auch, dass meine Generation jetzt in größerem Umfang beginnt, sich damit jetzt noch einmal zu beschäftigen. Es hat ja in den siebziger Jahren schon einmal eine solche Welle, will ich einmal sagen, gegeben, sich damit zu beschäftigen. Das war aber mehr aus dieser Position der pauschalen Aburteilung dieser Generation, der Elterngeneration und das bricht jetzt auf und das ist gut.
Heuer: Wir reden vielleicht über eines der letzten Tabus in einer ansonsten recht tabulosen Gesellschaft. Haben die Deutschen, Frau Hahn, zu lange gefragt, auch öffentlich, "was habt ihr gewusst?" und nicht "was hast du getan"?
Hahn: Ja, die beiden Fragen gehen zusammen obwohl ich sehe da nicht den großen Unterschied in den beiden Fragen, das müssten Sie mir jetzt doch mal deutlicher machen.
Heuer: Ist zu wenig persönlich gesprochen worden über Einzelfälle und zu sehr über das Allgemeine?
Hahn: Das ist sicher wahr. In dieses Allgemeine haben sich beide Generationen geflüchtet. Das ist entlastend und wissen Sie, es ist ja auch in der individuellen Psychologie so, wenn etwas noch zu nah ist, dann flüchtet man sich gerne in Allgemeinheiten, wenn der zeitliche Abstand und damit auch die innere Sicherheit oder Abgeklärtheit zumindest schon einmal geleistet worden ist, kann man sich auch diesen bedrohlichen Dingen aus der Vergangenheit wieder zuwenden. Ich glaube, es musste auch zunächst einmal soviel Zeit vergehen um offener über diese Dinge zu sprechen. Ich denke, die fürchterlichsten Dinge, die damals geschehen sind, die noch einmal abzuverlangen, das können die wenigsten. Das können ja auch die wenigsten der Opfer und das ist eine ganz große Gabe auch von diesen Opfern. Ich bin diesen Menschen sehr, sehr dankbar wenn sie darüber reden, für meine Generation. Und das ist wahrscheinlich aus der Opferperspektive immer noch leichter als zu sagen, ich habe wirklich auf wehrlose Menschen geschossen, ich habe diese Schuld auf mich geladen. Das zu tun ist eine ganz schwierige Sache, aber es wäre für diesen Menschen und auch für die nachfolgende Generation, für die Tochter oder den Sohn, der das hört, ein unglaubliches Geschenk. Und so habe ich mein Buch ja auch angelegt. Eigentlich wollten beide ja gar nicht wirklich. Die Tochter will zuerst wissen, dann will sie wieder nicht wissen, weil ihr alles zu viel wird, dann will der Vater aber weitererzählen bis er sich wirklich zu dem Bekenntnis durchringt, ja, ich habe geschossen, obwohl die Tochter ihn dann wieder entlasten will. Das ist ein ganz schwieriger Prozess, aber ich glaube, das ist etwas, was die Deutschen auch noch leisten müssen, stärker noch sich zu dieser Schuld zu bekennen. Ich glaube, sich der Opfer angenommen haben sie, da sind wir, glaube ich auch, können wir auch so etwas sein wie ein Vorbild und da möchte ich auch noch eine kleine Anmerkung machen zu dem Vortrag von Kertesz, das mit dem Judenhass hat er nicht nur für Deutschland gemeint, das war für ihn eine Gefahr, die er für ganz Europa gesehen hat. In der Kritik an Israel, dass die leicht wieder umschlagen kann wieder in ein Ressentiment gegenüber Juden überhaupt, das scheint mir doch sehr wichtig zu sein.
Heuer: Frau Hahn, vielleicht zum Schluss, wie kann man den die Scham überwinden, die ja existiert bei denjenigen, die betroffen sind, die Scham überwinden, um dann eben auch eine breite gesellschaftliche Debatte über diese Einzelfälle zu führen? Und eben nicht nur anhand von Fotos zu führen, die man sieht und dann mit dem Geheimnis, jemanden erkannt zu haben, nach Haus zu gehen.
Hahn: Ich denke, eine Schuld ist ja etwas Individuelles und das muss persönlich auch angesprochen werden, das muss persönlich getragen werden. Sie können niemanden dazu, in Anführungszeichen, zwingen, sich zu dieser Schuld zu bekennen. Sie können es ihm als Person leicht machen, wenn sie versuchen, in einem Gespräch Verständnis zu entwickeln für das, was er getan hat. Wobei Verständnis nicht meint, dass sie das im gleichen Atemzug entschulden. Der Mensch, der diese Schuld auf sich geladen hat, muss selbst dazu stehen. Aber wenn Sie ihn von vorneherein aburteilen, schon in der Frage, wird er auch nicht von sich aus sprechen. Ich glaube auch, dass es sehr wichtig ist, sich mit dieser Zeit immer wieder zu beschäftigen, aber wir dürfen auch, auch die nachfolgende Generation, diesen Fokus nicht zu einseitig auf diese Zeit haben, wir dürfen da nichts vergessen, nichts verdrängen, aber wir haben auch genug Probleme in der Gegenwart.
Heuer: Ja, das ist sicher richtig. Ulla Hahn, die Schriftstellerin und Lyrikerin war das im Gespräch hier im Deutschlandfunk. Danke, Frau Hahn, herzlichen Dank und einen guten Tag nach Hamburg.
Hahn: Danke Ihnen und auf Wiederhören.